Schnörkellos erzählt, eindringlich, kraftvoll und ergreifend besticht Marie Vieux-Chauvet in «Töchter Haitis» durch ihre Weitsicht: 1957, drei Jahre nachdem sie diesen Roman schrieb, ergriff der blutrünstige Diktator Duvalier die Macht, wobei ihm die Konkurrenz von Schwarzen und «Mulatten» in die Hände spielte.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Der Roman "Töchter Haitis" von Marie Vieux-Chauvet ist ein zeitloser Klassiker, der die postkoloniale Doppelmoral entlarvt
Ein Wunder ist zu vermelden: Im Münchner Manesse Verlag erschien soeben ein moderner Klassiker aus und über Haiti und zugleich ein Meilenstein der Frauenliteratur, sorgfältig übersetzt und mustergültig kommentiert ohne Konzessionen an Denkverbote, deren Engstirnigkeit die Lektüre postkolonialer Texte unnötig erschwert und manchmal zur Qual werden lässt. Dieser Roman, "Töchter Haitis" von Marie Vieux-Chauvet, ist das Gegenbuch zu Graham Greenes Bestseller "The Comedians" (nach wie vor lesens- und sehenswert als Film mit Elizabeth Taylor und Richard Burton) und erzählt die Genese des tropischen Faschismus von "Papa Doc" Duvalier nicht aus der Perspektive von Haiti begeisterten Touristen, sondern aus der Innenansicht einer jungen Frau
Einer Mulattin, genauer gesagt: Dass diese zum Unwort erklärte Selbstbezeichnung der hellhäutigen Oberschicht von Haiti hier nicht politisch korrekt umschrieben, sondern beibehalten wird, dürfte schockierend für militante "Woke"-Anhänger sein, die nicht wissen, dass der Begriff "nèg" auf Kreolisch gar nichts Herabsetzendes hat, sondern einfach nur Mensch oder Mann bedeutet. (Als ich einmal in einer Podiumsdiskussion darauf hingewiesen hatte, wurde ich aus der Debatte ausgeschlossen - das aber hier nur in Klammern.)
Lotus, die Protagonistin des Romans, deren Mutter sich prostituiert, um ihrer Tochter den sozialen Aufstieg zu ermöglichen, entdeckt in ihrem schmerzvollen Prozess weiblicher Selbsterkundung, dass die traditionelle Kolonialherrschaft seit Haitis blutig erkämpfter Unabhängigkeit ersetzt wurde durch einen neuen Rassismus, der schwer zu durchschauen und zu bekämpfen ist, weil er unausgesprochen bleibt.
Anstelle des Antagonismus von Sklaven und Kolonialherren trat der Klassenkampf der schwarzen Bevölkerungsmehrheit gegen die Mulattenbourgeoisie: Die politische Macht ging an Schwarze über, Besitz und Bildung aber blieben Privilegien der hellhäutigen Elite. Mit sozialem Hass gepaarter Sexualneid verband sich mit Vorurteilen, die, wie die Judenfeindschaft in Europa, bei Bedarf demagogisch mobilisiert und manipuliert werde konnten - "Noirisme" ist der Fachausdruck dafür. Und das vor dem Hintergrund einer patriarchalischen Gesellschaft, die hinter der Fassade erotischer Freizügigkeit und karibischer Fröhlichkeit frauenfeindliche Strukturen konserviert - zweifache Doppelmoral, wenn man so will.
Den vorliegenden Roman schrieb Marie Vieux-Chauvet Anfang der Fünfzigerjahre, als Haitis starre postkoloniale Hierarchie endlich in Bewegung geriet. Nach fast zwanzigjähriger Okkupation des Inselstaats, die auch der Eindämmung des vor dem Ersten Weltkrieg dominierenden deutschen Einflusses diente, zogen die US-Marines aus Haiti ab. Sie hinterließen eine modernisierte Infrastruktur - Straßen, Schulen und Hospitäler -, aber unter dem Eindruck der Fremdherrschaft besannen Haitis Intellektuelle sich auf ihr afrikanisches Erbe und machten den von Kirche und Staat bekämpften Voodoo salonfähig.
