Heinrich Deterings Buch entdeckt und erforscht einen weißen Fleck auf der Landkarte von Thomas Manns Leben und Werk. Dieses Buch erzählt die Geschichte von Thomas Manns bislang unbekannter Beziehung zur Unitarischen Kirche in Kalifornien - eine Geschichte, die vom Verhältnis zwischen Politik und Religion handelt, vom öffentlichen Engagement und von den Aufgaben der Literatur. »Selten, wenn überhaupt je, habe ich ein so lebhaftes und militantes Interesse an irgendeiner religiösen Gruppe genommen«, schreibt Thomas Mann 1951. Heinrich Deterings entdeckungsreiches Buch führt in zentrale Bereiche von Thomas Manns Denken und Schreiben im Exil. Es wird ergänzt durch einen Essay von Frido Mann. »Eine bahnbrechende Studie.« Hans Rudolf Vaget
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Eine glänzende Studie erblickt Manfred Koch in Heinrich Deterings Buch über Thomas Manns Verhältnis zur Religion des amerikanischen Unitarismus. Dass die Forschung dieses Thema bislang ignoriert hat, scheint ihm schon etwas merkwürdig. Umso mehr weiß er Deterings auf gründlichen Archivrecherchen basierende Arbeit zu schätzen. Er attestiert dem Autor, Manns Beziehungen zur unitarischen Kirche von Los Angeles, seinen Austausch mit führenden Kirchenvertretern, sein Engagement für die Gemeinde detailreich zu schildern. Erhellend findet er insbesondere die klare Darstellung der Tradition des Unitarismus, dessen humanistischen, pragmatischen und demokratischen Züge Mann überzeugten und ihn auch religiös zum US-Bürger werden ließen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2012Von der Kunstreligion zum tätigen Glauben
Im kalifornischen Exil knüpfte Thomas Mann enge Kontakte zur Unitarischen Kirche, die für ihn einen christlich geprägten Humanismus verkörperte.
Über Manns wenig bekannte „amerikanische Religion“ hat Heinrich Detering nun ein äußerst erhellendes Buch geschrieben
VON FRIEDRICH WILHELM GRAF
Es ist nicht leicht, über Thomas Mann Neues zu schreiben. Gerade seine Sicht „der religiösen Sphäre“ und seine Neudeutung biblischer Mythen sind vielfältig erforscht. Hunderte Theologen und Tausende Literaturwissenschaftler haben genuin protestantische Motive im Denken des Autors des „Doktor Faustus“ nachgezeichnet und gar seine implizite Theologie der Gnade akribisch erkundet. Dennoch gelingt es Heinrich Detering, dem in Göttingen lehrenden Germanisten und Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, nun, Thomas Manns Verhältnis zum protestantischen Christentum noch einmal ganz anders, grundlegend neu zu bestimmen.
Erzählt wird die bisher weithin unbekannte Geschichte der engen Beziehung des „Zauberers“ zur Unitarischen Kirche speziell in Los Angeles. Wie in Hans Rudolf Vagets großer Studie „Thomas Mann, der Amerikaner“, im vergangenen Jahr bei S. Fischer erschienen, geht es um die gewollte Selbstamerikanisierung des Exilanten, der gemeinsam mit Katia Mann an Silvester 1944 die Staatsbürgerschaft der USA erwarb. Detering leistet Seltenes: Er erschließt neue Quellen von und über Thomas Mann im kalifornischen Exil, kann deshalb Manns „Christlichen Humanismus“ ungleich präziser als bisher erfassen und macht vor allem mit Blick auf „Joseph, den Ernährer“ Zusammenhänge zwischen Leben und Werk sichtbar, die niemand zuvor gesehen hat.
Auch in dieser Zeitung hat man während des Wahlkampfs um die amerikanische Präsidentschaft lesen können, dass der Glaube der Mormonen die einzig echte, erst in der postkolonialen Unabhängigkeit erfundene Religion der USA sei. Aber das stimmt nicht. Historisch geht den Mormonen der Unitarismus voraus, eine zunächst vor allem in Massachusetts einflussreiche liberalreligiöse Strömung, deren Anhänger sich schon im frühen 19. Jahrhundert als die wahren Künder genuin amerikanischer Vorstellungen von gottgewollter Freiheit des Einzelnen im demokratischen Erdenhimmel verstanden.
Unitarismus ist ein Kampfbegriff aus dem 16. Jahrhundert, geprägt von lutherischen Theologen zur Ablehnung jener furchtbaren Häresie, die einige radikale Täufer und speziell die sogenannten Sozinianer, die Anhänger des für die Medici tätigen Patriziers Fausto Sozzini, vertraten: die radikale Ablehnung jeder Vorstellung von Gottes Dreieinigkeit oder Dreifaltigkeit zugunsten des Glaubens an den einen Gott. Über britische Dissenter und puritanische Nonkonformisten gelangten antitrinitarische Ideen ins Neuengland des 18. Jahrhunderts, wurden hier aber bald zur Grundlage eines „praktischen Christentums“ aufgeklärter Eliten gemacht, die nicht mehr an Dogma und Lehre, sondern allein an gelebter praxis pietatis, am Tatglauben zur Selbstvervollkommnung des frommen Einzelnen und der sittlichen Verbesserung der noch sündhaften Welt interessiert waren. Nicht ohne Sendungsbewusstsein beriefen sich die Unitarier in und um Boston um 1800 auf Thomas Jefferson, dessen Deismus sie als ein vernünftiges, humanitäres, auch für Nicht- oder Andersgläubige mitvollziehbares Christentum deuteten.
Im Unterschied zu Deutschland, wo die religiöse Romantik sich als eine Gegenbewegung zu aufklärerischer Kirchenkritik und freier, rationalistischer Theologie verstand, wollten naturfromme Glaubensromantiker in Neuengland Aufklärungstraditionen konstruktiv fortschreiben. Vordenker der „American Renaissance“ wie Ralph Waldo Emerson und der „Concord School“ um Emerson und Henry D. Thoreau sahen, inspiriert auch von Goethes Naturphilosophie, in Gott eine kosmische „Oversoul“, die genau gesehen von allen Menschen, keineswegs nur von Christen verehrt werde.
