»Immer habe ich den Regen geliebt - solange ich nicht nass wurde. Die Welt ist friedlicher, wenn es regnet, still sitze ich am Fenster und höre zu, wie der Wolkenbruch das Laub der Linde, die Postkästen und die leeren Flaschen hinter dem Bistrot zum Klingen bringt. So flüssig schriebe ich gern. Die ganze rue Delambre ist bis zur letzten Laterne auf eine glänzende Weise ausformuliert, und ich blicke durch die Tropfen auf der Fensterscheibe wie durch winzige, schnell zerlaufende Prismen auf mein Leben.«
Ralf Rothmanns Notizen aus fünfzig Jahren: So persönliche wie lyrische, so grimmige wie humorvolle Momentaufnahmen aus den Erinnerungen eines Autors, von dem wir viele wunderbare Romane und Erzählungen kennen und der uns hier mit wenigen Worten vor Augen führt, was versöhnen könnte mit den Zumutungen der Mitwelt und der viel zu rasch vergehenden Zeit: Eine poetische Existenz.
Ralf Rothmanns Notizen aus fünfzig Jahren: So persönliche wie lyrische, so grimmige wie humorvolle Momentaufnahmen aus den Erinnerungen eines Autors, von dem wir viele wunderbare Romane und Erzählungen kennen und der uns hier mit wenigen Worten vor Augen führt, was versöhnen könnte mit den Zumutungen der Mitwelt und der viel zu rasch vergehenden Zeit: Eine poetische Existenz.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
"Zartes" und "Schwebendes" sucht Ralf Rothmann in seiner Prosa, schreibt Rezensent Christoph Schröder. Der Band, der nun zu seinem siebzigsten Geburtstag erschienen ist, vereint Notizen aus fünfzig Schaffensjahren und ist eine "Fundgrube" für Überraschendes und Unkonventionelles. Gerade den alltäglichen Momenten gewinnt Rothmann ihre besondere Seite ab, freut sich der Kritiker, anhand der Erinnerungen, Anekdoten und "poetischen Selbstaussagen" kann er zudem vortrefflich den Entwicklungsprozess des Schriftstellers nachvollziehen. Der "publikumsscheue" Autor hat sich noch nie so offen gezeigt, findet Schröder, und erlaubt den Lesern einen ganz neuen Blick auf sich und seine Werke.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.2023Künstliche Löwenpranken
Wie man sich den Schrecken des Alltags durch Anverwandlung vom Leibe hält: Ralf Rothmann wird siebzig und gibt Einblick in seine Schreibwerkstatt.
Ein halbes Jahrhundert lang hat der Schriftsteller Ralf Rothmann Ideen, Beobachtungen und Wortprotokollnotizen aus dem Alltag in Schreibheften gesammelt. Ein Stapel von 36 Heften ist emporgewachsen, aber erst jetzt, zu seinem heutigen siebzigsten Geburtstag, hat Rothmann eine Auswahl dieser kurzen Texte zu einem Buch verbunden. Indem der Autor dieses Material so lange bei sich behielt, sind ihm potentielle in der Zwischenzeit verstorbene Leser entgangen. Als einen solchen möchte man sich den Philosophen Hans Blumenberg vorstellen. In der Bibliothek Suhrkamp, die jetzt auch Rothmanns Notate aufgenommen hat, liegen mehrere Sammlungen von Glossen Blumenbergs vor, die ihre Anlässe regelmäßig in Tagebucheinträgen von Schriftstellern, Aphorismen oder ähnlich beiläufigem Niederschlag einer literarischen Lebensführung finden. Einer der Bände heißt "Löwen". Was hätte sich Blumenberg wohl zu folgendem Vermerk von Ralf Rothmann gedacht? ",Löwenverleih', träume ich, und werde zwei Tage später um ein Haar überfahren von einem grünen Lieferwagen mit der Aufschrift ,Palmenverleih'."
Das Leitmotiv von Blumenbergs Anekdoten ist "das Abwesende am Löwen". Man bekommt ihn nur selten zu sehen. Nicht der König der Tiere als allgegenwärtiges Symbol interessiert den Philosophen; im Gegenteil wird im Kontext phänomenologischer Forschung der Löwe zur Chiffre für das schwer Greifbare der Wirklichkeit. Mythische Geschichten ebenso wie philosophische Begriffe sind für Blumenberg Mittel, die Abstand verkürzen und Abwesenheit ausfüllen. Ihn hätte der Gedanke an einen Löwenverleih fasziniert, ein Unternehmen, welches das Bedürfnis nach Löwen zu befriedigen verspricht, allerdings nur auf Zeit und gegen ein Entgelt.
