In seinen letzten Lebensjahren verfasste Lev Tolstoj eine Reihe von Aphorismen- und Gedankensammlungen, in denen sich sein religiös-moralisches Denken zur Sprache der Weisheit entwickelte. Ihr Höhepunkt ist die im Todesjahr des Dichters, 1910, entstandene Sammlung »Der Weg des Lebens«.Die Sprache der Weisheit bildet eine eigenständige Welt im Werk Tolstojs, ist aber aus der mystischen Spiritualität und den expressionistischen Gegensätzen hervorgegangen, in denen sich sein Denken in umfangreichen moralischen, kirchen- und institutionenkritischen Traktaten seit den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt hatte. Zu den Gegensätzen gehören Wahrheit und Täuschung, Gott und Mensch, Geist und Fleisch, Mann und Frau, Tod und Leben. Als Moralist prangerte Tolstoj in langen Traktaten die Übel der Welt und der menschlichen Gesellschaft an. Als Mystiker sprach er vom Licht Gottes, das in jedem Menschen leuchten will. Beides zusammen macht ihn zu einem aktuellen provokanten Denker auch für unsere Gegenwart. Und beides trifft in der Sprache der Weisheit zusammen, in der sich die geschlossene Form des Traktats auflöst in die offene Sammlung einzelner Gedanken. Ihre Lektüre ist eine Meditationspraxis und Suche nach der richtigen Lebensregel für jeden Lebensmoment.Holger Kuße stellt im ersten Teil in vier Kapiteln Tolstojs Denken in Gegensätzen, die Sprache seiner rigoristischen Moral und die Sprache seiner weisheitlichen Sammlungen vor. Die Darstellung ist nicht nur den Inhalten des Tolstojschen Denkens, sondern vor allem auch ihren Ausdrucksformen gewidmet. Der zweite Teil enthält eine Auswahl von Gedanken aus Tolstojs »Der Weg des Lebens« von 1910.
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