Vor allem der charismatische Bostoner Prediger William E. Channing verknüpfte den Glauben an „den unendlichen Wert jeder einzelnen Menschenseele“ mit einem sozialen Reformprogramm hin zur Durchsetzung universeller Brüderlichkeit. Auf Hunderten Kanzeln predigten unitarische Geistliche gegen die Sklaverei und für Justizreform, Gleichheit der Geschlechter und „social justice“. Ihr Gott offenbarte sich allein im Herzen, in der Seele des Menschen, und ihr Jesus war kein Gottessohn, sondern ein von aller Selbstsucht freier Tugendlehrer, der, wie andere religiöse Lehrer und Vorbilder auch, den Weg zu fortschreitender Persönlichkeitsbildung, diesseitsbezogener Sittlichkeit und gerechter Gesellschaft wies. Wo auch immer Minderheiten diskriminiert wurden, riefen unitarische Prediger ihre Gemeinden zum Sozialprotest auf – gerade in den Vierziger- und Fünfzigerjahren.
Mit Blick auf James Luther Adams, den führenden unitarischen Theologen des vorigen Jahrhunderts, der von 1956 bis 1968 in Harvard lehrte und sich dezidiert als Erbe und nordamerikanischer Statthalter Ernst Troeltschs verstand, kann Detering zeigen, wie sehr das „undogmatische Christentum“ der Unitarier den theologischen Diskurs der USA um 1940 bestimmte. Damals gab es in den unitarischen Gemeinden zwar viel Streit. Manche Prediger deuteten die „unitarische Kirche“ als eine „freie Assoziation“, die auch für Juden, Hindus, Buddhisten, Muslime und Agnostiker sowie selbst Atheisten offen sei, andere betonten die protestantisch nonkonformistische Herkunft. Das „Federal Council of Churches in America“, ein Dachverband vieler protestantischer Denominationen, weigerte sich deshalb, die „Unitarian Church“ aufzunehmen, solange hier postchristliche Universalisten und Juden mitwirkten. Doch im Alltag der Gemeinden blieben die Verbindungen zu liberalen protestantischen Gemeinden eng. Vor allem Adams sorgte dafür, dass berühmte Theologen wie die Brüder Niebuhr und Paul Tillich immer wieder auf den Kanzeln unitarischer Kirchen die evangelische Freiheitsbotschaft verkündeten.
Thomas Mann las früh schon Texte unitarischer Denker, zwischen 1902 und 1905 etwa Emersons Essay „The Poet“. 1922 schenkte ihm Hans Reisiger seine große, dicht kommentierte Ausgabe der Werke Walt Whitmans. Dieser naturreligiöse Schwärmer identifizierte nicht nur Religion, Humanismus und Demokratie, sondern wollte im panerotischen Gottesreich der universellen Menschheitsverbrüderung gern auch die Knaben- und Männerliebe leben. Auch Thoreau wurde von Mann intensiv rezipiert. Stefan Zweigs Novelle „Castellio gegen Calvin oder ein Gewissen gegen die Gewalt“ machte ihn 1936 mit einer Urszene der Unitarier vertraut: Michael Servet, der antitrinitarische Häretiker und Nonkonformist, wird vom totalitären Dogmatiker Calvin 1553 in Genf „als verfaultes Glied der Kirche“ verurteilt und auf dem Champel verbrannt – der erste Märtyrer der unitarisch liberalen Gewissensreligion.
In näheren, persönlichen Kontakt zur unitarischen Kirche kommt Thomas Mann im Laufe des Jahres 1940. 1939 waren Elisabeth Mann und Giuseppe Antonio Borgese in der Universitätskapelle von Princeton durch einen unitarischen Geistlichen getraut worden. Bei der Flucht über die Pyrenäen werden Heinrich Mann, seine Frau Nelly und der Neffe Golo im Frühherbst 1940 von einem unitarischen Mitarbeiter Varian Frys geführt. Im Tagebuch hält Thomas Mann die Hilfe der Unitarier für seinen Bruder und Sohn ausdrücklich fest. Auch unterstützt er nun aktiv das im Mai 1940 in Boston gegründete „Unitarian Service Committee“, das gemeinsam mit dem „Emergency Rescue Committee“ in New York Varian Fry nach Marseille geschickt hatte, um verfolgten Juden und politischen Flüchtlingen die vielfältig behinderte Einreise in die USA zu ermöglichen.
Im selben Jahr lernt Thomas Mann Ernest Caldecott, den religiös ultraliberalen und politisch radikalsozialistischen Pfarrer der „First Unitarian Church of Los Angeles“ kennen. Thomas und Katia Mann werden Mitglied seiner Gemeinde, zu der auch Lion und Marta Feuchtwanger gehören. Auf ausdrücklichen Wunsch des Großvaters hin tauft Caldecott Anfang April 1942 Frido und Angelica Mann. Zwei Jahre später folgt die Doppeltaufe der Enkel Toni und Domenica, „als deren Pate“, so heißt es im Tagebuch, „ich fungierte“. Ganz im Sinne der unitarischen Programmschriften und Traktate, die er intensiv liest, deutet Thomas Mann diese Taufe nicht als ein heilsnotwendiges Sakrament, sondern als eine „verständige“, individualitätssensible „Initiation in ein christliches, menschliches Leben“. Im entschiedenen Gegensatz zu jenen Universalisten, die den Unitarismus zu einer postchristlichen Menschheitsreligion fortentwickeln wollen, beharrt Mann auf der christlichen Prägung der unitarischen Kirche. Noch in seiner heftig umstrittenen Verbindung von starker individueller Freiheit und sozialistischer Gesellschaftsordnung, wie er sie 1943 in der Library of Congress in der Rede „The War and the Future“ entfaltet, nimmt Mann die unitarische Gleichsetzung von Christentum und sozialer Demokratie auf.
