Aghet - Katastrophe - so nennen die Armenier jene grauenvollen Ereignisse, die im Frühjahr 1915 begannen. Sie sind als der erste Genozid des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingegangen. Rolf Hosfeld, Deutschlands bester Kenner der Ereignisse, schildert eindringlich und historisch genau den Völkermord an den Armeniern, erläutert die Hintergründe und klärt auf über ein Thema, das immer noch zu den Tabus der Geschichtsschreibung gehört. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit werden im Frühjahr und Sommer 1915 - mitten im Ersten Weltkrieg - die osmanischen Armenier von der Regierung in einer Weise selektiert und zusammengetrieben, die unübersehbar "den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten". So kabelt es der deutsche Botschafter in Konstantinopel im Juli 1915 nach Berlin. Zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Menschen (die Schätzungen schwanken) sterben, viele von ihnen, Männer, Frauen und Kinder, weil man sie in die Wüste deportiert und dort verdursten lässt. Rolf Hosfeld hat den Opfern dieses Völkermords, der von der Türkei bis heute bestritten wird, mit seinem Buch ein erschütterndes Denkmal gesetzt.
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Rücksicht auf Kriegsinteressen
Das deutsche Kaiserreich und der armenische Genozid im Jahr 1915
Ausgerechnet Max von Scheubner-Richter fand früh die präzise Kategorie für das Geschehen: "Rassenhass" nannte er, was die türkische Armee zum hunderttausendfachen Mord an den christlichen Armeniern trieb. Ausgerechnet Scheubner-Richter, der wenige Jahre später in München zu der vom Rassenhass getriebenen radikalen Minipartei des Adolf Hitler stieß, diesem Geldquellen aus der Wirtschaft erschloss, ihm am 9. November 1923 das Leben rettete und dabei das eigene verlor. Als Vizekonsul in Erzerum gehörte Scheubner seit April 1915 zu den deutschen Zeugen der Vertreibungen, der Massaker, der Ausrottung eines ganzen türkischen Volksteiles. Seine Einschätzung vom Rassenhass liest man in einer dem "Völkermord an den Armeniern" gewidmeten Darstellung von Rolf Hosfeld, dem Leiter des Lepsius-Hauses in Potsdam. Das Buch basiert auf zahlreichen früheren wissenschaftlichen Publikationen und Vorträgen. Aber er hat auch die neuesten Forschungen, Editionen und Archivquellen berücksichtigt. Der Autor fasst aktuelles Wissen auf hohem erzählerischen Niveau zusammen. Sein Buch liest sich leicht, die Geschichte wird kompakt und dicht geschildert, eine vorzügliche Gesamtdarstellung, ein Sachbuch in lektürefreundlichem Umfang, gleichzeitig historiographisch auf der Höhe der Zeit.
Die Armenier nennen das genozidale Geschehen heute Aghet, "Katastrophe". So ist auch das erste Kapitel der Darstellung von Rolf Hosfeld überschrieben. Der armenische Genozid von 1915 forderte wohl über eine Million Menschenleben. Beginnend mit den städtischen Intellektuellen und sehr rasch auf die armenische Landbevölkerung im Osten der Türkei ausgreifend, vollzog sich der Massenmord in spontanen Massakern und organisierten Hungermärschen. Dabei wurden die tödlichen Maßnahmen auch auf andere christliche, griechische sowie syrische Gruppen ausgedehnt.
Die Motive für das türkische Vorgehen müssen im übersteigerten Nationalismus gesehen werden, der sich einen türkischen Kernbereich des osmanischen Vielvölkerstaats in relativer ethnischer Homogenität zu gestalten suchte. Gegen eine forcierte Politik der Turkisierung war bei den Armeniern der Wunsch nach Autonomie durchaus vorhanden, den aber nur eine Minderheit aktiv durchzusetzen strebte. Verschiedene Quellen deuten zwar auf eine Sympathie der armenischen Bevölkerung mit den Kriegsgegnern der Türken hin, was angesichts ihrer unterdrückten Lage nicht verwundert. Aber einen gesamtarmenischen Aufstand gab es, trotz gegenteiliger Erwartungen in Konstantinopel, Wien und Berlin, nicht. Räumlich isoliert, durch Kultur und Religion als Minderheit gekennzeichnet, dem ökonomischen Neid der Mehrheit ausgesetzt und vor allem wegen des Krieges nicht durch äußere Abschreckung geschützt, stellte der armenische Bevölkerungsteil ein leichtes Ziel dar. Hosfeld zeigt, wie sich die geheimen Beschlüsse des jungtürkischen Komitees für Vereinigung und Fortschritt zum Massenmord radikalisierten, den man alles andere als im Geheimen vollstreckte. Was geschah, zeichnet der Autor im Detail nach.
