Worüber man nicht reden kann, darüber muß man einen Roman schreiben, so lautet die Lebens- und Überlebensmaxime A. F. Th. van der Heijdens. Es ist die einzige Art und Weise, wie er dem Schicksal seines 22jährigen Sohnes begegnen kann. Tonio van der Heijden starb am 23. Mai des Jahres 2010 in Amsterdam: Ein Auto überfuhr ihn am frühen Morgen auf dem Weg nach Hause. In einem zweiteiligen Roman findet und erfindet der Ich-Erzähler Adri die ersten sechs Lebensjahre seines Sohnes, und zwar von der Geburt im Juni 1988 bis zum Schuleintritt. Dieser Romanteil gehorcht dem Motto: den Sohn festhalten, ihn schützen vor allen Gefahren. Der zweite Teil konstruiert, in Form eines Kriminalromans, die für sich betrachtet völlig unlogischen Todesumstände von Tonio. Entstanden ist auf diese Weise ein berührender und bewegender Roman über das Unglück schlechthin, über die Unbegreifbarkeit des Unvorstellbaren – zugleich ein Buch über die unabweisbaren Fragen nach der eigenen Schuld, ein Buch der Trauer. Wenn es angesichts der Unfaßbarkeit des Todes eine Form der Trauer gibt, die den Lebenden Zukunft eröffnet und Zuversicht ermöglicht – so muß sie die Gestalt dieses Herz und Kopf in Bann schlagendes Requiems besitzen. Dieses Buch dementiert die weitverbreitete Meinung, angesichts des Todes sei alles sinnlos.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Roman Bucheli zeigt sich sehr berührt von diesem "Requiem" A. F. Th. van der Heijdens auf seinen 2010 durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommenen Sohn. Der niederländische Autor, den er bereits, was Form und Umfang seiner Bücher betrifft, als "exzessiven" Schriftsteller kennengelernt hat, zeigt sich auch hier schamlos offen, herzzerreißend gibt er sich seiner Trauer und Verzweiflung hin und stellt sich schonungslos den Fragen, die dieser sinnlose Tod dem Leben stellt, so der Rezensent. Wenn er den Tod des Sohnes derart zum "Stoff" macht, könnte man das zwar für "pietätlos" oder "pathetisch" halten, da der Autor es aber in Literatur überführt, steht sein Buch in einer Reihe mit Kunstwerken wie Michelangelos "Pieta", versichert der Rezensent. Van der Heijdens Buch ist in seinen Augen tatsächlich ein "Requiem" mit musikalischen Qualitäten in Sprachklang und Rhythmus, das, wie Bucheli lobt, von Helga van Beuningen zudem hervorragend ins Deutsche übertragen wurde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.05.2012Der Tag, an dem die Welt zerbrach
Der niederländische Schriftsteller Adri van der Heijden ruft in seinem „Requiemroman“ seinen verstorbenen Sohn Tonio ins Leben zurück
Am Pfingstsonntag 2010 verunglückte das einzige Kind von Mirjam Rotenstreich und Adri van der Heijden mit dem Fahrrad und starb noch am selben Tag. Ohne Tonio, den er als männliche Muse empfunden habe, weiterzuleben, gar weiter zu schreiben, erschien dem Schriftsteller van der Heijden sinnlos. Nicht über ihn zu schreiben, sei jedoch unmöglich gewesen: „Von dem Moment an, an dem es am Pfingstsonntag klingelte und ein Polizeibeamter die Worte ,kritischer Zustand‘ benutzte, war ich dabei, mein Requiem aufzuführen – erst beschwörend, in der verzweifelten Hoffnung, ihn am Leben erhalten zu können, später am selben Tag ungläubig akzeptierend, in der verzweifelten Hoffnung, ihn mit Worten und Bildern in sein früheres Leben zurückzaubern zu können.“