Als 1948 Stephen Fritchman Pfarrer der First Unitarian Church in Los Angeles wird, gewinnt Thomas Manns Engagement für seine unitarische Kirche noch an Intensität. Fritchman öffnet die Gemeinde für Juden, Vorkämpfer der Homosexuellenemanzipation und auch prominente Gewerkschaftler. Gemeinsam kämpfen der entschieden linke, fortwährend als Kommunist verdächtigte Prediger und sein prominentes Gemeindemitglied gegen die massive Einschränkung von Bürgerrechten in der McCarthy-Ära. Thomas Mann schreibt nun auch für den Gemeindebrief. Als Heinrich Mann am 11. März 1950 stirbt, hält Fritchman auf Bitte des Bruders den Trauergottesdienst. Im Jahr darauf steigt Mann gar auf Fritchmans Kanzel, wo er ein starkes Bekenntnis zur „applied Christianity“ der Unitarier ablegt: „selten, wenn überhaupt je“, habe er „ein so lebhaftes und militantes Interesse an irgendeiner religiösen Gruppe“ entwickelt.
Mann deutet diese „angewandte Religion“ respektive angewandte Christlichkeit als einen „neuen, religiös imprägnierten Humanismus, aggressiv darauf ausgerichtet, des Menschen Stand und Zustände auf der Erde zu verbessern, indem er sich zugleich ehrend und ehrfürchtiger vor dem Geheimnis verneigt, das aller menschlichen Existenz zugrunde liegt und das niemals gelüftet werden kann und wird, denn es ist heilig“. So unterstützt er seine Gemeinde immer wieder finanziell.
Den Kontakt zu Fritchman hält Mann aufrecht, als er nach Europa zurückkehrt. Nicht nur gibt er weiterhin Geld. Vielmehr schreibt er Fritchman auch Briefe, in denen er den Opfermut der Unitarier preist. „Der Geist Ihrer Kirche, der Christliche Humanismus, den sie vertritt, und der in Ihrer Person einen so ergebenen und mutigen Verkünder hat, – dieser Geist ist es, der mich anzieht, seit ich ihn kennen lernte, und den ich in wahrer Sympathie bewundere. Es ist heute viel von der Notwendigkeit die Rede, Freiheit und Menschenwürde zu verteidigen gegen totalitäre Tyrannei und einen der westlichen Civilisation fremden konformistischen Gesinnungszwang. (. . . ) Gewiss ist, dass die Unitarian Church jene westlichen und christlichen Ideale in ihrer Reinheit vertritt und zwar unter Opfern“. Damit mögen auch die Repressionen gemeint sein, denen sich Fritchman ausgesetzt sah; er wurde vor den Ausschuss für unamerikanische Umtriebe geladen. Thomas Mann schickte dem Freund daraufhin ein Foto von sich, mit der Widmung: „To Stephen H. Fritchman, defender of American evangelical freedom“.
Die Wege von Manns früher, durch Melancholie und Todesmetaphysik geprägter Kunstreligion hin zum pragmatisch lebensjahenden Tatglauben der kalifornischen Unitarier sind weit. Detering zeichnet sie mit bewundernswerter philologischer Präzision nach. Im Anhang bietet er spannende Dokumente, etwa das „Pulpit Editorial“, die Predigt Manns in der „First Unitarian Church“, sowie die ergreifende Trauerrede Fritchmans bei einem 1955 in der Kirche gehaltenen Gedenkgottesdienst. Frido Mann steuert einen „persönlichen Essay“ „Was mich betrifft“ bei.
Frido Mann, der 1964 zum Katholizismus konvertierte, in Rom Theologie studierte und bei Karl Rahner eine Dissertation über „Das Abendmahl beim jungen Luther“ schrieb, wurde beim Übertritt noch einmal getauft, da die römisch-katholische Kirche die Tauffeier der Unitarier nicht als eine legitime christliche Taufe anerkannte. James Luther Adams spottete gern selbstironisch darüber, dass die römisch-katholische Kirche sich trotz des Zweiten Vaticanums noch der Häresie der Wiedertaufe schuldig mache. Wenn jeder Einzelne die Freiheit zur Glaubenswahl hat, können selbst mächtige Heilsanstalten dem „Zwang zur Häresie“ (Peter L. Berger) nicht entgehen.
Auf den Wegen vom ererbten Lübecker lutherischen Kulturprotestantismus zum selbst gewählten Freiheitsglauben der Unitarier hat auch Thomas Mann nur seine höchst eigene liberal-humanistische Neudeutung des Christentums gelebt. Der Enkel Frido hat die unitarische Taufe auf seine Weise bestätigt: Als Benedikt XVI. 2009 die Pius-Bruderschaft in die „Gemeinschaft der Kirche“ zurückzuholen begann, trat Frido Mann aus der römisch-katholischen Kirche wieder aus.
Heinrich Detering: Thomas Manns amerikanische Religion. Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil. Mit einem Essay von Frido Mann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 352 Seiten, 18,99 Euro.
Die Unitarier in Boston um 1800
beriefen sich sendungsbewusst
auf Thomas Jefferson
Calvin verurteilte 1553 in Genf
den Häretiker Michael Servet als
„verfaultes Glied der Kirche“
Thomas Mann griff die unitarische
Gleichsetzung von Christentum
und sozialer Demokratie auf
Thomas Mann vor seinem Haus in Pacific Palisades.
FOTO: PICTURE ALLIANCE/KEYSTONE
Nicht wenige Emigranten fanden in den USA auch ein neues weltanschauliches Zuhause.
FOTO: ED CLARK/TIME LIFE PICTURES/GETTY IMAGES
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Im kalifornischen Exil knüpfte Thomas Mann enge Kontakte zur Unitarischen Kirche, die für ihn einen christlich geprägten Humanismus verkörperte.
