1686, als Reaktion auf die Aufhebung des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV., verfasste Pierre Bayle seinen Kommentar zu jener Stelle aus dem Lukas-Evangelium, die häufig zur Begründung religiöser Unterdrückung herangezogen wurde: »Nötige sie hereinzukommen«. Bayles Buch ist das radikalste und philosophisch umfassendste Plädoyer für Toleranz, das die Aufklärung hervorgebracht hat, da Bayle anders als seine Zeitgenossen die Toleranz nicht primär auf Basis der Religion oder um des friedlichen Zusammenlebens willen rechtfertigt. Vielmehr entwirft er Grundsätze der Vernunft und der Moral, die jenseits aller Glaubenslehren einsichtig und verbindlich sind. Die so entwickelte neue Lehre des Verhältnisses von Vernunft, Moral und Religion ist heute noch so aktuell wie damals.
Pierre Bayle (1647-1706), französischer Philosoph und Schriftsteller hugenottischer Herkunft, ist einer der einflussreichsten und originellsten Denker der französischen Aufklärung. Vor allem sein Historisches und kritisches Wörterbuch, das der Enzyklopädie von d'Alembert und Diderot als Vorbild diente, fand europaweit große Beachtung.
Pierre Bayle (1647-1706), französischer Philosoph und Schriftsteller hugenottischer Herkunft, ist einer der einflussreichsten und originellsten Denker der französischen Aufklärung. Vor allem sein Historisches und kritisches Wörterbuch, das der Enzyklopädie von d'Alembert und Diderot als Vorbild diente, fand europaweit große Beachtung.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.2016Andersgläubigen kann man nicht den eigenen Glauben aufzwingen
Arbeit am Herrenwort: Pierre Bayles Toleranzschrift in einer modernen und kommentierten deutschen Übersetzung
Es gibt wohl nur wenige Worte der Bibel, die eine so nachhaltige und handgreifliche Wirkung hatten wie der Aufruf "Compelle intrare!" (Nötige sie hereinzukommen!) aus dem 14. Kapitel des Lukas-Evangeliums. Der Kirchenvater Augustinus, Generationen von Theologen nach ihm und die Verfasser von Gesetzestexten wie des mittelalterlichen Decretum Gratiani zitierten ihn als eine unanfechtbare Legitimation für die Erzwingung religiöser Konformität. Das war keine aus böswilligen Motiven ins Werk gesetzte Repression. Denn wenn es erstens nur einen wahren Glauben gibt, wenn zweitens die Abweichung vom wahren Glauben mit ewiger Verdammung bestraft wird und wenn drittens Nothilfe in äußerster Gefahr eine selbstverständliche moralische Pflicht ist, dann sind - notfalls gewaltsame - Interventionen geboten, um die Irrenden zum rechten Glauben zurückzuführen. Gewalt und Gewaltandrohung - Augustinus spricht wiederholt von "terror" - erweist deshalb den vom Heilsverlust Bedrohten einen "Liebesdienst" (servitium amoris). Dagegen wäre es sträfliche Indifferenz, würde man ihre Irrtümer dulden (tolerare). Augustinus und die kirchlichen Institutionen, die sich von seinem biblisch fundierten Gedanken leiten ließen, hatten also starke, auf den ersten Blick respektable Gründe für den Einsatz von Gewalt gegen religiöse Abweichler.
Unter den zahlreichen Toleranztheoretikern der Neuzeit war Pierre Bayle derjenige, der am entschlossensten den Stier bei den Hörnern packte, indem er sein Plädoyer für religiöse Toleranz in Auseinandersetzung mit dem Herrenwort "Compelle intrare" vortrug. Der im Jahre 1647 am Fuße der Pyrenäen geborene und 1706 in Rotterdam gestorbene Philosoph war als hugenottischer Glaubensflüchtling selbst ein Opfer katholischer Intoleranz. Im Jahre 1685 hatte die Revokation des Edikts von Nantes die französischen Protestanten entrechtet und viele von ihnen ins Exil getrieben. Unmittelbar danach erschien, mit einem zeittypisch endlosen Titel versehen, Bayles "Philosophischer Kommentar zu den Worten Christi Nötige sie hereinzukommen, in dem mit mehreren beweiskräftigen Gründen gezeigt wird, dass es nichts Verwerflicheres gibt als Zwangskonversionen, und (. . .) Augustinus' Apologie der Verfolgungen widerlegt wird". Mit dem griffigeren Titel "Toleranz: Ein philosophischer Kommentar" liegt das Werk jetzt in einer wohlfeilen deutschen Ausgabe vor.