Die Handlung dieser Aufführung hat ihm der Tod unwiderruflich diktiert, doch über die Worte und Bilder, mit denen er sie in Szene setzt, gebietet dieser große niederländische Epiker selbst. Wo sich Entsetzen, Erinnern und Trauer mischen, erhalten auch kleine und selbst Kleinkinderwörter Gewicht. Und Helga von Beunigen hat van der Heijdens „Requiemroman“ in ein nuancenreiches Deutsch übersetzt, das Himmel wie Hölle auszuloten vermag. Da saß dann der kaum vierzehn Monate alte Tonio während eines Urlaubs in Frankreich auf dem Kindersitz des vom stolzen Vater gelenkten Fahrrads, deutete mit feuchtem Finger auf eine Strohrolle und erprobte seine neu erworbenen Sprachkenntnisse „mit dünnem Stimmchen, mehr Klang als Wort“, am falschen Objekt: „Küh. . . Küh.“
Das winzige, auch später wehrlos wirkende Kind, das zaghafte Bemühen, seine Welt, seine Gedanken und Beobachtungen zur Sprache zu bringen, lassen ahnen, warum diesem „lieben Jungen“ die Herzen zuflogen. Doch der Stachel des Todes lauerte schon in dieser anrührenden Vater-Sohn-Szene, verborgen in der Halterung von Tonios Kindersitz. Nach seiner Rückkehr in die Niederlande habe er in der Zeitung gelesen, dass solche für die flache Landschaft der Niederlande entworfenen Sitze auf den steilen Straßen Frankreichs fatale Unfälle verursachen können. Die Zwangsvorstellung, die ihn seitdem verfolgt habe, scheine sich nun erfüllt zu haben, „als habe meine mangelnde Verantwortung von damals nun doch noch im Nachhinein zu Tonios Unfall beigetragen“.
So sind selbst Erinnerungen kontaminiert: „Wir können uns zwar weiterhin einreden, wir könnten sein Leben bis zum 23. Mai 2010 in der Erinnerung behüten, aber es ist nicht mehr das Leben, das wir aus der Nähe gekannt haben. Es ist in allen seinen Erscheinungen vom Tod angetastet, der es abrupt abgeschnitten hat.“ Schmerzlich ist die Hoffnung, die immer wieder enttäuscht wird. Das jähe Öffnen der Haustür, das noch vor wenigen Tagen einen der Überraschungsbesuche Tonios ankündigte, löst nun Beklemmungen aus, weil der Gedanke „er ist es“ hier sofort von der Gewissheit „er kann es nicht sein“ pariert wird: „Der unbewachte Moment verleiht Zugang zu einer tieferen und primitiveren Seelenschicht, in der die Hoffnung genährt wird, dass wir unserem Sohn irgendwann wiederbegegnen.“
Das Klingeln an der Haustür, das an jenem 23. Mai die uniformierten Hiobsboten ankündigte, beschreibt Adri van der Heijden gleich zweimal. Bevor er dann das Polizistenpaar eintreten lässt, gewährt eine Rückblende Einblick in ein behagliches, noch unversehrtes Familien- und Schriftstellerleben. Der Pfingstsonntag 2010 war der Tag null eines jener Hundert-Tage-Zyklen, in denen van der Heijden seine Arbeit organisiert hatte. Gerade hatte die Turmuhr der Obrechtkerk neun geschlagen, und er hätte seine Frau um das Frühstück bitten können. Sie wäre nach oben gekommen; in den Kissen sitzend hätte man die Pläne des Tages durchsprechen, ein wenig schmusen können; dann wären Hometrainer, Duschen und Anziehen drangewesen. Danach hätte er in seinem Arbeitszimmer unterm Dach nur noch den richtigen Moment abwarten müssen, „um für die kommenden hundert Tage die angenehm gespannte Feder losschnellen zu lassen“. Aber weil sein noch vom Abendessen strapazierter Magen rebellierte, ließ sich van der Heijden behaglich zurücksinken. Da ertönte unten die Haustürklingel, und die Welt zerbrach.