Über Manns wenig bekannte „amerikanische Religion“ hat Heinrich Detering nun ein äußerst erhellendes Buch geschrieben
VON FRIEDRICH WILHELM GRAF
Es ist nicht leicht, über Thomas Mann Neues zu schreiben. Gerade seine Sicht „der religiösen Sphäre“ und seine Neudeutung biblischer Mythen sind vielfältig erforscht. Hunderte Theologen und Tausende Literaturwissenschaftler haben genuin protestantische Motive im Denken des Autors des „Doktor Faustus“ nachgezeichnet und gar seine implizite Theologie der Gnade akribisch erkundet. Dennoch gelingt es Heinrich Detering, dem in Göttingen lehrenden Germanisten und Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, nun, Thomas Manns Verhältnis zum protestantischen Christentum noch einmal ganz anders, grundlegend neu zu bestimmen.
Erzählt wird die bisher weithin unbekannte Geschichte der engen Beziehung des „Zauberers“ zur Unitarischen Kirche speziell in Los Angeles. Wie in Hans Rudolf Vagets großer Studie „Thomas Mann, der Amerikaner“, im vergangenen Jahr bei S. Fischer erschienen, geht es um die gewollte Selbstamerikanisierung des Exilanten, der gemeinsam mit Katia Mann an Silvester 1944 die Staatsbürgerschaft der USA erwarb. Detering leistet Seltenes: Er erschließt neue Quellen von und über Thomas Mann im kalifornischen Exil, kann deshalb Manns „Christlichen Humanismus“ ungleich präziser als bisher erfassen und macht vor allem mit Blick auf „Joseph, den Ernährer“ Zusammenhänge zwischen Leben und Werk sichtbar, die niemand zuvor gesehen hat.
Auch in dieser Zeitung hat man während des Wahlkampfs um die amerikanische Präsidentschaft lesen können, dass der Glaube der Mormonen die einzig echte, erst in der postkolonialen Unabhängigkeit erfundene Religion der USA sei. Aber das stimmt nicht. Historisch geht den Mormonen der Unitarismus voraus, eine zunächst vor allem in Massachusetts einflussreiche liberalreligiöse Strömung, deren Anhänger sich schon im frühen 19. Jahrhundert als die wahren Künder genuin amerikanischer Vorstellungen von gottgewollter Freiheit des Einzelnen im demokratischen Erdenhimmel verstanden.
Unitarismus ist ein Kampfbegriff aus dem 16. Jahrhundert, geprägt von lutherischen Theologen zur Ablehnung jener furchtbaren Häresie, die einige radikale Täufer und speziell die sogenannten Sozinianer, die Anhänger des für die Medici tätigen Patriziers Fausto Sozzini, vertraten: die radikale Ablehnung jeder Vorstellung von Gottes Dreieinigkeit oder Dreifaltigkeit zugunsten des Glaubens an den einen Gott. Über britische Dissenter und puritanische Nonkonformisten gelangten antitrinitarische Ideen ins Neuengland des 18. Jahrhunderts, wurden hier aber bald zur Grundlage eines „praktischen Christentums“ aufgeklärter Eliten gemacht, die nicht mehr an Dogma und Lehre, sondern allein an gelebter praxis pietatis, am Tatglauben zur Selbstvervollkommnung des frommen Einzelnen und der sittlichen Verbesserung der noch sündhaften Welt interessiert waren. Nicht ohne Sendungsbewusstsein beriefen sich die Unitarier in und um Boston um 1800 auf Thomas Jefferson, dessen Deismus sie als ein vernünftiges, humanitäres, auch für Nicht- oder Andersgläubige mitvollziehbares Christentum deuteten.
Im Unterschied zu Deutschland, wo die religiöse Romantik sich als eine Gegenbewegung zu aufklärerischer Kirchenkritik und freier, rationalistischer Theologie verstand, wollten naturfromme Glaubensromantiker in Neuengland Aufklärungstraditionen konstruktiv fortschreiben. Vordenker der „American Renaissance“ wie Ralph Waldo Emerson und der „Concord School“ um Emerson und Henry D. Thoreau sahen, inspiriert auch von Goethes Naturphilosophie, in Gott eine kosmische „Oversoul“, die genau gesehen von allen Menschen, keineswegs nur von Christen verehrt werde.
Vor allem der charismatische Bostoner Prediger William E. Channing verknüpfte den Glauben an „den unendlichen Wert jeder einzelnen Menschenseele“ mit einem sozialen Reformprogramm hin zur Durchsetzung universeller Brüderlichkeit. Auf Hunderten Kanzeln predigten unitarische Geistliche gegen die Sklaverei und für Justizreform, Gleichheit der Geschlechter und „social justice“. Ihr Gott offenbarte sich allein im Herzen, in der Seele des Menschen, und ihr Jesus war kein Gottessohn, sondern ein von aller Selbstsucht freier Tugendlehrer, der, wie andere religiöse Lehrer und Vorbilder auch, den Weg zu fortschreitender Persönlichkeitsbildung, diesseitsbezogener Sittlichkeit und gerechter Gesellschaft wies. Wo auch immer Minderheiten diskriminiert wurden, riefen unitarische Prediger ihre Gemeinden zum Sozialprotest auf – gerade in den Vierziger- und Fünfzigerjahren.
Mit Blick auf James Luther Adams, den führenden unitarischen Theologen des vorigen Jahrhunderts, der von 1956 bis 1968 in Harvard lehrte und sich dezidiert als Erbe und nordamerikanischer Statthalter Ernst Troeltschs verstand, kann Detering zeigen, wie sehr das „undogmatische Christentum“ der Unitarier den theologischen Diskurs der USA um 1940 bestimmte. Damals gab es in den unitarischen Gemeinden zwar viel Streit. Manche Prediger deuteten die „unitarische Kirche“ als eine „freie Assoziation“, die auch für Juden, Hindus, Buddhisten, Muslime und Agnostiker sowie selbst Atheisten offen sei, andere betonten die protestantisch nonkonformistische Herkunft. Das „Federal Council of Churches in America“, ein Dachverband vieler protestantischer Denominationen, weigerte sich deshalb, die „Unitarian Church“ aufzunehmen, solange hier postchristliche Universalisten und Juden mitwirkten. Doch im Alltag der Gemeinden blieben die Verbindungen zu liberalen protestantischen Gemeinden eng. Vor allem Adams sorgte dafür, dass berühmte Theologen wie die Brüder Niebuhr und Paul Tillich immer wieder auf den Kanzeln unitarischer Kirchen die evangelische Freiheitsbotschaft verkündeten.