Lange - und für Deutschland gilt dies weithin immer noch - stand Bayle im Schatten John Lockes. Anders als der Engländer argumentiert Bayle, dessen Buch in späteren Ausgaben den Untertitel "Traité de la tolérance universelle" erhielt, für die ausnahmslose Duldung religiöser Bekenntnisse und auch nichtreligiöser Überzeugungen. Ein klares Plädoyer für die Duldung von Atheisten findet sich allerdings nicht hier, sondern in seinen wenige Jahre zuvor erschienenen "Pensées diverses sur la comète".
Im Unterschied zu den seinerzeit vorherrschenden liberal-protestantischen Ansätzen, die die Toleranz aus der Freiheit des an Gott gebundenen Gewissens herleiteten, stützt Bayle sein Plädoyer auf zwei genuin philosophische Argumente: Erstens sei die Pluralität religiöser Wahrheitsansprüche unüberwindbar. Mangels überzeugender Gründe könne keine Religion ein Wahrheitsmonopol für sich reklamieren. Das zweite Argument rekurriert auf einen moralphilosophischen Grundsatz: Jeder Zwang ist rechtfertigungsbedürftig und müsste von allen potentiell Betroffenen als rechtmäßig anerkannt werden. Bayle schlägt hierzu ein Testverfahren vor, dem alle Freiheit einschränkenden Regeln und Praktiken unterworfen werden müssen: Es ist zu fragen, ob eine Praxis "gerecht ist. Und wenn es darum ginge, sie in einem Land einzuführen, wo sie nicht üblich ist, wo es also freisteht, sie anzunehmen oder zu verwerfen", ist zu fragen, "ob sie rechtmäßig genug ist, dass sie angenommen zu werden verdient". Es ist klar, dass die Praxis des Religionszwangs diesen Test nicht besteht. Ein wechselseitig anerkanntes Recht, Andersgläubige zur Annahme des eigenen Glaubens zu zwingen, ist undenkbar.
Aber konnten diese Argumente damals einen religiös gebundenen Leser erreichen? Konnten sie einen Christen dazu bringen, von der Wahrheits- und Heilsexklusivität seines Bekenntnisses abzulassen und darauf zu verzichten, die Irrgläubigen vor der ewigen Verdammnis zu retten? Bayle müht sich zwar redlich damit ab, die gewaltträchtige Parole "Nötige sie hereinzukommen!" zu entschärfen. Bei frommen Lesern trug dies, wie die Regale füllenden Gegenschriften zum "Commentaire philosophique" beweisen, jedoch wenig aus. Sie blieben bei der durch Augustinus kanonisierten Lesart des Herrenworts, die es rechtfertigte, ja dazu verpflichtete, den Irrenden die einzig wahre Religion notfalls durch Zwang nahezubringen. Doch hat Bayle mit seinem Buch, das im achtzehnten Jahrhundert mehrmals nachgedruckt wurde und auch in englischer und deutscher Übersetzung erschien, zweifellos Leser erreicht. Dies zeigt die bedeutende Rolle, die es in den Toleranzdebatten der Aufklärung spielte.
Die mustergültig übersetzte, mit einem hilfreichen Kommentar und einer instruktiven Einleitung versehene Ausgabe ist ein Gewinn nicht nur für philosophiehistorisch Interessierte. Denn sie bietet ein faszinierendes historisches Exempel, an dem zu lernen ist, wie es möglich war, in einer Kultur, die von einer konstitutionell intoleranten Religion dominiert war, Freiheiten durchzusetzen, die wir heute für selbstverständlich halten. Wie wenig selbstverständlich diese in Wahrheit sind, zeigt nicht nur der naheliegende Blick auf den Islam und sein mit der Todesstrafe bewehrtes Apostasieverbot. Zum Nachdenken zwingt dieses Exempel auch mit Blick auf die gegenwärtig von verschiedenen Seiten als Kampfparole verwendete Rede vom "christlichen Abendland". Zu dessen Fundamenten gehören Toleranz und Religionsfreiheit keineswegs. Wäre es so, hätte Bayle sein Buch nicht schreiben müssen.
