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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
David Peace macht Tokio zum Ort des Grauens
Diese Stadt ist ein Sarg, ein Notizbuch, ein Fegefeuer, eine Wunde und ein Gefängnis. Die Rede ist von Tokio im Jahr 1948. Während die Besatzungsmächte mit ehemaligen Militärs verhandeln, die die Verfolgung von Kriegsverbrechen hintertreiben, geschieht ein Massenmord, der die japanische Öffentlichkeit bis heute beschäftigt: Ein Mann betritt die Filiale einer Bank, gibt sich als Mitarbeiter des Ministeriums für Gesundheit und Wohlfahrt aus, behauptet, alle Angestellten der Bank gegen Ruhr impfen zu müssen, und vergiftet sie.
Zwölf Menschen sterben, die finanzielle Beute des Mörders ist verhältnismäßig gering. Polizei und Presse, Überlebende, ja selbst die Strippenzieher des organisierten Verbrechens machen Jagd auf den vermeintlichen Täter und bringen ihn schließlich zur Strecke. Der Aquarellmaler Hirasawa Sadamichi wurde 1950 zum Tode verurteilt; 1987 starb er in der Haft. Zweifel an seiner Schuld bestehen weiterhin.
David Peace, spätestens seit der Veröffentlichung seines "Red-Riding-Quartetts" über den sogenannten "Yorkshire Ripper" als Meister der auf wahren Begebenheiten beruhenden Kriminalliteratur bekannt, legt den zweiten Teil seiner Tokio-Trilogie vor. Und wieder geht es ihm um mehr als um die faktenhuberische Rekonstruktion eines spektakulären Verbrechens.
Zwölf Stimmen beschwört er in einer literarischen Séance herauf, um der Geschichte Herr zu werden. In struktureller Anlehnung an Kurosawas "Rashomon" schafft er eine Polyphonie einzelner Stimmen, die auf je unterschiedliche Weise mit dem Fall in Berührung kamen. Er schreibt aus der Perspektive eines Opfers, eines Ermittlers, eines Reporters, aus der Sicht des Inhaftierten oder aus der des Mörders, über den nur spekuliert werden kann. Seine verschiedenen Erzähler verzweifeln, lügen, werden wahnsinnig oder fallen der Zensur anheim, was sich jeweils auch im Schriftbild und in der Form niederschlägt. Darüber hinaus reflektiert Peace das Schreiben selbst, das Ringen um ein Buch, das notgedrungen Fragment bleiben muss. Das manische Umkreisen des immer gleichen Tatbestandes verlangt dem Leser zu Beginn viel Geduld ab. Doch bald ist er gefangen im waghalsigen Vorwärtsdrang dieser Prosa, die eine gespenstische Atmosphäre erzeugt und tief hinein in die japanische Historie führt, bis hin zur heimlichen Entwicklung von biologischen Waffen in der Mandschurei während des Zweiten Weltkriegs.
Den 1967 geborenen britischen Autor, der selbst etliche Jahre in Tokio lebte, lassen die Geister der Vergangenheit nicht los; er will ihnen in seiner Kunst Gerechtigkeit widerfahren lassen. Dass er dieses Unterfangen in einen klaustrophobischen Krimi einfließen lässt, der durchdrungen ist von Fragen nach dem Verhältnis von politischer Macht, Fiktion und Wahrheit, ist ihm hoch anzurechnen.
ALEXANDER MÜLLER
David Peace: "Tokio, besetzte Stadt". Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind Verlag, München 2010. 352 S., geb., 22,- [Euro].
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