Drei Wissenschaftlerinnen leben auf einem verlassenen Fabriksgelände, dem Eulengrund, und geben vor, Obdachlose zu sein. Sie halten sehr gut kalkulierte Täuschungen aufrecht, um nicht enttarnt zu werden. Nur die Kinder lassen sich nicht abhalten und kommen auf das Gelände, um dort ihren Beschäftigungen nachzugehen. Deshalb brauchen die Forscherinnen einen Kinderschreck. Ein Studienfreund, Ringer und jetzt Kinderbuchautor, scheint dafür geeignet. Aber wozu das alles? Die Frauen beobachten einen extrem seltenen Vogel bei Fortpflanzung und Brutpflege. Um ihn gibt es ein Geheimnis, das erst ganz am Ende gelüftet wird: Sein Gefieder wirkt wie eine Tarnkappe. Wie das funktioniert, wäre natürlich für die Waffenindustrie hochinteressant, deshalb die strenge Geheimhaltung. Bedrohungen von außen müssen abgewehrt und die Tücken des Zusammenlebens gemeistert werden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Sigi Seuss durchschaut die Hintergründigkeit von Albert Wendts Geschichte "Tok-Tok im Eulengrund", die von einer abenteuerlichen Entdeckungsreise erzählt: Jugendliche erkunden ein verlassenes Eisenwerk, in dem einst Stacheldraht hergestellt wurde, erzählt Seuss. Jetzt hausen dort allerdings drei Frauen: die alte und weise Tok-Tok, die üppige Glü und die schöne Rosalinde. Alle drei benutzen den Erzähler als Kinderschreck "Kahler Baba". Es entspinnt sich eine ausgeklügelte Geschichte, die Seuss so spannend wie fantastisch findet, und er weist darauf hin, dass Erwachsene vielen Anspielungen an Shakespeares "Sturm" erkennen können, aber nicht müssen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2020Prosperos
Eisenwerk
Albert Wendt findet in „Tok-Tok
im Erlengrund“ ein Zauberreich
Manchmal fühlt man sich tatsächlich auf Prosperos Insel verweht. Und Albert Wendt, der Geschichtenerzähler aus dem Leipziger Umland, benützt in seinem neuen Büchlein „Tok-Tok im Eulengrund – Das Geheimnis der Vogelfrau“ tatsächlich Anleihen aus Shakespeares letztem Meisterwerk, „Der Sturm“.
Das ist aber nur für die Erwachsenen bedeutsam, die hinter den Kulissen der Geschichte alsbald ein feinsinnig gesponnenes Gedankennetz entdecken, mit einer zutiefst menschenfreundlichen Überlebensstrategie. Für alle anderen ist die Erzählung erst einmal eine aufregende Forschungsreise in ein verbotenes Land, eine Reise, die schon Angst macht, wenn man sich das Ungeheuerliche vorstellt, das hinter dem Maschendrahtzaun lauern könnte. Das unbekannte Land, das Albert Wendt diesmal auswählt, – und er ist ein Experte für abenteuerliche Landschaftsarchitektur, selbst in ödesten Gegenden, – ist diesmal ein verfallenes Fabrikgelände mitten im Wald, am Rand einer großen Stadt. Es sind die Ruinen eines Eisenwerks, zuletzt spezialisiert auf Stacheldrahtproduktion, mit Ziegelschlot, herumliegenden Betonplatten, Trümmerbergen, mit Werksbahnhof, verrosteten Gleisen. All das wird überwuchert von wilden Rosen, Geißblatt, Stechginster und Müll – ein einzigartiges Biotop, ein „Viertelparadies“, in dem bedrohte Tier- und Pflanzenarten siedeln.
Mittendrin, im Schaltwerk des Bahnhäuschens, hausen drei Frauen, allem Anschein nach Obdachlose: die alte weise Tok-Tok, die üppige Glü und die schöne Rosalinde, die der Erzähler einstmals liebte. Am Eingangstor haben sie eine Warntafel angebracht: „Sozialstation für unbetreutes Wohnen. Betreten verboten.“
Ihr Refugium scheint von allerlei irrlichternden Gestalten bedroht. Die fassbarste Gefahr geht von vier Jugendlichen aus, die die Wildnis für ihre zarten Liebesversuche nutzen wollen, mit einer vorwitzigen Fünfjährigen im Schlepptau. Ja, und dann kommt der Erzähler ins Spiel, der offenen Auges zwischen die Fronten von Frauen, Kindern und zwielichtigen Gestalten gerät. Er wird von den Damen als Kinderschreck angeheuert, weil er sich in Statur und Aussehen hervorragend als Ungeheuer „Kahler Baba“ eigne. Mit Fratzen schneiden, Fuchteln, Trällern, Brüllen und Grunzen, um Eindringlinge zu vertreiben. Doch schon bald sympathisiert er nicht nur mit den Frauen, sondern auch mit den Kindern. Und er entdeckt, dass sich hinter den verwahrlosten Frauen Wissenschaftlerinnen verbergen, die ein ausgeklügeltes System der Tarnung nutzen: vorgetäuschte Harmlosigkeit. Schließlich geht es um nichts Geringeres als ein fantastisches Lebewesen aus tausend Hirngespinsten zu retten, einen Wundervogel aus Natur und Geist, dessen Existenz für das Überleben einer zivilisierten Menschheit notwendig ist.