WINFRIED SCHRÖDER
Pierre Bayle: "Toleranz".
Ein philosophischer
Kommentar.
Hrsg. von E. Buddeberg und R. Forst. Aus dem Französischen von E. Buddeberg und Franziska Heimburger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 354 S., br., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Arbeit am Herrenwort: Pierre Bayles Toleranzschrift in einer modernen und kommentierten deutschen Übersetzung
Es gibt wohl nur wenige Worte der Bibel, die eine so nachhaltige und handgreifliche Wirkung hatten wie der Aufruf "Compelle intrare!" (Nötige sie hereinzukommen!) aus dem 14. Kapitel des Lukas-Evangeliums. Der Kirchenvater Augustinus, Generationen von Theologen nach ihm und die Verfasser von Gesetzestexten wie des mittelalterlichen Decretum Gratiani zitierten ihn als eine unanfechtbare Legitimation für die Erzwingung religiöser Konformität. Das war keine aus böswilligen Motiven ins Werk gesetzte Repression. Denn wenn es erstens nur einen wahren Glauben gibt, wenn zweitens die Abweichung vom wahren Glauben mit ewiger Verdammung bestraft wird und wenn drittens Nothilfe in äußerster Gefahr eine selbstverständliche moralische Pflicht ist, dann sind - notfalls gewaltsame - Interventionen geboten, um die Irrenden zum rechten Glauben zurückzuführen. Gewalt und Gewaltandrohung - Augustinus spricht wiederholt von "terror" - erweist deshalb den vom Heilsverlust Bedrohten einen "Liebesdienst" (servitium amoris). Dagegen wäre es sträfliche Indifferenz, würde man ihre Irrtümer dulden (tolerare). Augustinus und die kirchlichen Institutionen, die sich von seinem biblisch fundierten Gedanken leiten ließen, hatten also starke, auf den ersten Blick respektable Gründe für den Einsatz von Gewalt gegen religiöse Abweichler.
Unter den zahlreichen Toleranztheoretikern der Neuzeit war Pierre Bayle derjenige, der am entschlossensten den Stier bei den Hörnern packte, indem er sein Plädoyer für religiöse Toleranz in Auseinandersetzung mit dem Herrenwort "Compelle intrare" vortrug. Der im Jahre 1647 am Fuße der Pyrenäen geborene und 1706 in Rotterdam gestorbene Philosoph war als hugenottischer Glaubensflüchtling selbst ein Opfer katholischer Intoleranz. Im Jahre 1685 hatte die Revokation des Edikts von Nantes die französischen Protestanten entrechtet und viele von ihnen ins Exil getrieben. Unmittelbar danach erschien, mit einem zeittypisch endlosen Titel versehen, Bayles "Philosophischer Kommentar zu den Worten Christi Nötige sie hereinzukommen, in dem mit mehreren beweiskräftigen Gründen gezeigt wird, dass es nichts Verwerflicheres gibt als Zwangskonversionen, und (. . .) Augustinus' Apologie der Verfolgungen widerlegt wird". Mit dem griffigeren Titel "Toleranz: Ein philosophischer Kommentar" liegt das Werk jetzt in einer wohlfeilen deutschen Ausgabe vor.
Lange - und für Deutschland gilt dies weithin immer noch - stand Bayle im Schatten John Lockes. Anders als der Engländer argumentiert Bayle, dessen Buch in späteren Ausgaben den Untertitel "Traité de la tolérance universelle" erhielt, für die ausnahmslose Duldung religiöser Bekenntnisse und auch nichtreligiöser Überzeugungen. Ein klares Plädoyer für die Duldung von Atheisten findet sich allerdings nicht hier, sondern in seinen wenige Jahre zuvor erschienenen "Pensées diverses sur la comète".