Die Nachricht vom tödlichen Unfall seines 21-jährigen Sohnes hat das sorgsam organisierte Gehäuse des Schriftstellers, hat seinen Arbeits- und Lebensplan zerschlagen, hat den Herrn fiktiver Welten damit konfrontiert, dass seine Macht zu schützen und zu bewahren sich auf das Papier beschränkt. Doch auf diesem Papier entsteht nun auch jenes Requiem, das Tonios Grabstein vielleicht überdauern wird.
Schonungslos beschreibt van der Heijden das Entsetzen und das Weinen seiner Frau, die ahnt, dass ihr Sohn nicht überleben wird, und die eigene Fassungslosigkeit, die noch zwischen Angst, Schmerz und Hoffnung umherirrt, bis das Beatmungsgerät abgeschaltet wird: „Sein hübsches Gesicht war nahezu unversehrt“. Fleisch von seinem Fleische: „Ich streichelte seine Schlüsselbeine: Das Muster der weichen Härchen fühlte sich vertraut an.“ Mirjam ist in Tränen aufgelöst: „So ein lieber Junge . . . Adri, das darf doch nicht sein.“
Als kinderlose Eltern kehren sie in ihr Haus zurück, kapseln sich ab, betäuben sich mit Tabletten und Alkohol. Doch Gedanken lassen sich nicht ausschalten. Auch wenn das Weinen um einen Sohn verborgen bleibe, und wenn er Tonio nur mit seiner inneren Stimme gerufen habe, ist van der Heijden doch ein Epiker geblieben, dessen innere Stimme nach außen drängt.
„Tooooooo-niii-iooooo. . .!“ – mit diesem Ruf beginnt der Prolog dieses Requiems, und dessen Motto ist die Totenklage des Dichters Ben Jonson, der seinen toten Erstgeborenen darin als sein „Best piece of poetry“ bezeichnet hat. In einen Roman hineingerufen wie einstmals Tom Sawyer durch das „Tom“ der Tante Polly, hat so Tonios zweite Existenz begonnen – ein bestes Stück Prosa, in Trauer und Schmerz gefasst. Adri van der Heijden hat die Spuren seines Lebens zusammengetragen und die letzten Wochen, die schicksalsträchtigen letzten Stunden im Leben Tonios rekonstruiert. Aus Erinnerungen und Tagebuchnotizen, Selbstbeobachtungen und fast schon kriminalistischen Recherchen ist ein erschütterndes Buch entstanden, das mehr ist als Porträt oder Biografie, denn es beschwört nicht nur das Bild des Toten herauf, sondern zeigt auch, was der lebende Tonio seinen Eltern, was er anderen Menschen bedeutet hat und bedeutet.
Hoffnung bleibt nicht, auch kein Glaube. Liebe bleibt, die von Schmerz besiegelt wird. So wählt van der Heijden als letzte Worte seines Requiemromans dann auch die einer jungen Frau, die vielleicht Tonios Freundin hätte werden können: „Ja, ich glaube wirklich, dass die Toten eine bestimmte Energie für uns zurücklassen.“ Woher sonst hätte Adri van der Heijden die Kraft für ein Werk nehmen können, das in der europäischen Gegenwartsliteratur nicht seinesgleichen hat? ULRICH BARON
A. F. TH. VAN DER HEIJDEN: Tonio. Ein Requiemroman. Aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 672 Seiten, 26,90 Euro.