Thomas Mann las früh schon Texte unitarischer Denker, zwischen 1902 und 1905 etwa Emersons Essay „The Poet“. 1922 schenkte ihm Hans Reisiger seine große, dicht kommentierte Ausgabe der Werke Walt Whitmans. Dieser naturreligiöse Schwärmer identifizierte nicht nur Religion, Humanismus und Demokratie, sondern wollte im panerotischen Gottesreich der universellen Menschheitsverbrüderung gern auch die Knaben- und Männerliebe leben. Auch Thoreau wurde von Mann intensiv rezipiert. Stefan Zweigs Novelle „Castellio gegen Calvin oder ein Gewissen gegen die Gewalt“ machte ihn 1936 mit einer Urszene der Unitarier vertraut: Michael Servet, der antitrinitarische Häretiker und Nonkonformist, wird vom totalitären Dogmatiker Calvin 1553 in Genf „als verfaultes Glied der Kirche“ verurteilt und auf dem Champel verbrannt – der erste Märtyrer der unitarisch liberalen Gewissensreligion.
In näheren, persönlichen Kontakt zur unitarischen Kirche kommt Thomas Mann im Laufe des Jahres 1940. 1939 waren Elisabeth Mann und Giuseppe Antonio Borgese in der Universitätskapelle von Princeton durch einen unitarischen Geistlichen getraut worden. Bei der Flucht über die Pyrenäen werden Heinrich Mann, seine Frau Nelly und der Neffe Golo im Frühherbst 1940 von einem unitarischen Mitarbeiter Varian Frys geführt. Im Tagebuch hält Thomas Mann die Hilfe der Unitarier für seinen Bruder und Sohn ausdrücklich fest. Auch unterstützt er nun aktiv das im Mai 1940 in Boston gegründete „Unitarian Service Committee“, das gemeinsam mit dem „Emergency Rescue Committee“ in New York Varian Fry nach Marseille geschickt hatte, um verfolgten Juden und politischen Flüchtlingen die vielfältig behinderte Einreise in die USA zu ermöglichen.
Im selben Jahr lernt Thomas Mann Ernest Caldecott, den religiös ultraliberalen und politisch radikalsozialistischen Pfarrer der „First Unitarian Church of Los Angeles“ kennen. Thomas und Katia Mann werden Mitglied seiner Gemeinde, zu der auch Lion und Marta Feuchtwanger gehören. Auf ausdrücklichen Wunsch des Großvaters hin tauft Caldecott Anfang April 1942 Frido und Angelica Mann. Zwei Jahre später folgt die Doppeltaufe der Enkel Toni und Domenica, „als deren Pate“, so heißt es im Tagebuch, „ich fungierte“. Ganz im Sinne der unitarischen Programmschriften und Traktate, die er intensiv liest, deutet Thomas Mann diese Taufe nicht als ein heilsnotwendiges Sakrament, sondern als eine „verständige“, individualitätssensible „Initiation in ein christliches, menschliches Leben“. Im entschiedenen Gegensatz zu jenen Universalisten, die den Unitarismus zu einer postchristlichen Menschheitsreligion fortentwickeln wollen, beharrt Mann auf der christlichen Prägung der unitarischen Kirche. Noch in seiner heftig umstrittenen Verbindung von starker individueller Freiheit und sozialistischer Gesellschaftsordnung, wie er sie 1943 in der Library of Congress in der Rede „The War and the Future“ entfaltet, nimmt Mann die unitarische Gleichsetzung von Christentum und sozialer Demokratie auf.
Als 1948 Stephen Fritchman Pfarrer der First Unitarian Church in Los Angeles wird, gewinnt Thomas Manns Engagement für seine unitarische Kirche noch an Intensität. Fritchman öffnet die Gemeinde für Juden, Vorkämpfer der Homosexuellenemanzipation und auch prominente Gewerkschaftler. Gemeinsam kämpfen der entschieden linke, fortwährend als Kommunist verdächtigte Prediger und sein prominentes Gemeindemitglied gegen die massive Einschränkung von Bürgerrechten in der McCarthy-Ära. Thomas Mann schreibt nun auch für den Gemeindebrief. Als Heinrich Mann am 11. März 1950 stirbt, hält Fritchman auf Bitte des Bruders den Trauergottesdienst. Im Jahr darauf steigt Mann gar auf Fritchmans Kanzel, wo er ein starkes Bekenntnis zur „applied Christianity“ der Unitarier ablegt: „selten, wenn überhaupt je“, habe er „ein so lebhaftes und militantes Interesse an irgendeiner religiösen Gruppe“ entwickelt.
Mann deutet diese „angewandte Religion“ respektive angewandte Christlichkeit als einen „neuen, religiös imprägnierten Humanismus, aggressiv darauf ausgerichtet, des Menschen Stand und Zustände auf der Erde zu verbessern, indem er sich zugleich ehrend und ehrfürchtiger vor dem Geheimnis verneigt, das aller menschlichen Existenz zugrunde liegt und das niemals gelüftet werden kann und wird, denn es ist heilig“. So unterstützt er seine Gemeinde immer wieder finanziell.