Weil die Türkei im Ersten Weltkrieg an der Seite der Deutschen kämpfte, waren die Zeugen des "Todes in der Wüste" hauptsächlich Deutsche: Soldaten und Diplomaten, Missionare und Rot-Kreuz-Schwestern, Beamte und Eisenbahningenieure der Bagdadbahn. Sie haben versucht, ihre Vorgesetzten in Deutschland und die Öffentlichkeit zu alarmieren. Heute sind ihre Zeugenberichte die wichtigsten Quellen für die Vertreibungen und Morde. Hosfeld schöpft hieraus in großem Maße für seine Darstellung. Ihm liegt es dabei fern, aus den Zeugen des Geschehens Komplizen der Tat zu konstruieren, wie dies aktuell häufig geschieht. Aber er beschönigt auch nichts. In Berlin hatte man sich von der türkischen Furcht vor einem - den militärischen Erfolg gefährdenden - gesamtarmenischen Aufstand anstecken lassen wollen. Von der Existenzbedrohung des Osmanischen Reichs ausgehend, war das Verhalten konsequent. Die schlimmsten Greuel wurden zwar abgelehnt, aber ein Bruch mit den Türken sollte vermieden werden. Ein wegen der wirtschaftlichen Abhängigkeit durchaus möglicher Druck unterblieb mit Rücksicht auf die deutschen Kriegsinteressen. Hosfeld berichtet, wie der deutschen Presse die Berichterstattung über Armenien verboten wurde. Amtliche Kritik am türkischen Vorgehen kam daher nur aus der deutschen Botschaft in Konstantinopel, nicht direkt aus Berlin. Die Diplomaten in der Türkei positionierten sich eindeutig. Unabhängig von der offiziellen Politik ihrer Metropolen und von dort nicht behindert, gab es zahlreiche Hilfsaktionen von Deutschen, Österreichern und Ungarn vor Ort. Doch ohne wirklichen Druck auf die Führung in Konstantinopel war durch solche Einzelaktionen der massenhafte Tod der Armenier nicht zu verhindern. Diesen Druck hätten in der gegebenen Situation nur die ausreichend informierten Bündnispartner ausüben können. Er unterblieb aus bündnispolitischen sowie militärischen Motiven und nicht, weil man sich von ihm keine Wirkung versprach.
Der türkische Kriegsminister Taalat Bey wurde 1921 nahe dem Bahnhof Zoo in Berlin erschossen. Hosfeld schildert anhand der juristischen Rezeption des Mordprozesses die frühen Anfänge eines internationalen Rechts zur Ahndung von Völkermord. Das ist für ein sehr gelungenes Buch über schrecklichste Ereignisse ein unerwarteter Abschluss, der zum Nachdenken über den seither erreichten juristischen Fortschritt anregt.
MARTIN KRÖGER
Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern. C. H. Beck Verlag, München 2015. 288 S., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das deutsche Kaiserreich und der armenische Genozid im Jahr 1915
Ausgerechnet Max von Scheubner-Richter fand früh die präzise Kategorie für das Geschehen: "Rassenhass" nannte er, was die türkische Armee zum hunderttausendfachen Mord an den christlichen Armeniern trieb. Ausgerechnet Scheubner-Richter, der wenige Jahre später in München zu der vom Rassenhass getriebenen radikalen Minipartei des Adolf Hitler stieß, diesem Geldquellen aus der Wirtschaft erschloss, ihm am 9. November 1923 das Leben rettete und dabei das eigene verlor. Als Vizekonsul in Erzerum gehörte Scheubner seit April 1915 zu den deutschen Zeugen der Vertreibungen, der Massaker, der Ausrottung eines ganzen türkischen Volksteiles. Seine Einschätzung vom Rassenhass liest man in einer dem "Völkermord an den Armeniern" gewidmeten Darstellung von Rolf Hosfeld, dem Leiter des Lepsius-Hauses in Potsdam. Das Buch basiert auf zahlreichen früheren wissenschaftlichen Publikationen und Vorträgen. Aber er hat auch die neuesten Forschungen, Editionen und Archivquellen berücksichtigt. Der Autor fasst aktuelles Wissen auf hohem erzählerischen Niveau zusammen. Sein Buch liest sich leicht, die Geschichte wird kompakt und dicht geschildert, eine vorzügliche Gesamtdarstellung, ein Sachbuch in lektürefreundlichem Umfang, gleichzeitig historiographisch auf der Höhe der Zeit.
Die Armenier nennen das genozidale Geschehen heute Aghet, "Katastrophe". So ist auch das erste Kapitel der Darstellung von Rolf Hosfeld überschrieben. Der armenische Genozid von 1915 forderte wohl über eine Million Menschenleben. Beginnend mit den städtischen Intellektuellen und sehr rasch auf die armenische Landbevölkerung im Osten der Türkei ausgreifend, vollzog sich der Massenmord in spontanen Massakern und organisierten Hungermärschen. Dabei wurden die tödlichen Maßnahmen auch auf andere christliche, griechische sowie syrische Gruppen ausgedehnt.
Die Motive für das türkische Vorgehen müssen im übersteigerten Nationalismus gesehen werden, der sich einen türkischen Kernbereich des osmanischen Vielvölkerstaats in relativer ethnischer Homogenität zu gestalten suchte. Gegen eine forcierte Politik der Turkisierung war bei den Armeniern der Wunsch nach Autonomie durchaus vorhanden, den aber nur eine Minderheit aktiv durchzusetzen strebte. Verschiedene Quellen deuten zwar auf eine Sympathie der armenischen Bevölkerung mit den Kriegsgegnern der Türken hin, was angesichts ihrer unterdrückten Lage nicht verwundert. Aber einen gesamtarmenischen Aufstand gab es, trotz gegenteiliger Erwartungen in Konstantinopel, Wien und Berlin, nicht. Räumlich isoliert, durch Kultur und Religion als Minderheit gekennzeichnet, dem ökonomischen Neid der Mehrheit ausgesetzt und vor allem wegen des Krieges nicht durch äußere Abschreckung geschützt, stellte der armenische Bevölkerungsteil ein leichtes Ziel dar. Hosfeld zeigt, wie sich die geheimen Beschlüsse des jungtürkischen Komitees für Vereinigung und Fortschritt zum Massenmord radikalisierten, den man alles andere als im Geheimen vollstreckte. Was geschah, zeichnet der Autor im Detail nach.