Im Corpus von Rothmanns sehr kurzen Geschichten haben wir es mit einer durch das Setting des Traumgesichts zugespitzten Variante des häufigsten Typus zu tun. Alle naselang schreibt Rothmann auf, dass er sich verlesen hat. Er gerät ins Staunen über ein seltsames Wort und bemerkt beim zweiten Hinsehen den Lesefehler. Statt der Obertöne in einer Frauenstimme vernimmt er Obsttöne, und den Tankgutschein im Preisausschreiben, den er als Fußgänger nicht benutzen kann, tauscht er automatisch gegen einen Krankenschein ein. Die Pedanterie, mit der er über diese Irrtümer Buch führt, ergibt einen merkwürdigen Kontrast zum Befund der Zerstreutheit.
Für sich genommen wirft das Muster der Missgeschicklichkeit keine Entzifferungsprobleme auf. Der Autor dokumentiert seine Weltfremdheit und zugleich das Erlebnis, dass sich ihm in der Sprache unwillkürlich eine andere oder wenigstens verschobene, in neue Beziehungen gebrachte Welt erschließt. Rothmann selbst studiert unter der Überschrift "Die Wahrheit der Marotten" den Zerrspiegel seines Wortverständnisses und lässt sich von der Selbstbetrachtung zu terminologischer Kreativität anregen. Aus der Mängelanzeige, wie sie in ein Zeugnis eingetragen würde, wird so etwas wie der Beweis einer Begabung: "Dass ich oft so flüchtig und dann fehlerhaft lese oder vieles dem Wortlaut nach falsch verstehe, mag Ausdruck meiner Charaktergeschwindigkeit sein."
Führt er sein Ideentagebuch in Schulheften? Er beschreibt im Vorwort die Schreibhefte nicht. Aber edles Schreibzeug würde nicht zu ihm passen. Jedenfalls fällt ihm ein Wort aus der Schulzeit ein, der Flüchtigkeitsfehler, und beim Wort genommen scheint dieses vielleicht immer nur flüchtig zur Kenntnis genommene Wort zu sagen, "dass da jemand auf der Flucht ist". Wovor? "Vor dem trostlos rationalen, alles durchwirkenden Zweckzusammenhang, will mir scheinen." Anders gewendet: Die Flucht führt heraus aus einer nach den Maßgaben autoritärer Schulweisheit eingerichteten Welt, hinein in "eine poetischere oder wenigstens humorvollere Dimension". In einer anderen Notiz offenbart sich Rothmann als der Geschlagene, den man aus seinen Ruhrgebietskindheitsromanen kennt. Er wuchs heran "unter den wütenden Hieben der Mutter mit den Holzlöffeln und denen der alten Nazi-Lehrer mit den Linealen mit Stahlkante". Es wäre wohl wieder ein Versuch der Begradigung mit der stählernen Waffe fällig gewesen, hätte der kleine Ralf im Unterricht die freche Ausflucht vorgebracht, dass die schlechte Gewohnheit des überfliegenden Lesens bei ihm ein Zeichen für angeborene Flinkheit sei. Kunde im Löwenverleih wird, wer das Fürchten lernen möchte.
Die Traumerzählung verschiebt das Schema ins Phantastische, durch Umkehrung der Leserichtung. Für Palmenverleih hat Rothmann Löwenverleih gelesen, obwohl er Palmenverleih noch gar nicht hatte lesen können. Er konnte ja nicht wissen, dass er zwei Tage nach dem Traum einem Lieferwagen mit dieser Aufschrift begegnen würde. Der Vorzeichencharakter des Traums ist ein Signum der poetischen Inspiration.