Diese Totenklage eines
liebenden Vaters hat in der
Literatur nicht ihresgleichen
Ein Bild aus glücklichen Tagen: Adri van der Heijden, seine Frau Mirjam und der gemeinsame Sohn Tonio 1997 bei einem Festbankett (v.r.n.l.). Foto: Klaas Koppe
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der niederländische Schriftsteller Adri van der Heijden ruft in seinem „Requiemroman“ seinen verstorbenen Sohn Tonio ins Leben zurück
Am Pfingstsonntag 2010 verunglückte das einzige Kind von Mirjam Rotenstreich und Adri van der Heijden mit dem Fahrrad und starb noch am selben Tag. Ohne Tonio, den er als männliche Muse empfunden habe, weiterzuleben, gar weiter zu schreiben, erschien dem Schriftsteller van der Heijden sinnlos. Nicht über ihn zu schreiben, sei jedoch unmöglich gewesen: „Von dem Moment an, an dem es am Pfingstsonntag klingelte und ein Polizeibeamter die Worte ,kritischer Zustand‘ benutzte, war ich dabei, mein Requiem aufzuführen – erst beschwörend, in der verzweifelten Hoffnung, ihn am Leben erhalten zu können, später am selben Tag ungläubig akzeptierend, in der verzweifelten Hoffnung, ihn mit Worten und Bildern in sein früheres Leben zurückzaubern zu können.“
Die Handlung dieser Aufführung hat ihm der Tod unwiderruflich diktiert, doch über die Worte und Bilder, mit denen er sie in Szene setzt, gebietet dieser große niederländische Epiker selbst. Wo sich Entsetzen, Erinnern und Trauer mischen, erhalten auch kleine und selbst Kleinkinderwörter Gewicht. Und Helga von Beunigen hat van der Heijdens „Requiemroman“ in ein nuancenreiches Deutsch übersetzt, das Himmel wie Hölle auszuloten vermag. Da saß dann der kaum vierzehn Monate alte Tonio während eines Urlaubs in Frankreich auf dem Kindersitz des vom stolzen Vater gelenkten Fahrrads, deutete mit feuchtem Finger auf eine Strohrolle und erprobte seine neu erworbenen Sprachkenntnisse „mit dünnem Stimmchen, mehr Klang als Wort“, am falschen Objekt: „Küh. . . Küh.“
Das winzige, auch später wehrlos wirkende Kind, das zaghafte Bemühen, seine Welt, seine Gedanken und Beobachtungen zur Sprache zu bringen, lassen ahnen, warum diesem „lieben Jungen“ die Herzen zuflogen. Doch der Stachel des Todes lauerte schon in dieser anrührenden Vater-Sohn-Szene, verborgen in der Halterung von Tonios Kindersitz. Nach seiner Rückkehr in die Niederlande habe er in der Zeitung gelesen, dass solche für die flache Landschaft der Niederlande entworfenen Sitze auf den steilen Straßen Frankreichs fatale Unfälle verursachen können. Die Zwangsvorstellung, die ihn seitdem verfolgt habe, scheine sich nun erfüllt zu haben, „als habe meine mangelnde Verantwortung von damals nun doch noch im Nachhinein zu Tonios Unfall beigetragen“.
So sind selbst Erinnerungen kontaminiert: „Wir können uns zwar weiterhin einreden, wir könnten sein Leben bis zum 23. Mai 2010 in der Erinnerung behüten, aber es ist nicht mehr das Leben, das wir aus der Nähe gekannt haben. Es ist in allen seinen Erscheinungen vom Tod angetastet, der es abrupt abgeschnitten hat.“ Schmerzlich ist die Hoffnung, die immer wieder enttäuscht wird. Das jähe Öffnen der Haustür, das noch vor wenigen Tagen einen der Überraschungsbesuche Tonios ankündigte, löst nun Beklemmungen aus, weil der Gedanke „er ist es“ hier sofort von der Gewissheit „er kann es nicht sein“ pariert wird: „Der unbewachte Moment verleiht Zugang zu einer tieferen und primitiveren Seelenschicht, in der die Hoffnung genährt wird, dass wir unserem Sohn irgendwann wiederbegegnen.“
Das Klingeln an der Haustür, das an jenem 23. Mai die uniformierten Hiobsboten ankündigte, beschreibt Adri van der Heijden gleich zweimal. Bevor er dann das Polizistenpaar eintreten lässt, gewährt eine Rückblende Einblick in ein behagliches, noch unversehrtes Familien- und Schriftstellerleben. Der Pfingstsonntag 2010 war der Tag null eines jener Hundert-Tage-Zyklen, in denen van der Heijden seine Arbeit organisiert hatte. Gerade hatte die Turmuhr der Obrechtkerk neun geschlagen, und er hätte seine Frau um das Frühstück bitten können. Sie wäre nach oben gekommen; in den Kissen sitzend hätte man die Pläne des Tages durchsprechen, ein wenig schmusen können; dann wären Hometrainer, Duschen und Anziehen drangewesen. Danach hätte er in seinem Arbeitszimmer unterm Dach nur noch den richtigen Moment abwarten müssen, „um für die kommenden hundert Tage die angenehm gespannte Feder losschnellen zu lassen“. Aber weil sein noch vom Abendessen strapazierter Magen rebellierte, ließ sich van der Heijden behaglich zurücksinken. Da ertönte unten die Haustürklingel, und die Welt zerbrach.