Weil die Türkei im Ersten Weltkrieg an der Seite der Deutschen kämpfte, waren die Zeugen des "Todes in der Wüste" hauptsächlich Deutsche: Soldaten und Diplomaten, Missionare und Rot-Kreuz-Schwestern, Beamte und Eisenbahningenieure der Bagdadbahn. Sie haben versucht, ihre Vorgesetzten in Deutschland und die Öffentlichkeit zu alarmieren. Heute sind ihre Zeugenberichte die wichtigsten Quellen für die Vertreibungen und Morde. Hosfeld schöpft hieraus in großem Maße für seine Darstellung. Ihm liegt es dabei fern, aus den Zeugen des Geschehens Komplizen der Tat zu konstruieren, wie dies aktuell häufig geschieht. Aber er beschönigt auch nichts. In Berlin hatte man sich von der türkischen Furcht vor einem - den militärischen Erfolg gefährdenden - gesamtarmenischen Aufstand anstecken lassen wollen. Von der Existenzbedrohung des Osmanischen Reichs ausgehend, war das Verhalten konsequent. Die schlimmsten Greuel wurden zwar abgelehnt, aber ein Bruch mit den Türken sollte vermieden werden. Ein wegen der wirtschaftlichen Abhängigkeit durchaus möglicher Druck unterblieb mit Rücksicht auf die deutschen Kriegsinteressen. Hosfeld berichtet, wie der deutschen Presse die Berichterstattung über Armenien verboten wurde. Amtliche Kritik am türkischen Vorgehen kam daher nur aus der deutschen Botschaft in Konstantinopel, nicht direkt aus Berlin. Die Diplomaten in der Türkei positionierten sich eindeutig. Unabhängig von der offiziellen Politik ihrer Metropolen und von dort nicht behindert, gab es zahlreiche Hilfsaktionen von Deutschen, Österreichern und Ungarn vor Ort. Doch ohne wirklichen Druck auf die Führung in Konstantinopel war durch solche Einzelaktionen der massenhafte Tod der Armenier nicht zu verhindern. Diesen Druck hätten in der gegebenen Situation nur die ausreichend informierten Bündnispartner ausüben können. Er unterblieb aus bündnispolitischen sowie militärischen Motiven und nicht, weil man sich von ihm keine Wirkung versprach.
Der türkische Kriegsminister Taalat Bey wurde 1921 nahe dem Bahnhof Zoo in Berlin erschossen. Hosfeld schildert anhand der juristischen Rezeption des Mordprozesses die frühen Anfänge eines internationalen Rechts zur Ahndung von Völkermord. Das ist für ein sehr gelungenes Buch über schrecklichste Ereignisse ein unerwarteter Abschluss, der zum Nachdenken über den seither erreichten juristischen Fortschritt anregt.
MARTIN KRÖGER
Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern. C. H. Beck Verlag, München 2015. 288 S., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2015Rücksicht auf Kriegsinteressen
Das deutsche Kaiserreich und der armenische Genozid im Jahr 1915
Ausgerechnet Max von Scheubner-Richter fand früh die präzise Kategorie für das Geschehen: "Rassenhass" nannte er, was die türkische Armee zum hunderttausendfachen Mord an den christlichen Armeniern trieb. Ausgerechnet Scheubner-Richter, der wenige Jahre später in München zu der vom Rassenhass getriebenen radikalen Minipartei des Adolf Hitler stieß, diesem Geldquellen aus der Wirtschaft erschloss, ihm am 9. November 1923 das Leben rettete und dabei das eigene verlor. Als Vizekonsul in Erzerum gehörte Scheubner seit April 1915 zu den deutschen Zeugen der Vertreibungen, der Massaker, der Ausrottung eines ganzen türkischen Volksteiles. Seine Einschätzung vom Rassenhass liest man in einer dem "Völkermord an den Armeniern" gewidmeten Darstellung von Rolf Hosfeld, dem Leiter des Lepsius-Hauses in Potsdam. Das Buch basiert auf zahlreichen früheren wissenschaftlichen Publikationen und Vorträgen. Aber er hat auch die neuesten Forschungen, Editionen und Archivquellen berücksichtigt. Der Autor fasst aktuelles Wissen auf hohem erzählerischen Niveau zusammen. Sein Buch liest sich leicht, die Geschichte wird kompakt und dicht geschildert, eine vorzügliche Gesamtdarstellung, ein Sachbuch in lektürefreundlichem Umfang, gleichzeitig historiographisch auf der Höhe der Zeit.
Die Armenier nennen das genozidale Geschehen heute Aghet, "Katastrophe". So ist auch das erste Kapitel der Darstellung von Rolf Hosfeld überschrieben. Der armenische Genozid von 1915 forderte wohl über eine Million Menschenleben. Beginnend mit den städtischen Intellektuellen und sehr rasch auf die armenische Landbevölkerung im Osten der Türkei ausgreifend, vollzog sich der Massenmord in spontanen Massakern und organisierten Hungermärschen. Dabei wurden die tödlichen Maßnahmen auch auf andere christliche, griechische sowie syrische Gruppen ausgedehnt.
Die Motive für das türkische Vorgehen müssen im übersteigerten Nationalismus gesehen werden, der sich einen türkischen Kernbereich des osmanischen Vielvölkerstaats in relativer ethnischer Homogenität zu gestalten suchte. Gegen eine forcierte Politik der Turkisierung war bei den Armeniern der Wunsch nach Autonomie durchaus vorhanden, den aber nur eine Minderheit aktiv durchzusetzen strebte. Verschiedene Quellen deuten zwar auf eine Sympathie der armenischen Bevölkerung mit den Kriegsgegnern der Türken hin, was angesichts ihrer unterdrückten Lage nicht verwundert. Aber einen gesamtarmenischen Aufstand gab es, trotz gegenteiliger Erwartungen in Konstantinopel, Wien und Berlin, nicht. Räumlich isoliert, durch Kultur und Religion als Minderheit gekennzeichnet, dem ökonomischen Neid der Mehrheit ausgesetzt und vor allem wegen des Krieges nicht durch äußere Abschreckung geschützt, stellte der armenische Bevölkerungsteil ein leichtes Ziel dar. Hosfeld zeigt, wie sich die geheimen Beschlüsse des jungtürkischen Komitees für Vereinigung und Fortschritt zum Massenmord radikalisierten, den man alles andere als im Geheimen vollstreckte. Was geschah, zeichnet der Autor im Detail nach.