Rothmann hat den Extrakt der 36 Hefte in der chronologischen Ordnung belassen, wobei er im Detail möglicherweise Umstellungen vorgenommen hat, wenn er zwischen dem Ästhetischen als Stoff und Gegenstand wechselt und auf Impressionen passende Reflexionen folgen lässt. So spiegelt das Buch seine gesamte schriftstellerische Entwicklung, allerdings in Gestalt des Ungeschriebenen, genauer: des nicht Aus- und Fortgeschriebenen, weil es vom Inhalt der Hefte nur das Übriggebliebene wiedergibt, das nicht schon früher "in Erzählungen und Romane übertragen" wurde. Es wartet sozusagen noch auf die Kondensation, von der das Buch handeln müsste, enthielte es tatsächlich eine "Theorie des Regens". Die Einfälle, mit denen der Autor nichts anfangen konnte, sind für den Leser nicht nutzlos. Gerade sie illustrieren Rothmanns romantische Überzeugung, dass der Schriftsteller seine Arbeit nicht planen kann. Er träumt von Löwen, hat keine Palmen bestellt, und dann wird ihm plötzlich grün vor Augen. Der Dichter schöpft aus Geistesabwesenheit. Schärfer formuliert: Der Geist, der dem Lebensstoff literarische Form verpasst, ist das Abwesende am Dichter. PATRICK BAHNERS
Ralf Rothmann: "Theorie des Regens". Notizen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 216 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie man sich den Schrecken des Alltags durch Anverwandlung vom Leibe hält: Ralf Rothmann wird siebzig und gibt Einblick in seine Schreibwerkstatt.
Ein halbes Jahrhundert lang hat der Schriftsteller Ralf Rothmann Ideen, Beobachtungen und Wortprotokollnotizen aus dem Alltag in Schreibheften gesammelt. Ein Stapel von 36 Heften ist emporgewachsen, aber erst jetzt, zu seinem heutigen siebzigsten Geburtstag, hat Rothmann eine Auswahl dieser kurzen Texte zu einem Buch verbunden. Indem der Autor dieses Material so lange bei sich behielt, sind ihm potentielle in der Zwischenzeit verstorbene Leser entgangen. Als einen solchen möchte man sich den Philosophen Hans Blumenberg vorstellen. In der Bibliothek Suhrkamp, die jetzt auch Rothmanns Notate aufgenommen hat, liegen mehrere Sammlungen von Glossen Blumenbergs vor, die ihre Anlässe regelmäßig in Tagebucheinträgen von Schriftstellern, Aphorismen oder ähnlich beiläufigem Niederschlag einer literarischen Lebensführung finden. Einer der Bände heißt "Löwen". Was hätte sich Blumenberg wohl zu folgendem Vermerk von Ralf Rothmann gedacht? ",Löwenverleih', träume ich, und werde zwei Tage später um ein Haar überfahren von einem grünen Lieferwagen mit der Aufschrift ,Palmenverleih'."
Das Leitmotiv von Blumenbergs Anekdoten ist "das Abwesende am Löwen". Man bekommt ihn nur selten zu sehen. Nicht der König der Tiere als allgegenwärtiges Symbol interessiert den Philosophen; im Gegenteil wird im Kontext phänomenologischer Forschung der Löwe zur Chiffre für das schwer Greifbare der Wirklichkeit. Mythische Geschichten ebenso wie philosophische Begriffe sind für Blumenberg Mittel, die Abstand verkürzen und Abwesenheit ausfüllen. Ihn hätte der Gedanke an einen Löwenverleih fasziniert, ein Unternehmen, welches das Bedürfnis nach Löwen zu befriedigen verspricht, allerdings nur auf Zeit und gegen ein Entgelt.
Im Corpus von Rothmanns sehr kurzen Geschichten haben wir es mit einer durch das Setting des Traumgesichts zugespitzten Variante des häufigsten Typus zu tun. Alle naselang schreibt Rothmann auf, dass er sich verlesen hat. Er gerät ins Staunen über ein seltsames Wort und bemerkt beim zweiten Hinsehen den Lesefehler. Statt der Obertöne in einer Frauenstimme vernimmt er Obsttöne, und den Tankgutschein im Preisausschreiben, den er als Fußgänger nicht benutzen kann, tauscht er automatisch gegen einen Krankenschein ein. Die Pedanterie, mit der er über diese Irrtümer Buch führt, ergibt einen merkwürdigen Kontrast zum Befund der Zerstreutheit.