„Tok-Tok im Eulengrund“ ist eine hintergründige Geschichte für Kinder und Erwachsene. Wie Albert Wendt Alltägliches und Fantastisches zusammenfügt, Erfahrenes und Erfundenes, Verlorenes und Wiedergefundenes, wie er mit Worten jongliert und auf doppeltem Boden balanciert, wie er sich Orten voller unerwarteter Geheimnisse nähert, das ist große Erzählkunst. Da blühen Gedanken auf wie Stechginster und Luftgeister werden lebendig, wie einst in Prosperos Inselreich. (ab 12 Jahre)
SIGGI SEUSS
Albert Wendt: Tok-Tok im Eulengrund. Das Geheimnis der Vogelfrau. Verlag Jungbrunnen, Wien 2020, 155 Seiten, 15 Euro.
Es geht um nichts Geringeres,
als einen Wundervogel
zu retten
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Eisenwerk
Albert Wendt findet in „Tok-Tok
im Erlengrund“ ein Zauberreich
Manchmal fühlt man sich tatsächlich auf Prosperos Insel verweht. Und Albert Wendt, der Geschichtenerzähler aus dem Leipziger Umland, benützt in seinem neuen Büchlein „Tok-Tok im Eulengrund – Das Geheimnis der Vogelfrau“ tatsächlich Anleihen aus Shakespeares letztem Meisterwerk, „Der Sturm“.
Das ist aber nur für die Erwachsenen bedeutsam, die hinter den Kulissen der Geschichte alsbald ein feinsinnig gesponnenes Gedankennetz entdecken, mit einer zutiefst menschenfreundlichen Überlebensstrategie. Für alle anderen ist die Erzählung erst einmal eine aufregende Forschungsreise in ein verbotenes Land, eine Reise, die schon Angst macht, wenn man sich das Ungeheuerliche vorstellt, das hinter dem Maschendrahtzaun lauern könnte. Das unbekannte Land, das Albert Wendt diesmal auswählt, – und er ist ein Experte für abenteuerliche Landschaftsarchitektur, selbst in ödesten Gegenden, – ist diesmal ein verfallenes Fabrikgelände mitten im Wald, am Rand einer großen Stadt. Es sind die Ruinen eines Eisenwerks, zuletzt spezialisiert auf Stacheldrahtproduktion, mit Ziegelschlot, herumliegenden Betonplatten, Trümmerbergen, mit Werksbahnhof, verrosteten Gleisen. All das wird überwuchert von wilden Rosen, Geißblatt, Stechginster und Müll – ein einzigartiges Biotop, ein „Viertelparadies“, in dem bedrohte Tier- und Pflanzenarten siedeln.
Mittendrin, im Schaltwerk des Bahnhäuschens, hausen drei Frauen, allem Anschein nach Obdachlose: die alte weise Tok-Tok, die üppige Glü und die schöne Rosalinde, die der Erzähler einstmals liebte. Am Eingangstor haben sie eine Warntafel angebracht: „Sozialstation für unbetreutes Wohnen. Betreten verboten.“
Ihr Refugium scheint von allerlei irrlichternden Gestalten bedroht. Die fassbarste Gefahr geht von vier Jugendlichen aus, die die Wildnis für ihre zarten Liebesversuche nutzen wollen, mit einer vorwitzigen Fünfjährigen im Schlepptau. Ja, und dann kommt der Erzähler ins Spiel, der offenen Auges zwischen die Fronten von Frauen, Kindern und zwielichtigen Gestalten gerät. Er wird von den Damen als Kinderschreck angeheuert, weil er sich in Statur und Aussehen hervorragend als Ungeheuer „Kahler Baba“ eigne. Mit Fratzen schneiden, Fuchteln, Trällern, Brüllen und Grunzen, um Eindringlinge zu vertreiben. Doch schon bald sympathisiert er nicht nur mit den Frauen, sondern auch mit den Kindern. Und er entdeckt, dass sich hinter den verwahrlosten Frauen Wissenschaftlerinnen verbergen, die ein ausgeklügeltes System der Tarnung nutzen: vorgetäuschte Harmlosigkeit. Schließlich geht es um nichts Geringeres als ein fantastisches Lebewesen aus tausend Hirngespinsten zu retten, einen Wundervogel aus Natur und Geist, dessen Existenz für das Überleben einer zivilisierten Menschheit notwendig ist.
„Tok-Tok im Eulengrund“ ist eine hintergründige Geschichte für Kinder und Erwachsene. Wie Albert Wendt Alltägliches und Fantastisches zusammenfügt, Erfahrenes und Erfundenes, Verlorenes und Wiedergefundenes, wie er mit Worten jongliert und auf doppeltem Boden balanciert, wie er sich Orten voller unerwarteter Geheimnisse nähert, das ist große Erzählkunst. Da blühen Gedanken auf wie Stechginster und Luftgeister werden lebendig, wie einst in Prosperos Inselreich. (ab 12 Jahre)
SIGGI SEUSS
Albert Wendt: Tok-Tok im Eulengrund. Das Geheimnis der Vogelfrau. Verlag Jungbrunnen, Wien 2020, 155 Seiten, 15 Euro.
Es geht um nichts Geringeres,
als einen Wundervogel
zu retten
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