Gleichzeitig lasen sie Freud und Marx und verknüpften die Rückbesinnung auf ihre kulturellen Wurzeln mit revolutionären Impulsen, für die stellvertretend der Surrealismus stand. Ein Vortrag von André Breton in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince Anfang 1946 löste eine Studentenrevolte aus, deren Anführer verhaftet wurden. Das wiederum führte zum Generalstreik, die Regierung stürzte, und Breton meinte später, in Haiti habe der Surrealismus eine veritable Revolution bewirkt.
Diese und andere Erfahrungen sind in Marie Vieux-Chauvets Roman eingegangen. Beim Protest gegen die amerikanischen Besatzer zogen Schwarze und Mulatten, wie einst im Widerstand gegen Frankreichs Kolonialregime, am gleichen Strang. Doch bald fanden sie sich auf verschiedenen Seiten der Barrikade wieder. Papa Doc hatte nach eigenem Bekunden von Hitler gelernt: Seine Killerkommandos, die Tontons Macoutes, waren von der SA inspiriert, während Jacques Roumain, Romancier und Gründer der Kommunistischen Partei Haitis, Stalin verehrte und Trotzkis Ermordung in Mexiko, wo er als Botschafter seines Landes amtierte, guthieß.
Es spricht für den politischen Weitblick der angehenden Autorin Lotus (das Alter Ego der Verfasserin im Roman), dass sie kommunistische Widerstandsgruppen in ihrem Haus empfängt und aktiv unterstützt, es aber ablehnt, sich der Parteidoktrin unterzuordnen und ihre Selbstverwirklichung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag nach dem Sieg der Revolution zu verschieben: "Leiden, wozu denn, großer Gott? Als machte es sich einen Spaß daraus, vervielfachte das Leben Not und Elend um mich herum; ich würde meine ganze Zeit damit verbringen, an andere zu denken, ohne ihren Qualen abhelfen zu können! Wozu sollte das gut sein?"
Literatur aus und über Haiti tut sich schwer im deutschen Sprachraum, denn das Armenhaus der westlichen Welt hat eine tragische Geschichte, ohne deren Kenntnis vieles unverständlich bleibt. Marie Vieux-Chauvet, die auch Theaterstücke schrieb, gehört zu den wenigen Autorinnen, denen es gelang, aus dem folkloristischen Ghetto auszubrechen, in das die haitianische Kultur sich zurückzog - Stichworte Voodoo und Karneval. Ihr in lesbares Deutsch übersetzter Erstlingsroman besticht dadurch, dass und wie die weibliche Selbstfindung der Ich-Erzählerin Lotus eingebettet ist in einen sozialen Kontext, der von der großen Politik bis zu den kleinen Leuten reicht, vom bibelgläubigen Schuster bis zur Dienstmagd, deren Hassliebe zu ihrer Herrin einem double bind gleicht. Unvergesslich ist das Porträt eines gegen die Korruption aufbegehrenden Intellektuellen, in den Lotus sich verliebt, während er sich um Kopf und Kragen redet: "Ich habe geschworen, an der Seite meines Volkes für die Errichtung einer gerechten und freien Gesellschaft zu streiten. Unser Land steht am Abgrund, also lasst es uns mit vereinten Kräften retten, indem wir auslöschen, was es schwächt: Armut, Unwissenheit, Dreck . . ."
"Er ist betrunken", sagt jemand im Hintergrund des Raums. "Und unvorsichtig", antwortet ihm ein anderer.
HANS CHRISTOPH BUCH
Marie Vieux-Chauvet: "Töchter Haitis". Roman.
Aus dem Französischen von Nathalie Lemmens. Nachwort von Kaiama L. Glover. Manesse Verlag, München 2022. 282 S., geb., 28,- Euro.
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