Den Kontakt zu Fritchman hält Mann aufrecht, als er nach Europa zurückkehrt. Nicht nur gibt er weiterhin Geld. Vielmehr schreibt er Fritchman auch Briefe, in denen er den Opfermut der Unitarier preist. „Der Geist Ihrer Kirche, der Christliche Humanismus, den sie vertritt, und der in Ihrer Person einen so ergebenen und mutigen Verkünder hat, – dieser Geist ist es, der mich anzieht, seit ich ihn kennen lernte, und den ich in wahrer Sympathie bewundere. Es ist heute viel von der Notwendigkeit die Rede, Freiheit und Menschenwürde zu verteidigen gegen totalitäre Tyrannei und einen der westlichen Civilisation fremden konformistischen Gesinnungszwang. (. . . ) Gewiss ist, dass die Unitarian Church jene westlichen und christlichen Ideale in ihrer Reinheit vertritt und zwar unter Opfern“. Damit mögen auch die Repressionen gemeint sein, denen sich Fritchman ausgesetzt sah; er wurde vor den Ausschuss für unamerikanische Umtriebe geladen. Thomas Mann schickte dem Freund daraufhin ein Foto von sich, mit der Widmung: „To Stephen H. Fritchman, defender of American evangelical freedom“.
Die Wege von Manns früher, durch Melancholie und Todesmetaphysik geprägter Kunstreligion hin zum pragmatisch lebensjahenden Tatglauben der kalifornischen Unitarier sind weit. Detering zeichnet sie mit bewundernswerter philologischer Präzision nach. Im Anhang bietet er spannende Dokumente, etwa das „Pulpit Editorial“, die Predigt Manns in der „First Unitarian Church“, sowie die ergreifende Trauerrede Fritchmans bei einem 1955 in der Kirche gehaltenen Gedenkgottesdienst. Frido Mann steuert einen „persönlichen Essay“ „Was mich betrifft“ bei.
Frido Mann, der 1964 zum Katholizismus konvertierte, in Rom Theologie studierte und bei Karl Rahner eine Dissertation über „Das Abendmahl beim jungen Luther“ schrieb, wurde beim Übertritt noch einmal getauft, da die römisch-katholische Kirche die Tauffeier der Unitarier nicht als eine legitime christliche Taufe anerkannte. James Luther Adams spottete gern selbstironisch darüber, dass die römisch-katholische Kirche sich trotz des Zweiten Vaticanums noch der Häresie der Wiedertaufe schuldig mache. Wenn jeder Einzelne die Freiheit zur Glaubenswahl hat, können selbst mächtige Heilsanstalten dem „Zwang zur Häresie“ (Peter L. Berger) nicht entgehen.
Auf den Wegen vom ererbten Lübecker lutherischen Kulturprotestantismus zum selbst gewählten Freiheitsglauben der Unitarier hat auch Thomas Mann nur seine höchst eigene liberal-humanistische Neudeutung des Christentums gelebt. Der Enkel Frido hat die unitarische Taufe auf seine Weise bestätigt: Als Benedikt XVI. 2009 die Pius-Bruderschaft in die „Gemeinschaft der Kirche“ zurückzuholen begann, trat Frido Mann aus der römisch-katholischen Kirche wieder aus.
Heinrich Detering: Thomas Manns amerikanische Religion. Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil. Mit einem Essay von Frido Mann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 352 Seiten, 18,99 Euro.
Die Unitarier in Boston um 1800
beriefen sich sendungsbewusst
auf Thomas Jefferson
Calvin verurteilte 1553 in Genf
den Häretiker Michael Servet als
„verfaultes Glied der Kirche“
Thomas Mann griff die unitarische
Gleichsetzung von Christentum
und sozialer Demokratie auf
Thomas Mann vor seinem Haus in Pacific Palisades.
FOTO: PICTURE ALLIANCE/KEYSTONE
Nicht wenige Emigranten fanden in den USA auch ein neues weltanschauliches Zuhause.
FOTO: ED CLARK/TIME LIFE PICTURES/GETTY IMAGES
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.12.2012Der Humanist als Ersatzpriester
Merkwürdige Episode: Heinrich Deterings Studie über Thomas Mann und die Unitarische Kirche
Thomas Manns geistige Entwicklung folgt nicht so sehr einer Logik der langsamen, kaum merklichen Revisionen und Umdeutungen; Positionen kippen vielmehr in ihr Gegenteil um, ohne dass die leitenden Begriffe dabei aufgegeben würden. Wenn etwa der Roman "Doktor Faustus" (1947) das Böse, die satanische Versuchung im deutschen Charakter offenlegt, so bildet er ein spätes Echo der Schrift aus dem Ersten Weltkrieg, "Friedrich und die Große Koalition", in der das Wort Maria Theresias über den Preußenkönig - er sei ein "böser Mann" - geradezu als Ehrenzeichen genommen worden war. Die Deutung stand also immer fest, nur ihre Wertung veränderte sich. Und so steht es auch mit "Kultur" und "Zivilisation" und manchen anderen intellektuellen Mustern, mit denen sich Thomas Mann seinen Reim auf die Zeit zu machen suchte.
Heinrich Detering ist nun auf eine merkwürdige Episode im Leben des Schriftstellers gestoßen, die niemandem bisher aufgefallen war. Und das Wort "Episode" ist in diesem Fall eine Untertreibung. Es geht um die Nähe von Thomas Mann zur "Unitarischen Kirche" in Los Angeles, in der er seine Enkel taufen ließ - wenn "Taufe" hier überhaupt das angemessene Wort ist, denn die Unitarier kennen keine Sakramente und sprechen von einer bloßen Zeremonie der Namensgebung - und mit deren Anführer Stephen Fritchman ihn Solidarität oder sogar Freundschaft verband. Einmal hielt Thomas Mann in der Kirche eine Kanzelrede.