Die Nachricht vom tödlichen Unfall seines 21-jährigen Sohnes hat das sorgsam organisierte Gehäuse des Schriftstellers, hat seinen Arbeits- und Lebensplan zerschlagen, hat den Herrn fiktiver Welten damit konfrontiert, dass seine Macht zu schützen und zu bewahren sich auf das Papier beschränkt. Doch auf diesem Papier entsteht nun auch jenes Requiem, das Tonios Grabstein vielleicht überdauern wird.
Schonungslos beschreibt van der Heijden das Entsetzen und das Weinen seiner Frau, die ahnt, dass ihr Sohn nicht überleben wird, und die eigene Fassungslosigkeit, die noch zwischen Angst, Schmerz und Hoffnung umherirrt, bis das Beatmungsgerät abgeschaltet wird: „Sein hübsches Gesicht war nahezu unversehrt“. Fleisch von seinem Fleische: „Ich streichelte seine Schlüsselbeine: Das Muster der weichen Härchen fühlte sich vertraut an.“ Mirjam ist in Tränen aufgelöst: „So ein lieber Junge . . . Adri, das darf doch nicht sein.“
Als kinderlose Eltern kehren sie in ihr Haus zurück, kapseln sich ab, betäuben sich mit Tabletten und Alkohol. Doch Gedanken lassen sich nicht ausschalten. Auch wenn das Weinen um einen Sohn verborgen bleibe, und wenn er Tonio nur mit seiner inneren Stimme gerufen habe, ist van der Heijden doch ein Epiker geblieben, dessen innere Stimme nach außen drängt.
„Tooooooo-niii-iooooo. . .!“ – mit diesem Ruf beginnt der Prolog dieses Requiems, und dessen Motto ist die Totenklage des Dichters Ben Jonson, der seinen toten Erstgeborenen darin als sein „Best piece of poetry“ bezeichnet hat. In einen Roman hineingerufen wie einstmals Tom Sawyer durch das „Tom“ der Tante Polly, hat so Tonios zweite Existenz begonnen – ein bestes Stück Prosa, in Trauer und Schmerz gefasst. Adri van der Heijden hat die Spuren seines Lebens zusammengetragen und die letzten Wochen, die schicksalsträchtigen letzten Stunden im Leben Tonios rekonstruiert. Aus Erinnerungen und Tagebuchnotizen, Selbstbeobachtungen und fast schon kriminalistischen Recherchen ist ein erschütterndes Buch entstanden, das mehr ist als Porträt oder Biografie, denn es beschwört nicht nur das Bild des Toten herauf, sondern zeigt auch, was der lebende Tonio seinen Eltern, was er anderen Menschen bedeutet hat und bedeutet.