Weil die Türkei im Ersten Weltkrieg an der Seite der Deutschen kämpfte, waren die Zeugen des "Todes in der Wüste" hauptsächlich Deutsche: Soldaten und Diplomaten, Missionare und Rot-Kreuz-Schwestern, Beamte und Eisenbahningenieure der Bagdadbahn. Sie haben versucht, ihre Vorgesetzten in Deutschland und die Öffentlichkeit zu alarmieren. Heute sind ihre Zeugenberichte die wichtigsten Quellen für die Vertreibungen und Morde. Hosfeld schöpft hieraus in großem Maße für seine Darstellung. Ihm liegt es dabei fern, aus den Zeugen des Geschehens Komplizen der Tat zu konstruieren, wie dies aktuell häufig geschieht. Aber er beschönigt auch nichts. In Berlin hatte man sich von der türkischen Furcht vor einem - den militärischen Erfolg gefährdenden - gesamtarmenischen Aufstand anstecken lassen wollen. Von der Existenzbedrohung des Osmanischen Reichs ausgehend, war das Verhalten konsequent. Die schlimmsten Greuel wurden zwar abgelehnt, aber ein Bruch mit den Türken sollte vermieden werden. Ein wegen der wirtschaftlichen Abhängigkeit durchaus möglicher Druck unterblieb mit Rücksicht auf die deutschen Kriegsinteressen. Hosfeld berichtet, wie der deutschen Presse die Berichterstattung über Armenien verboten wurde. Amtliche Kritik am türkischen Vorgehen kam daher nur aus der deutschen Botschaft in Konstantinopel, nicht direkt aus Berlin. Die Diplomaten in der Türkei positionierten sich eindeutig. Unabhängig von der offiziellen Politik ihrer Metropolen und von dort nicht behindert, gab es zahlreiche Hilfsaktionen von Deutschen, Österreichern und Ungarn vor Ort. Doch ohne wirklichen Druck auf die Führung in Konstantinopel war durch solche Einzelaktionen der massenhafte Tod der Armenier nicht zu verhindern. Diesen Druck hätten in der gegebenen Situation nur die ausreichend informierten Bündnispartner ausüben können. Er unterblieb aus bündnispolitischen sowie militärischen Motiven und nicht, weil man sich von ihm keine Wirkung versprach.
Der türkische Kriegsminister Taalat Bey wurde 1921 nahe dem Bahnhof Zoo in Berlin erschossen. Hosfeld schildert anhand der juristischen Rezeption des Mordprozesses die frühen Anfänge eines internationalen Rechts zur Ahndung von Völkermord. Das ist für ein sehr gelungenes Buch über schrecklichste Ereignisse ein unerwarteter Abschluss, der zum Nachdenken über den seither erreichten juristischen Fortschritt anregt.
MARTIN KRÖGER
Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern. C. H. Beck Verlag, München 2015. 288 S., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das deutsche Kaiserreich und der armenische Genozid im Jahr 1915
Ausgerechnet Max von Scheubner-Richter fand früh die präzise Kategorie für das Geschehen: "Rassenhass" nannte er, was die türkische Armee zum hunderttausendfachen Mord an den christlichen Armeniern trieb. Ausgerechnet Scheubner-Richter, der wenige Jahre später in München zu der vom Rassenhass getriebenen radikalen Minipartei des Adolf Hitler stieß, diesem Geldquellen aus der Wirtschaft erschloss, ihm am 9. November 1923 das Leben rettete und dabei das eigene verlor. Als Vizekonsul in Erzerum gehörte Scheubner seit April 1915 zu den deutschen Zeugen der Vertreibungen, der Massaker, der Ausrottung eines ganzen türkischen Volksteiles. Seine Einschätzung vom Rassenhass liest man in einer dem "Völkermord an den Armeniern" gewidmeten Darstellung von Rolf Hosfeld, dem Leiter des Lepsius-Hauses in Potsdam. Das Buch basiert auf zahlreichen früheren wissenschaftlichen Publikationen und Vorträgen. Aber er hat auch die neuesten Forschungen, Editionen und Archivquellen berücksichtigt. Der Autor fasst aktuelles Wissen auf hohem erzählerischen Niveau zusammen. Sein Buch liest sich leicht, die Geschichte wird kompakt und dicht geschildert, eine vorzügliche Gesamtdarstellung, ein Sachbuch in lektürefreundlichem Umfang, gleichzeitig historiographisch auf der Höhe der Zeit.
Die Armenier nennen das genozidale Geschehen heute Aghet, "Katastrophe". So ist auch das erste Kapitel der Darstellung von Rolf Hosfeld überschrieben. Der armenische Genozid von 1915 forderte wohl über eine Million Menschenleben. Beginnend mit den städtischen Intellektuellen und sehr rasch auf die armenische Landbevölkerung im Osten der Türkei ausgreifend, vollzog sich der Massenmord in spontanen Massakern und organisierten Hungermärschen. Dabei wurden die tödlichen Maßnahmen auch auf andere christliche, griechische sowie syrische Gruppen ausgedehnt.