Für sich genommen wirft das Muster der Missgeschicklichkeit keine Entzifferungsprobleme auf. Der Autor dokumentiert seine Weltfremdheit und zugleich das Erlebnis, dass sich ihm in der Sprache unwillkürlich eine andere oder wenigstens verschobene, in neue Beziehungen gebrachte Welt erschließt. Rothmann selbst studiert unter der Überschrift "Die Wahrheit der Marotten" den Zerrspiegel seines Wortverständnisses und lässt sich von der Selbstbetrachtung zu terminologischer Kreativität anregen. Aus der Mängelanzeige, wie sie in ein Zeugnis eingetragen würde, wird so etwas wie der Beweis einer Begabung: "Dass ich oft so flüchtig und dann fehlerhaft lese oder vieles dem Wortlaut nach falsch verstehe, mag Ausdruck meiner Charaktergeschwindigkeit sein."
Führt er sein Ideentagebuch in Schulheften? Er beschreibt im Vorwort die Schreibhefte nicht. Aber edles Schreibzeug würde nicht zu ihm passen. Jedenfalls fällt ihm ein Wort aus der Schulzeit ein, der Flüchtigkeitsfehler, und beim Wort genommen scheint dieses vielleicht immer nur flüchtig zur Kenntnis genommene Wort zu sagen, "dass da jemand auf der Flucht ist". Wovor? "Vor dem trostlos rationalen, alles durchwirkenden Zweckzusammenhang, will mir scheinen." Anders gewendet: Die Flucht führt heraus aus einer nach den Maßgaben autoritärer Schulweisheit eingerichteten Welt, hinein in "eine poetischere oder wenigstens humorvollere Dimension". In einer anderen Notiz offenbart sich Rothmann als der Geschlagene, den man aus seinen Ruhrgebietskindheitsromanen kennt. Er wuchs heran "unter den wütenden Hieben der Mutter mit den Holzlöffeln und denen der alten Nazi-Lehrer mit den Linealen mit Stahlkante". Es wäre wohl wieder ein Versuch der Begradigung mit der stählernen Waffe fällig gewesen, hätte der kleine Ralf im Unterricht die freche Ausflucht vorgebracht, dass die schlechte Gewohnheit des überfliegenden Lesens bei ihm ein Zeichen für angeborene Flinkheit sei. Kunde im Löwenverleih wird, wer das Fürchten lernen möchte.
Die Traumerzählung verschiebt das Schema ins Phantastische, durch Umkehrung der Leserichtung. Für Palmenverleih hat Rothmann Löwenverleih gelesen, obwohl er Palmenverleih noch gar nicht hatte lesen können. Er konnte ja nicht wissen, dass er zwei Tage nach dem Traum einem Lieferwagen mit dieser Aufschrift begegnen würde. Der Vorzeichencharakter des Traums ist ein Signum der poetischen Inspiration.
Rothmann hat den Extrakt der 36 Hefte in der chronologischen Ordnung belassen, wobei er im Detail möglicherweise Umstellungen vorgenommen hat, wenn er zwischen dem Ästhetischen als Stoff und Gegenstand wechselt und auf Impressionen passende Reflexionen folgen lässt. So spiegelt das Buch seine gesamte schriftstellerische Entwicklung, allerdings in Gestalt des Ungeschriebenen, genauer: des nicht Aus- und Fortgeschriebenen, weil es vom Inhalt der Hefte nur das Übriggebliebene wiedergibt, das nicht schon früher "in Erzählungen und Romane übertragen" wurde. Es wartet sozusagen noch auf die Kondensation, von der das Buch handeln müsste, enthielte es tatsächlich eine "Theorie des Regens". Die Einfälle, mit denen der Autor nichts anfangen konnte, sind für den Leser nicht nutzlos. Gerade sie illustrieren Rothmanns romantische Überzeugung, dass der Schriftsteller seine Arbeit nicht planen kann. Er träumt von Löwen, hat keine Palmen bestellt, und dann wird ihm plötzlich grün vor Augen. Der Dichter schöpft aus Geistesabwesenheit. Schärfer formuliert: Der Geist, der dem Lebensstoff literarische Form verpasst, ist das Abwesende am Dichter. PATRICK BAHNERS
Ralf Rothmann: "Theorie des Regens". Notizen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 216 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»... trotzig und zärtlich versöhnt sich der große Ralf Rothmann mit der Welt.« Sylvie-Sophie Schindler der Freitag 20230601