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Franz Schuster befasst sich mit Thüringens Rosskur während der Übergangsphase von der Planwirtschaft der SED-Diktatur zur Marktwirtschaft der Bundesrepublik aus der Perspektive eines einst zuständigen Ministers.
Von Joachim Scholtyseck
Wenn ehemalige Politiker eine "Bilanz" ziehen, ist in der Regel Vorsicht geboten. Allzu oft geht es um Selbstbeweihräucherung, und ein anschließender Faktencheck fällt häufig ernüchternd aus. Im vorliegenden Fall ist das anders. Franz Schuster, thüringischer Innenminister von 1992 bis 1994 und anschließend bis 2003 Wirtschaftsminister, hat eine überzeugende Geschichte des schwierigen und teilweise abenteuerlichen Übergangs von der sozialistischen Planwirtschaft der DDR zur Sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik vorgelegt. Die Voraussetzungen waren alles andere als günstig. Schon im "Dritten Reich" war das freie Spiel der Marktkräfte durch eine gelenkte Wirtschaft ausgehebelt worden. Wie sollte nach 1990 der Transformationsprozess einer Ökonomie gelingen, der marktwirtschaftliche Mechanismen zutiefst fremd waren?
Schuster hält sich nicht lange mit Erklärungen für die desolate Ausgangssituation nach jahrzehntelanger Misswirtschaft der SED-Diktatur auf. Die noch von der DDR-Regierung eingesetzte Treuhandanstalt, in manchen populären beziehungsweise populistischen Darstellungen der Bösewicht par excellence, wird unpathetisch als notwendige Einrichtung geschildert, die für die praktische Aufbauarbeit unverzichtbar war. Von einem "Ausverkauf" der DDR an westdeutsche Investoren konnte keine Rede sein. Wer hätte sonst die völlig maroden Fabriken übernehmen sollen? Gerhard Schürer, der oberste DDR-Wirtschaftstechnokrat und Leiter der "Staatlichen Plankommission" hat 1996 rückblickend gnadenlos auf die wirklichen Verhältnisse vor 1989 aufmerksam gemacht. Die Mittel für die Modernisierung und Rekonstruktion der Betriebe hatten "vorne und hinten" nicht ausgereicht. Die ökonomischen "Paradepferde" der DDR, die Mikroelektronik, die Atomenergie, die Chemie sowie die Veredelungsmetallurgie hatten alles aufgesaugt, und selbst dort war die Technik zum Teil hoffnungslos veraltet. Das war allerdings im Westen nach dem Fall der Mauer ebenso wenig bekannt wie das Ausmaß der ostdeutschen Staatsverschuldung. Die Umstellung der Währung im Verhältnis von 1:1 war für die Menschen in den neuen Ländern zwar auf den ersten Blick vorteilhaft, aber für die nicht wettbewerbsfähige Hinterlassenschaft der DDR-Wirtschaft kam sie einem Genickbruch gleich.
Die westdeutschen Experten, vornehmlich aus dem Bundesfinanzministerium, waren fortan auch in Thüringen tätig, ohne dass zunächst bekannt war, wie viel Zeit die Privatisierung der heruntergekommenen Staatsbetriebe kosten würde. Das Motto lautete: zuerst privatisieren, entschlossen sanieren, wo es möglich ist und nur dort abwickeln, wo es keine andere Lösung gibt. Wenn die neuen Länder am deutschen Export teilhaben wollten, mussten sie international wettbewerbsfähig gemacht werden. Schuster beschreibt diese Herkulesarbeit nüchtern, weist aber auch auf die enormen Schwierigkeiten hin. Die "emotionale Bindung" vieler Mitarbeiter an ihre Betriebe und Kombinate, in denen sie teilweise Jahrzehnte gearbeitet hatten, war wesentlich höher als im Westen. Umso größer war der Argwohn, dass es den Privatisierern um ein "Verramschen" und den Ausverkauf ging.
In Thüringen war einer der dicksten Brocken das Kalikombinat, das in einem Dutzend Werke rund 24000 Menschen beschäftigte. Einige Schächte wurden aus dem Verbund herausgelöst und in Aktiengesellschaften umgewandelt, andere zu Deponiezwecken weiterbetrieben. Vor allem die Schließung des Kaliwerks in Bischofferode führte zu Ärger. Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) protestierte im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt vergeblich gegen die - betriebswirtschaftlich erforderliche - Stilllegung. Unterstützung fand er weder im Bund noch in den angrenzenden Ländern, in denen selbst die Gewerkschaften nur verhalten protestierten, weil das Gesamtkonzept der Treuhand die lokalen Kaliwerke in ihrer Gegend schützte. In Thüringen wurden die Regionen Jena und Eisenach zu Entwicklungsschwerpunkten. In Jena wurde aus dem VEB Carl Zeiss Jena die Jenoptik Carl Zeiss GmbH mit 30000 Beschäftigten in dreizehn Betrieben, die mit einer milliardenschweren Anschubfinanzierung aufs Gleis gesetzt wurde - eine Erfolgsgeschichte, auch wenn das meiste Geld zunächst zur Ablösung von Altschulden und für die Absicherung von Sozialplänen verwendet werden musste.
Die von vielen geforderte Erhaltung des Automobilwerks Eisenach, welches den Wartburg herstellte, wurde hingegen mangels potenter Investoren nicht weiterverfolgt. Stattdessen wurde eine neue Fabrik gebaut und in Nord- und Südthüringen zahlreiche Zulieferer angesiedelt - die Basis des "Automobilclusters", das heute in der Region zu einem Vorzeigeprodukt geworden ist. Billig war das nicht: Als die Treuhandarbeit 1994 ihre Arbeit beendete, waren rund 8000 Staatsbetriebe privatisiert, aber in den Büchern stand ein sattes Defizit von 250 Milliarden DM.
Ist das Buch von Schuster also ein Beleg dafür, dass in Thüringen die versprochenen "blühenden Landschaften" entstanden sind? Nicht ganz. Schuster verschweigt nicht, dass zum Beispiel die Umwandlung des VEB-Kombinats Technisches Glas Ilmenau mit rund 12000 Mitarbeitern aufgrund einer ungeeigneten Privatisierungsstrategie "als Misserfolg einzuordnen" ist. Etwas unterbelichtet bleibt, dass in der Goldgräberstimmung der Jahre nach 1990 manche Betriebe an westdeutsche Unternehmer verscherbelt wurden, weil die Ostdeutschen in der Regel keine Großprojekte finanzieren konnten. Wahrscheinlich war die Entwicklung, die einer Rosskur gleichkam, tatsächlich alternativlos. Aber man hätte die damit bisweilen verbundene Tragik durchaus stärker betonen dürfen.
Franz Schuster: "Thüringens Weg in die Soziale Marktwirtschaft". Privatisierung, Sanierung, Aufbau. Eine Bilanz nach 25 Jahren.
Böhlau Verlag, Köln 2015. 263 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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