Die Motive für das türkische Vorgehen müssen im übersteigerten Nationalismus gesehen werden, der sich einen türkischen Kernbereich des osmanischen Vielvölkerstaats in relativer ethnischer Homogenität zu gestalten suchte. Gegen eine forcierte Politik der Turkisierung war bei den Armeniern der Wunsch nach Autonomie durchaus vorhanden, den aber nur eine Minderheit aktiv durchzusetzen strebte. Verschiedene Quellen deuten zwar auf eine Sympathie der armenischen Bevölkerung mit den Kriegsgegnern der Türken hin, was angesichts ihrer unterdrückten Lage nicht verwundert. Aber einen gesamtarmenischen Aufstand gab es, trotz gegenteiliger Erwartungen in Konstantinopel, Wien und Berlin, nicht. Räumlich isoliert, durch Kultur und Religion als Minderheit gekennzeichnet, dem ökonomischen Neid der Mehrheit ausgesetzt und vor allem wegen des Krieges nicht durch äußere Abschreckung geschützt, stellte der armenische Bevölkerungsteil ein leichtes Ziel dar. Hosfeld zeigt, wie sich die geheimen Beschlüsse des jungtürkischen Komitees für Vereinigung und Fortschritt zum Massenmord radikalisierten, den man alles andere als im Geheimen vollstreckte. Was geschah, zeichnet der Autor im Detail nach.
Weil die Türkei im Ersten Weltkrieg an der Seite der Deutschen kämpfte, waren die Zeugen des "Todes in der Wüste" hauptsächlich Deutsche: Soldaten und Diplomaten, Missionare und Rot-Kreuz-Schwestern, Beamte und Eisenbahningenieure der Bagdadbahn. Sie haben versucht, ihre Vorgesetzten in Deutschland und die Öffentlichkeit zu alarmieren. Heute sind ihre Zeugenberichte die wichtigsten Quellen für die Vertreibungen und Morde. Hosfeld schöpft hieraus in großem Maße für seine Darstellung. Ihm liegt es dabei fern, aus den Zeugen des Geschehens Komplizen der Tat zu konstruieren, wie dies aktuell häufig geschieht. Aber er beschönigt auch nichts. In Berlin hatte man sich von der türkischen Furcht vor einem - den militärischen Erfolg gefährdenden - gesamtarmenischen Aufstand anstecken lassen wollen. Von der Existenzbedrohung des Osmanischen Reichs ausgehend, war das Verhalten konsequent. Die schlimmsten Greuel wurden zwar abgelehnt, aber ein Bruch mit den Türken sollte vermieden werden. Ein wegen der wirtschaftlichen Abhängigkeit durchaus möglicher Druck unterblieb mit Rücksicht auf die deutschen Kriegsinteressen. Hosfeld berichtet, wie der deutschen Presse die Berichterstattung über Armenien verboten wurde. Amtliche Kritik am türkischen Vorgehen kam daher nur aus der deutschen Botschaft in Konstantinopel, nicht direkt aus Berlin. Die Diplomaten in der Türkei positionierten sich eindeutig. Unabhängig von der offiziellen Politik ihrer Metropolen und von dort nicht behindert, gab es zahlreiche Hilfsaktionen von Deutschen, Österreichern und Ungarn vor Ort. Doch ohne wirklichen Druck auf die Führung in Konstantinopel war durch solche Einzelaktionen der massenhafte Tod der Armenier nicht zu verhindern. Diesen Druck hätten in der gegebenen Situation nur die ausreichend informierten Bündnispartner ausüben können. Er unterblieb aus bündnispolitischen sowie militärischen Motiven und nicht, weil man sich von ihm keine Wirkung versprach.
Der türkische Kriegsminister Taalat Bey wurde 1921 nahe dem Bahnhof Zoo in Berlin erschossen. Hosfeld schildert anhand der juristischen Rezeption des Mordprozesses die frühen Anfänge eines internationalen Rechts zur Ahndung von Völkermord. Das ist für ein sehr gelungenes Buch über schrecklichste Ereignisse ein unerwarteter Abschluss, der zum Nachdenken über den seither erreichten juristischen Fortschritt anregt.
MARTIN KRÖGER
Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern. C. H. Beck Verlag, München 2015. 288 S., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.04.2015Opfer der kaiserlichen Interessen
Der Volksmord an den Armeniern wurde vom Deutschen Reich billigend in Kauf genommen:
Jürgen Gottschlich und Rolf Hosfeld schildern das totgeschwiegene Menschheitsverbrechen
VON LUDGER HEID
Nach einigem Hin und Her war es dem Deutschen Reich 1914 gelungen, das zögerliche Osmanische Reich in ein Militärbündnis zu bringen. Als sich der Angriff auf die russischen Truppen an der türkischen Ostfront zu einem militärischen Debakel auswuchs, wurden die Armenier, die man der Kollaboration mit den Russen zieh, von den deutschen Militärs in Übereinstimmung mit den Jungtürken als Risikofaktor definiert. Die Deutschen dachten an eine Deportation der Armenier. Die Türken machten daraus ein Vernichtungsprogramm.
Im späten Frühjahr 1915 begann die Deportation der armenischen Bevölkerung aus dem Osten Anatoliens. Ganze Ortschaften und Städte wurden zwangsweise geräumt und die Armenier auf langen Todesmärschen in den Süden Richtung syrische Wüste geschickt, eine ethnische Säuberung. Das Deutsche Reich ließ dies nicht nur geschehen, sondern die deutschen Verantwortlichen deckten es, nahmen die Mörder in Schutz und machten durch die Unterstützung ihrer türkischen Verbündeten den Volksmord letztlich erst möglich. Das imperiale Ziel der Deutschen war – Jürgen Gottschlich zufolge – wichtiger als das Sterben der Armenier.
Die Türken ängstigten sich vor einer scheinbar bevorzugten Stellung der Armenier auf Kosten der Muslime, die in eine Paranoia zur Rettung des Reichs, in „Phantasien einer letzten Möglichkeit präventiver Notwehr“ (Hosfeld) mündete. Innenminister Mehmet Talât machte gar kein Hehl aus den Vorgängen: Es sei die Absicht seiner Regierung, den Weltkrieg zu benutzen, „um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen aller Konfessionen – gründlich aufzuräumen, ohne durch diplomatische Interventionen des Auslands gestört zu werden“. Das war eine innenpolitische Radikalmaßnahme mit ausgesprochen apokalyptischer Komponente. Die Armenier wurden in eine Region vertrieben, die nicht mehr zum „türkischen“ Kernland gehörte, und so, schreibt Rolf Hosfeld, wurden sie „territorial“ aussortiert.