Hoffnung bleibt nicht, auch kein Glaube. Liebe bleibt, die von Schmerz besiegelt wird. So wählt van der Heijden als letzte Worte seines Requiemromans dann auch die einer jungen Frau, die vielleicht Tonios Freundin hätte werden können: „Ja, ich glaube wirklich, dass die Toten eine bestimmte Energie für uns zurücklassen.“ Woher sonst hätte Adri van der Heijden die Kraft für ein Werk nehmen können, das in der europäischen Gegenwartsliteratur nicht seinesgleichen hat? ULRICH BARON
A. F. TH. VAN DER HEIJDEN: Tonio. Ein Requiemroman. Aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 672 Seiten, 26,90 Euro.
Diese Totenklage eines
liebenden Vaters hat in der
Literatur nicht ihresgleichen
Ein Bild aus glücklichen Tagen: Adri van der Heijden, seine Frau Mirjam und der gemeinsame Sohn Tonio 1997 bei einem Festbankett (v.r.n.l.). Foto: Klaas Koppe
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.2012Eine Kraftprobe mit dem eigenen Schmerz
Als der Sohn nach einem Unfall stirbt, beginnt der Vater zu schreiben: In "Tonio" ruft der großartige niederländische Schriftsteller A. F. Th. van der Heijden dem Schicksal seine Verzweiflung entgegen.
Am 23. Mai 2010 verunglückte Tonio van der Heijden frühmorgens in Amsterdam. An den schweren inneren und Hirnverletzungen starb der gerade einmal 21 Jahre alte Mann, nachdem die Ärzte zehn Stunden lang im Operationssaal um sein Leben gekämpft hatten. Eine Tragödie, wie sie nicht gar so selten vorkommt: Alkoholisiert nach einer Fete, mit schlecht beleuchtetem Fahrrad auf einer Kreuzung, deren Ampel ausgestellt ist, zufällig kommt ein Auto vorbei - das klingt so banal, und es beendet ein junges Leben. "Er lässt uns gebrochen zurück", schreiben seine Eltern in der Todesanzeige. Im niederländischen Original klingt das noch niederschmetternder: "Hij laat ons kapot achter." Kaputt. Tonios Vater, A. F. Th. (Adri) van der Heijden, einer der berühmtesten und großartigsten Schriftsteller der Niederlande, kann nun nicht mehr weiterarbeiten und wie besessen seine Gegenwart in Prosa umzaubern. An dieser Schwelle ist die Kraft der literarischen Fiktion zu Ende.
Und dennoch resigniert "A. F. Th." - so sein Künstlernamenskürzel - nicht. Fast gleichzeitig mit dem Todestag seines einzigen Kindes richtet er seine Recherche auf dessen Leben, dessen Sterben. Tonio ist tot, doch es entsteht "Tonio". Ein "Requiemroman", in dem der kaputte Vater wenigstens mit seinen unzureichenden Mitteln, nein: nicht den Verlust verarbeitet oder das Kind weiterleben lässt. Das geht ja nicht. Der Autor tut, was ein Autor eben kann: Er ruft dem Schicksal seine Verzweiflung entgegen, sammelt die Erinnerungen, aus denen ab jetzt das Leben seines Sohnes besteht. Und er stellt sich dabei als niedergeschmettertes Objekt notgedrungen in den Mittelpunkt und feiert ein Requiem auf das eigene Leben. Das Buch, das dabei herausgekommen ist, wurde zur ungeheuerlichen Kraftprobe mit dem eigenen Schmerz. Natürlich hat der Schriftsteller diese Kraftprobe verloren. An der verzweifeltsten Stelle dieses verzweifelten Werkes beschreibt van der Heijden, wie er sich seine Zukunft vorstellt: dass die Zeit keineswegs den Verlust und das Gefühl der totalen Niederlage mildert, sondern dass alles mit den Jahren immer schmerzlicher werden wird. Bis zum eigenen Tod.