Theologisch sind es ziemlich dünne, um nicht zu sagen regelrechte Bettelsuppen, die der Unitarismus bot. Heinrich Detering behandelt sie mit erkennbarer Sympathie; wenn etwas seinem an sich wichtigen Buch schadet, dann ist es das Einschwenken auf diese typisch amerikanisch-protestantische Weisheit, deren Entwicklungsgeschichte aber wiederum sehr kenntnisreich geschildert wird. In kurzem lässt sie sich so zusammenfassen: Mit der Unabhängigkeitserklärung wollten manche Geister des neunzehnten Jahrhunderts, etwa Ralph Waldo Emerson oder Walt Whitman, auch eine spirituelle Unabhängigkeitserklärung verbunden wissen. Im Vorwort zu seiner Gedichtsammlung "Grashalme" hatte Whitman verkündet: "There will soon be no more priests." In diesem geistigen Klima wurde die Gedankenwelt des Arianismus wieder wach, einer antiken Häresie: Danach war Jesus ein großer Mensch und eine große Seele, ein Prophet und Lehrer, eine weltgeschichtliche Lichtgestalt - aber nicht mehr, nicht das, was die Kirchen aus ihm gemacht hatten.
Dieser eher vagen Gedankenwelt gab die "Unitarische Kirche" ihre verfasste Form. Eine dogmenfreie Religion entstand. Ob man sie überhaupt noch "Religion" nennen mag, mit ihrer starken Akzentuierung von Humanität, Welt-Zukunft und säkular-praktischen, sozialen Anliegen, sei dahingestellt. Wir wissen, dass in den Vereinigten Staaten vieles unter dem Namen "Kirche" firmieren kann. Jedenfalls war diese Gruppierung offen für alle, Christen, Buddhisten, Agnostiker, Juden (vornehmlich allerdings, und da kommt der Pferdefuß des aufgeklärten Philosemitismus, für jene, die von dem "archaic life style of organized Judaism" enttäuscht seien).
Was Thomas Mann an dieser Gruppierung anzog, war einerseits ihr praktisches Engagement für Menschen wie seinen Bruder Heinrich, die aus Europa hatten fliehen müssen. Vor allem aber: Er glaubte, hier und nur hier die Einheit von politischem und spirituellem Bekenntnis zur Demokratie gefunden zu haben. Die Demokratie aber war ihm die "Forderung des Tages". Und so, wie der Joseph seines Romanzyklus im dritten Band zum Sozialpolitiker à la Roosevelt wurde, Biblisches und Aktuelles aus dem "New Deal" zu einer eigenartigen Demokratie-Religion verschmolzen, so lehrten es auch die Unitarier. Sehen wir aber wirklich eine Überwindung der ästhetizistischen Privatreligionen der deutschen Jahrhundertwende, des George- und Wagner-Kultes, und nicht vielmehr ihr neues Umkippen in eine weitere, nur diesmal aufklärerisch und humanistisch geprägte intellektuelle Sonderreligion?
Es kommt eine weitere politische Frage hinzu. Etwa zwischen dem spanischen Bürgerkrieg und dem Jahr 1946 gab es in Amerika eine mächtige, nach dem Kriegseintritt 1941 noch verstärkte Tendenz nicht nur zur pragmatischen Zusammenarbeit mit Stalins Sowjetunion. Sondern es gab darüber hinaus eine Art Kurzzeit-Utopie der "One world" als des eigentlichen Kriegsziels, in der sich die Rooseveltsche Linke mit den Kommunisten und ihren Sympathisanten treffen konnte. Genau hier ist der Ort der Unitarischen Kirche, die solchen Träumen einen spirituellen Überbau gab. Das amerikanische Standardwerk von Charles W. Eddis über den Kirchenchef, "Stephen Fritchman: The American Unitarians and Communism - A History with Documents", fand ich aber bei Detering nirgends erwähnt. Die Kommunistenjagd des Senators Joseph McCarthy, die einer ganzen Ära den Namen gab, war maßlos, und daran scheiterte sie am Ende. Es gilt aber darum noch nicht der Umkehrschluss, dass alle damals Beschuldigten lupenreine Liberale gewesen seien.
Die Zeitschrift "Life" druckte im April 1949 steckbriefartige Porträts von Kommunistenfreunden ab, unter ihnen Fritchman. Heinrich Detering versieht die Abbildung mit dem entschärfenden Kommentar "vorgeblich". Die Liste, so meint er, lese sich wie ein Who's who des "liberalen Amerika". So kann man nur schreiben, wenn man entschlossen ist, die Tatsachen zu ignorieren. Wenn es je eine gebildete Stalinistin gab, dann war es Lilian Hellman, die sich auf der Liste findet, bei manchen anderen reicht ein Minimum von Recherche, um sie unter den Anhängern der amerikanisch-sowjetischen Freundschaft oder anderer Tarnorganisationen zu finden. Thomas Mann hatte das törichte Wort vom Antikommunismus als der "Grundtorheit" der Epoche geprägt. Auch darin war er mit der Unitarischen Kirche eines Glaubens.
LORENZ JÄGER
Heinrich Detering: "Thomas Manns amerikanische Religion".
Mit einem Essay von Frido Mann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 352 S., geb., 18,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Merkwürdige Episode: Heinrich Deterings Studie über Thomas Mann und die Unitarische Kirche
Thomas Manns geistige Entwicklung folgt nicht so sehr einer Logik der langsamen, kaum merklichen Revisionen und Umdeutungen; Positionen kippen vielmehr in ihr Gegenteil um, ohne dass die leitenden Begriffe dabei aufgegeben würden. Wenn etwa der Roman "Doktor Faustus" (1947) das Böse, die satanische Versuchung im deutschen Charakter offenlegt, so bildet er ein spätes Echo der Schrift aus dem Ersten Weltkrieg, "Friedrich und die Große Koalition", in der das Wort Maria Theresias über den Preußenkönig - er sei ein "böser Mann" - geradezu als Ehrenzeichen genommen worden war. Die Deutung stand also immer fest, nur ihre Wertung veränderte sich. Und so steht es auch mit "Kultur" und "Zivilisation" und manchen anderen intellektuellen Mustern, mit denen sich Thomas Mann seinen Reim auf die Zeit zu machen suchte.