1916 intervenierte der deutsche Botschafter in Istanbul, Paul Wolff-Metternich zur Gracht, und forderte den Reichskanzler auf, der türkischen Regierung wegen der Armenienfrage zu drohen. Doch der Reichskanzler Bethmann Hollweg war nicht geneigt, seinem osmanischen Verbündeten in den Arm zu fallen. Er reagierte verärgert und notierte an den Rand des Dokuments: „Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während laufenden Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“ Bethmann Hollweg berief den Botschafter kurz darauf von seinem Posten ab.
Gesinnungsethisch motivierte Appelle deutscher Konsuln beeindruckten die Regierung in Berlin wenig. Im Gegenteil. Publizisten wurden von der kaiserlichen Pressezensur angehalten, die freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei nicht zu gefährden, sondern deren „Verwaltungsangelegenheiten“ nicht einmal zu prüfen. Deshalb sei es einstweilen „Pflicht“ zu schweigen. Und weiter: „Später, wenn direkte Angriffe wegen deutscher Mitschuld erfolgen sollten, muss man vorgeben, dass die Türken schwer von den Armeniern gereizt wurden.“
Noch ein weiterer in der Historiografie kaum beachteter Aspekt sollte nicht unerwähnt bleiben: die Politik der Zwangsislamisierung der armenischen Christen. Der Übertritt selbst war minutiös geregelt: Der Eingabe folgte die Genehmigung, dann die Namensänderung und schließlich die Beschneidung. Etwa 150 000 Armenier ließen sich zum Islam „bekehren“, um dem Tod oder der Deportation zu entgehen.
Mag sein, dass, wie Rolf Hosfeld konstatiert, unter den meisten deutschen Intellektuellen ein „dröhnendes Schweigen“ herrschte, für einige Parlamentarier gilt das jedoch nicht. Und es war weit mehr als ein „dem Geist eines marxistischen Historismus entsprungener Werterelativismus“, was Karl Liebknecht, Oskar Cohn oder Eduard Bernstein veranlasste, ihre Stimmen gegen die Türken und für die Armenier zu erheben, auch wenn ihr Appell letztendlich erfolglos blieb.
Friedrich Bronsart von Schellendorf, der als Generalstabschef das osmanische Feldheer führte, war wohl der unerbittlichste Feind der Armenier. Er ließ alle rassistischen Hemmungen fallen, als er ausführte: „Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit eines anderen Landes, in dem er sich aufhält, aufsaugt.“ Diesen Mann finden wir 1924 im faschistischen „Frontbann“ und 1925 als Führer des deutsch-völkischen „Tannenberg Bundes“ an der Seite Erich Ludendorffs wieder.
Indes musste man kein Uniformträger sein, um die Armenier den kaiserlichen Interessen zu opfern. Karl May schrieb in einer seiner Erzählungen: „Wo irgendeine Heimtücke, eine Verräterei geplant wird, da ist sicher die Habichtnase eines Armeniers im Spiel!“ An anderer Stelle unterstützte er indirekt die Massaker: „Der Türke handelt in Notwehr!“
Der Mord an den Armeniern im Jahr 1915 hat auch Adolf Hitler in seinen Mordfantasien angeregt: „So habe ich (. . . ) meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken.“ Wie Talât setzte Hitler auf das Vergessen: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Das sagte der Reichskanzler 1939, kurz bevor er den Befehl zum Überfall auf Polen gab.
Die Türkei drängt die Opfer bis in die Gegenwart in die Ecke und hält ihren Leugnungsdiskurs aufrecht: Die Nachfahren der Überlebenden müssen nicht nur die Last der Leidensgeschichte, sondern auch die Last der Leugnungen tragen.
Was Deutschlands Mitverantwortung am Armeniermord betrifft, ist allenfalls von einer „unrühmlichen Rolle des deutschen Kaiserreichs“ die Rede gewesen, wie es in einem Resolutionsentwurf des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 2005 euphemistisch heißt.
Wer die Türkei des Volksmords an den Armeniern bezichtigt, sollte nicht vergessen, dass auch Deutschland noch Nachholbedarf bei der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels hat. Wer im Detail mehr darüber erfahren möchte, der sollte die historische Reportage von Jürgen Gottschlich mit dem programmatischen Titel „Beihilfe zum Völkermord“ zur Hand nehmen.
Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern. C. H. Beck, 2015. 288 S., 22,95 Euro.
Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Ch. Links Verlag, 2015. 344 S., 19,90 Euro.
Der Autor ist Historiker und lebt in Duisburg.
Das Osmanische Reich wollte
mit den Christen in seinem
Land „gründlich“ aufräumen
„Wer redet heute noch von der
Vernichtung der Armenier?“,
fragte Adolf Hitler 1939
Sultan Abdülhamid II. (im roten Gewand) bespricht sich mit seinen religiösen Ratgebern. Die zeitgenössische Satire-Zeitschrift „L’assiette au beurre“ ließ ihn sagen: „Vierzig Schafe und hundert Kamele opfern – die armen Tiere. Könnte man nicht mit 2000 Armeniern dasselbe Resultat erzielen?“
Abb.: Rue des Archives / SZ-Photo
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Der Volksmord an den Armeniern wurde vom Deutschen Reich billigend in Kauf genommen:
Jürgen Gottschlich und Rolf Hosfeld schildern das totgeschwiegene Menschheitsverbrechen
VON LUDGER HEID
Nach einigem Hin und Her war es dem Deutschen Reich 1914 gelungen, das zögerliche Osmanische Reich in ein Militärbündnis zu bringen. Als sich der Angriff auf die russischen Truppen an der türkischen Ostfront zu einem militärischen Debakel auswuchs, wurden die Armenier, die man der Kollaboration mit den Russen zieh, von den deutschen Militärs in Übereinstimmung mit den Jungtürken als Risikofaktor definiert. Die Deutschen dachten an eine Deportation der Armenier. Die Türken machten daraus ein Vernichtungsprogramm.