Im Unterschied zu den seinerzeit vorherrschenden liberal-protestantischen Ansätzen, die die Toleranz aus der Freiheit des an Gott gebundenen Gewissens herleiteten, stützt Bayle sein Plädoyer auf zwei genuin philosophische Argumente: Erstens sei die Pluralität religiöser Wahrheitsansprüche unüberwindbar. Mangels überzeugender Gründe könne keine Religion ein Wahrheitsmonopol für sich reklamieren. Das zweite Argument rekurriert auf einen moralphilosophischen Grundsatz: Jeder Zwang ist rechtfertigungsbedürftig und müsste von allen potentiell Betroffenen als rechtmäßig anerkannt werden. Bayle schlägt hierzu ein Testverfahren vor, dem alle Freiheit einschränkenden Regeln und Praktiken unterworfen werden müssen: Es ist zu fragen, ob eine Praxis "gerecht ist. Und wenn es darum ginge, sie in einem Land einzuführen, wo sie nicht üblich ist, wo es also freisteht, sie anzunehmen oder zu verwerfen", ist zu fragen, "ob sie rechtmäßig genug ist, dass sie angenommen zu werden verdient". Es ist klar, dass die Praxis des Religionszwangs diesen Test nicht besteht. Ein wechselseitig anerkanntes Recht, Andersgläubige zur Annahme des eigenen Glaubens zu zwingen, ist undenkbar.
Aber konnten diese Argumente damals einen religiös gebundenen Leser erreichen? Konnten sie einen Christen dazu bringen, von der Wahrheits- und Heilsexklusivität seines Bekenntnisses abzulassen und darauf zu verzichten, die Irrgläubigen vor der ewigen Verdammnis zu retten? Bayle müht sich zwar redlich damit ab, die gewaltträchtige Parole "Nötige sie hereinzukommen!" zu entschärfen. Bei frommen Lesern trug dies, wie die Regale füllenden Gegenschriften zum "Commentaire philosophique" beweisen, jedoch wenig aus. Sie blieben bei der durch Augustinus kanonisierten Lesart des Herrenworts, die es rechtfertigte, ja dazu verpflichtete, den Irrenden die einzig wahre Religion notfalls durch Zwang nahezubringen. Doch hat Bayle mit seinem Buch, das im achtzehnten Jahrhundert mehrmals nachgedruckt wurde und auch in englischer und deutscher Übersetzung erschien, zweifellos Leser erreicht. Dies zeigt die bedeutende Rolle, die es in den Toleranzdebatten der Aufklärung spielte.
Die mustergültig übersetzte, mit einem hilfreichen Kommentar und einer instruktiven Einleitung versehene Ausgabe ist ein Gewinn nicht nur für philosophiehistorisch Interessierte. Denn sie bietet ein faszinierendes historisches Exempel, an dem zu lernen ist, wie es möglich war, in einer Kultur, die von einer konstitutionell intoleranten Religion dominiert war, Freiheiten durchzusetzen, die wir heute für selbstverständlich halten. Wie wenig selbstverständlich diese in Wahrheit sind, zeigt nicht nur der naheliegende Blick auf den Islam und sein mit der Todesstrafe bewehrtes Apostasieverbot. Zum Nachdenken zwingt dieses Exempel auch mit Blick auf die gegenwärtig von verschiedenen Seiten als Kampfparole verwendete Rede vom "christlichen Abendland". Zu dessen Fundamenten gehören Toleranz und Religionsfreiheit keineswegs. Wäre es so, hätte Bayle sein Buch nicht schreiben müssen.
WINFRIED SCHRÖDER
Pierre Bayle: "Toleranz".
Ein philosophischer
Kommentar.
Hrsg. von E. Buddeberg und R. Forst. Aus dem Französischen von E. Buddeberg und Franziska Heimburger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 354 S., br., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Kenntnisreich führt Rezensent Ulrich Kronauer in das Leben des Frühaufklärers Pierre Bayle ein, der im 17. Jahrhundert als hugenottischer Theologe einen stetigen Kampf gegen Frankreichs katholische Obrigkeit führte, im Land selbst oder im Exil im calvinistischen Genf oder im aufgeklärten Rotterdam. Seine Schriften gehören zu den wichtigsten Werken der neuzeitlichen Toleranzphilosophie, betont Kronauer, sind jedoch angesichts ihres umständlichen Duktus keine leichte Lektüre. Bayle wende sich durchaus mit den Prinzipien der Vernunft gegen Gewissenszwang und Zwangsbekehrung, erklärt Kronauer, der allerdings auch die Grenzen in Bayles' Argumentation sieht, wenn dieser den Atheisten den Schutz der Gewissensfreiheit verwehrt, die der Gehorsam gegen Gott allein dem Gläubigen vorbehält.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»... eine Schrift, die zu den wichtigsten Werken der neuzeitlichen Toleranzphilosophie gehört.« Ulrich Kronauer Neue Zürcher Zeitung 20161013