Heinrich Detering ist nun auf eine merkwürdige Episode im Leben des Schriftstellers gestoßen, die niemandem bisher aufgefallen war. Und das Wort "Episode" ist in diesem Fall eine Untertreibung. Es geht um die Nähe von Thomas Mann zur "Unitarischen Kirche" in Los Angeles, in der er seine Enkel taufen ließ - wenn "Taufe" hier überhaupt das angemessene Wort ist, denn die Unitarier kennen keine Sakramente und sprechen von einer bloßen Zeremonie der Namensgebung - und mit deren Anführer Stephen Fritchman ihn Solidarität oder sogar Freundschaft verband. Einmal hielt Thomas Mann in der Kirche eine Kanzelrede.
Theologisch sind es ziemlich dünne, um nicht zu sagen regelrechte Bettelsuppen, die der Unitarismus bot. Heinrich Detering behandelt sie mit erkennbarer Sympathie; wenn etwas seinem an sich wichtigen Buch schadet, dann ist es das Einschwenken auf diese typisch amerikanisch-protestantische Weisheit, deren Entwicklungsgeschichte aber wiederum sehr kenntnisreich geschildert wird. In kurzem lässt sie sich so zusammenfassen: Mit der Unabhängigkeitserklärung wollten manche Geister des neunzehnten Jahrhunderts, etwa Ralph Waldo Emerson oder Walt Whitman, auch eine spirituelle Unabhängigkeitserklärung verbunden wissen. Im Vorwort zu seiner Gedichtsammlung "Grashalme" hatte Whitman verkündet: "There will soon be no more priests." In diesem geistigen Klima wurde die Gedankenwelt des Arianismus wieder wach, einer antiken Häresie: Danach war Jesus ein großer Mensch und eine große Seele, ein Prophet und Lehrer, eine weltgeschichtliche Lichtgestalt - aber nicht mehr, nicht das, was die Kirchen aus ihm gemacht hatten.
Dieser eher vagen Gedankenwelt gab die "Unitarische Kirche" ihre verfasste Form. Eine dogmenfreie Religion entstand. Ob man sie überhaupt noch "Religion" nennen mag, mit ihrer starken Akzentuierung von Humanität, Welt-Zukunft und säkular-praktischen, sozialen Anliegen, sei dahingestellt. Wir wissen, dass in den Vereinigten Staaten vieles unter dem Namen "Kirche" firmieren kann. Jedenfalls war diese Gruppierung offen für alle, Christen, Buddhisten, Agnostiker, Juden (vornehmlich allerdings, und da kommt der Pferdefuß des aufgeklärten Philosemitismus, für jene, die von dem "archaic life style of organized Judaism" enttäuscht seien).
Was Thomas Mann an dieser Gruppierung anzog, war einerseits ihr praktisches Engagement für Menschen wie seinen Bruder Heinrich, die aus Europa hatten fliehen müssen. Vor allem aber: Er glaubte, hier und nur hier die Einheit von politischem und spirituellem Bekenntnis zur Demokratie gefunden zu haben. Die Demokratie aber war ihm die "Forderung des Tages". Und so, wie der Joseph seines Romanzyklus im dritten Band zum Sozialpolitiker à la Roosevelt wurde, Biblisches und Aktuelles aus dem "New Deal" zu einer eigenartigen Demokratie-Religion verschmolzen, so lehrten es auch die Unitarier. Sehen wir aber wirklich eine Überwindung der ästhetizistischen Privatreligionen der deutschen Jahrhundertwende, des George- und Wagner-Kultes, und nicht vielmehr ihr neues Umkippen in eine weitere, nur diesmal aufklärerisch und humanistisch geprägte intellektuelle Sonderreligion?
Es kommt eine weitere politische Frage hinzu. Etwa zwischen dem spanischen Bürgerkrieg und dem Jahr 1946 gab es in Amerika eine mächtige, nach dem Kriegseintritt 1941 noch verstärkte Tendenz nicht nur zur pragmatischen Zusammenarbeit mit Stalins Sowjetunion. Sondern es gab darüber hinaus eine Art Kurzzeit-Utopie der "One world" als des eigentlichen Kriegsziels, in der sich die Rooseveltsche Linke mit den Kommunisten und ihren Sympathisanten treffen konnte. Genau hier ist der Ort der Unitarischen Kirche, die solchen Träumen einen spirituellen Überbau gab. Das amerikanische Standardwerk von Charles W. Eddis über den Kirchenchef, "Stephen Fritchman: The American Unitarians and Communism - A History with Documents", fand ich aber bei Detering nirgends erwähnt. Die Kommunistenjagd des Senators Joseph McCarthy, die einer ganzen Ära den Namen gab, war maßlos, und daran scheiterte sie am Ende. Es gilt aber darum noch nicht der Umkehrschluss, dass alle damals Beschuldigten lupenreine Liberale gewesen seien.
Die Zeitschrift "Life" druckte im April 1949 steckbriefartige Porträts von Kommunistenfreunden ab, unter ihnen Fritchman. Heinrich Detering versieht die Abbildung mit dem entschärfenden Kommentar "vorgeblich". Die Liste, so meint er, lese sich wie ein Who's who des "liberalen Amerika". So kann man nur schreiben, wenn man entschlossen ist, die Tatsachen zu ignorieren. Wenn es je eine gebildete Stalinistin gab, dann war es Lilian Hellman, die sich auf der Liste findet, bei manchen anderen reicht ein Minimum von Recherche, um sie unter den Anhängern der amerikanisch-sowjetischen Freundschaft oder anderer Tarnorganisationen zu finden. Thomas Mann hatte das törichte Wort vom Antikommunismus als der "Grundtorheit" der Epoche geprägt. Auch darin war er mit der Unitarischen Kirche eines Glaubens.
LORENZ JÄGER
Heinrich Detering: "Thomas Manns amerikanische Religion".
Mit einem Essay von Frido Mann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 352 S., geb., 18,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main