Im späten Frühjahr 1915 begann die Deportation der armenischen Bevölkerung aus dem Osten Anatoliens. Ganze Ortschaften und Städte wurden zwangsweise geräumt und die Armenier auf langen Todesmärschen in den Süden Richtung syrische Wüste geschickt, eine ethnische Säuberung. Das Deutsche Reich ließ dies nicht nur geschehen, sondern die deutschen Verantwortlichen deckten es, nahmen die Mörder in Schutz und machten durch die Unterstützung ihrer türkischen Verbündeten den Volksmord letztlich erst möglich. Das imperiale Ziel der Deutschen war – Jürgen Gottschlich zufolge – wichtiger als das Sterben der Armenier.
Die Türken ängstigten sich vor einer scheinbar bevorzugten Stellung der Armenier auf Kosten der Muslime, die in eine Paranoia zur Rettung des Reichs, in „Phantasien einer letzten Möglichkeit präventiver Notwehr“ (Hosfeld) mündete. Innenminister Mehmet Talât machte gar kein Hehl aus den Vorgängen: Es sei die Absicht seiner Regierung, den Weltkrieg zu benutzen, „um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen aller Konfessionen – gründlich aufzuräumen, ohne durch diplomatische Interventionen des Auslands gestört zu werden“. Das war eine innenpolitische Radikalmaßnahme mit ausgesprochen apokalyptischer Komponente. Die Armenier wurden in eine Region vertrieben, die nicht mehr zum „türkischen“ Kernland gehörte, und so, schreibt Rolf Hosfeld, wurden sie „territorial“ aussortiert.
1916 intervenierte der deutsche Botschafter in Istanbul, Paul Wolff-Metternich zur Gracht, und forderte den Reichskanzler auf, der türkischen Regierung wegen der Armenienfrage zu drohen. Doch der Reichskanzler Bethmann Hollweg war nicht geneigt, seinem osmanischen Verbündeten in den Arm zu fallen. Er reagierte verärgert und notierte an den Rand des Dokuments: „Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während laufenden Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“ Bethmann Hollweg berief den Botschafter kurz darauf von seinem Posten ab.
Gesinnungsethisch motivierte Appelle deutscher Konsuln beeindruckten die Regierung in Berlin wenig. Im Gegenteil. Publizisten wurden von der kaiserlichen Pressezensur angehalten, die freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei nicht zu gefährden, sondern deren „Verwaltungsangelegenheiten“ nicht einmal zu prüfen. Deshalb sei es einstweilen „Pflicht“ zu schweigen. Und weiter: „Später, wenn direkte Angriffe wegen deutscher Mitschuld erfolgen sollten, muss man vorgeben, dass die Türken schwer von den Armeniern gereizt wurden.“
Noch ein weiterer in der Historiografie kaum beachteter Aspekt sollte nicht unerwähnt bleiben: die Politik der Zwangsislamisierung der armenischen Christen. Der Übertritt selbst war minutiös geregelt: Der Eingabe folgte die Genehmigung, dann die Namensänderung und schließlich die Beschneidung. Etwa 150 000 Armenier ließen sich zum Islam „bekehren“, um dem Tod oder der Deportation zu entgehen.
Mag sein, dass, wie Rolf Hosfeld konstatiert, unter den meisten deutschen Intellektuellen ein „dröhnendes Schweigen“ herrschte, für einige Parlamentarier gilt das jedoch nicht. Und es war weit mehr als ein „dem Geist eines marxistischen Historismus entsprungener Werterelativismus“, was Karl Liebknecht, Oskar Cohn oder Eduard Bernstein veranlasste, ihre Stimmen gegen die Türken und für die Armenier zu erheben, auch wenn ihr Appell letztendlich erfolglos blieb.
Friedrich Bronsart von Schellendorf, der als Generalstabschef das osmanische Feldheer führte, war wohl der unerbittlichste Feind der Armenier. Er ließ alle rassistischen Hemmungen fallen, als er ausführte: „Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit eines anderen Landes, in dem er sich aufhält, aufsaugt.“ Diesen Mann finden wir 1924 im faschistischen „Frontbann“ und 1925 als Führer des deutsch-völkischen „Tannenberg Bundes“ an der Seite Erich Ludendorffs wieder.
Indes musste man kein Uniformträger sein, um die Armenier den kaiserlichen Interessen zu opfern. Karl May schrieb in einer seiner Erzählungen: „Wo irgendeine Heimtücke, eine Verräterei geplant wird, da ist sicher die Habichtnase eines Armeniers im Spiel!“ An anderer Stelle unterstützte er indirekt die Massaker: „Der Türke handelt in Notwehr!“
Der Mord an den Armeniern im Jahr 1915 hat auch Adolf Hitler in seinen Mordfantasien angeregt: „So habe ich (. . . ) meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken.“ Wie Talât setzte Hitler auf das Vergessen: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Das sagte der Reichskanzler 1939, kurz bevor er den Befehl zum Überfall auf Polen gab.
Die Türkei drängt die Opfer bis in die Gegenwart in die Ecke und hält ihren Leugnungsdiskurs aufrecht: Die Nachfahren der Überlebenden müssen nicht nur die Last der Leidensgeschichte, sondern auch die Last der Leugnungen tragen.
Was Deutschlands Mitverantwortung am Armeniermord betrifft, ist allenfalls von einer „unrühmlichen Rolle des deutschen Kaiserreichs“ die Rede gewesen, wie es in einem Resolutionsentwurf des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 2005 euphemistisch heißt.
Wer die Türkei des Volksmords an den Armeniern bezichtigt, sollte nicht vergessen, dass auch Deutschland noch Nachholbedarf bei der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels hat. Wer im Detail mehr darüber erfahren möchte, der sollte die historische Reportage von Jürgen Gottschlich mit dem programmatischen Titel „Beihilfe zum Völkermord“ zur Hand nehmen.
Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern. C. H. Beck, 2015. 288 S., 22,95 Euro.
Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Ch. Links Verlag, 2015. 344 S., 19,90 Euro.
Der Autor ist Historiker und lebt in Duisburg.
Das Osmanische Reich wollte
mit den Christen in seinem
Land „gründlich“ aufräumen
„Wer redet heute noch von der
Vernichtung der Armenier?“,
fragte Adolf Hitler 1939
Sultan Abdülhamid II. (im roten Gewand) bespricht sich mit seinen religiösen Ratgebern. Die zeitgenössische Satire-Zeitschrift „L’assiette au beurre“ ließ ihn sagen: „Vierzig Schafe und hundert Kamele opfern – die armen Tiere. Könnte man nicht mit 2000 Armeniern dasselbe Resultat erzielen?“
Abb.: Rue des Archives / SZ-Photo
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"Hosfelds solides Werk ins Türkische zu übersetzen, wäre ein großer Schritt auf dem Weg der Versöhnung."
Tilmann Allert, Neue Zürcher Zeitung, 3. Juni 2015
"Ein überaus wichtiges Buch."
Münchner Merkur, 24. März 2015 "
Eine vorzügliche Gesamtdarstellung."
Martin Kröger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. April 2015
"Hosfeld hat in (...) 'Tod in der Wüste'die Hintergründe und Folgen des Genozids und der Vertreibung ausführlich analysiert."
Regina Mönch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. April 2015
"Mit das wichtigste Buch zum bitteren Jubiläum."
Barbara Möller, Literarische Welt, 11. April 2015
"Der Kulturhistoriker und Journalist Rolf Hosfeld (...) beschreibt detailliert die historische Situation, die zum Desaster führte."
Genevieve Lüscher, Neue Zürcher Zeitung, 29. März 2015
"Ebenso umfassend wie bestürzend."
Wiener Zeitung, 10. März 2015
"Ein wichtiges Buch gegen das Vergessen."
Bernhard Windisch, Nürnberger Nachrichten, 16. April 2015
"Gut geschrieben."
Markus Schwering, Kölner Stadt-Anzeiger, 10. April 2015
"Rolf Hosfeld hat einen fesselnden und erschütternden Bericht über den "Tod in der Wüste" vorgelegt."
Richard Rabensaat, Potsdamer Neueste Nachrichten, 25. Februar 2015
"Empfehlenswert."
Das Parlament, 2. März 2015
"Ein glänzend recherchiertes Buch über dieses heute fast vergessene Kapitel des Ersten Weltkrieges."
Lübecker Nachrichten, 19. April 2015
"Rolf Hosfeld hat die heutigen Erkenntnisse über den 'Tod in der Wüste' zu einer bedrückenden Schilderung verarbeitet."
Matthias Friedrich, Allgemeine Zeitung, 15. April 2015
"Ein wichtiger Beitrag zur erinnernden Solidarität, die einen unentbehrlichen Bestandteil einer lebendigen Menschheitskultur darstellt." Wolfgang Huber, Zeitzeichen, März 2015 "Ein ebenso eindrucksvolles wie erschütterndes Denkmal."
Nürtinger Zeitung, 12. März 2015
Tilmann Allert, Neue Zürcher Zeitung, 3. Juni 2015
"Ein überaus wichtiges Buch."
Münchner Merkur, 24. März 2015 "
Eine vorzügliche Gesamtdarstellung."
Martin Kröger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. April 2015
"Hosfeld hat in (...) 'Tod in der Wüste'die Hintergründe und Folgen des Genozids und der Vertreibung ausführlich analysiert."
Regina Mönch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. April 2015
"Mit das wichtigste Buch zum bitteren Jubiläum."
Barbara Möller, Literarische Welt, 11. April 2015
"Der Kulturhistoriker und Journalist Rolf Hosfeld (...) beschreibt detailliert die historische Situation, die zum Desaster führte."
Genevieve Lüscher, Neue Zürcher Zeitung, 29. März 2015
"Ebenso umfassend wie bestürzend."
Wiener Zeitung, 10. März 2015
"Ein wichtiges Buch gegen das Vergessen."
Bernhard Windisch, Nürnberger Nachrichten, 16. April 2015
"Gut geschrieben."
Markus Schwering, Kölner Stadt-Anzeiger, 10. April 2015
"Rolf Hosfeld hat einen fesselnden und erschütternden Bericht über den "Tod in der Wüste" vorgelegt."
Richard Rabensaat, Potsdamer Neueste Nachrichten, 25. Februar 2015
"Empfehlenswert."
Das Parlament, 2. März 2015
"Ein glänzend recherchiertes Buch über dieses heute fast vergessene Kapitel des Ersten Weltkrieges."
Lübecker Nachrichten, 19. April 2015
"Rolf Hosfeld hat die heutigen Erkenntnisse über den 'Tod in der Wüste' zu einer bedrückenden Schilderung verarbeitet."
Matthias Friedrich, Allgemeine Zeitung, 15. April 2015
"Ein wichtiger Beitrag zur erinnernden Solidarität, die einen unentbehrlichen Bestandteil einer lebendigen Menschheitskultur darstellt." Wolfgang Huber, Zeitzeichen, März 2015 "Ein ebenso eindrucksvolles wie erschütterndes Denkmal."
Nürtinger Zeitung, 12. März 2015