Bis zu solchen tiefschwarzen Lektionen aus dem Unfall am "schwarzen Pfingsttag" legt van der Heijden einen schweren Weg zurück. Er schneidet mit der ihm eigenen Detailfreude und Sprachmacht das eigene Erleben des Unfalltages mit zahlreichen Reminiszenzen an Tonios Leben zusammen: Tonios Zeugung, Tonios Geburt, die in die Tage des holländischen Fußballtriumphs bei den Europameisterschaften 1988 fiel. Die Reisen mit seiner Frau Mirjam Rautenstreich ("Minchen") und dem gemeinsamen Jungen, der wie jedes Kind mit den Jahren zur Person heranwächst. Tonio begleitet den Vater, zunehmend gelangweilt, zu Lesungen und Signierstunden. Macht das Abitur, wird zum passionierten Fotografen, bricht ein Studium ab, doch will er nun in Medienwissenschaften bald abschließen.
Ginge es dabei nur um den toten Tonio, würde dieser Roman zu einem traurigen Familienalbum mit Tagebuchschnipseln, wie dies auch andere Eltern, die ihre Kinder überleben mussten, anlegen. Van der Heijden aber, selbsternannter "Homo duplex", mit jeder Wahrnehmung zum Reflektieren und Aufschreiben gezwungen, will sich keineswegs mit "metaphysischer Ornithologie" abgeben und fragen, wo sein totes Kind jetzt wohl sei. Stattdessen fängt der Autor ein, was die Katastrophe mit ihm und aus ihm gemacht hat. Mit einer fotorealistischen Rückhaltlosigkeit, die für den Leser oft nur schwer auszuhalten ist, macht van der Heijden Bilanz. Er schildert bis zu körperlichen Details an den verdreckten Fingernägeln, am verquollenen Gesicht und der erkaltenden Haut den Sterbeprozess seines Kindes, den Vater und Mutter hinter einem Plastikvorhang "im nylongelben Beduinenzelt" auf dem Gang von Amsterdams größter und daher auch unbehaustester Klinik miterleben. Sinnlos läuft in solcher Schreckensstunde das Hirn leer, und auch diese Form dadaistischen Entsetzens erspart sich der Autor nicht: Er vermerkt, wie sein Denken im Moment, da der Arzt jede Hoffnung verneint, sich auf den eigenen Knoblauchatem richtet: ein Addio mit "Aglio olio".
Quälend ausführlich, weil komplett wahrhaftig die Schilderungen der Beerdigung, der namenlosen Wut der Eltern, des Heulens und Schreiens und der von Alkohol und Tabletten begünstigten Agonie. Mit keiner Faser seiner inneren und äußeren Existenz schont der Verfasser dabei weder seine Frau noch sich, legt ihre Leere und ihr Versagensgefühl ohne Rückhalt offen: "Indem ich Tonio gezeugt habe, wurde sein Tod eine der unwillkommenen Möglichkeiten, denen ich ihn auslieferte. Ich habe mit seinem Leben gespielt und verloren." Und dann richten die Eltern sich, wie das in solchen Fällen oft geschieht, auf die letzten Lebenstage des Kindes, befragen Tonios Freunde nach seinen Plänen und Taten, dringen dabei ein in eine beginnende Romanze und treiben schließlich sogar noch Bilder einer Überwachungskamera auf, die den Unfall fast zur Gänze eingefangen hat.
Bringt diese eingestandene "Zwangsneurose", der letzten Lebenszeit des geliebten Toten nahe zu sein, Trost? Van der Heijden lässt solche Hoffnung gar nicht erst aufkeimen, wenn er immer wieder seine eigene Lächerlichkeit reflektiert, seine verkehrten und nutzlosen Selbstvorwürfe, seine Zusammenbrüche: "Alles ist beseelt von seinem Verlust." Tonios schöne Freundin Jenny drückt es in der traurig-tröstlichen Schlussszene auf ihre Art aus, wenn sie lange Zeit allein im Dunkel von Tonios Kinderzimmer verweilt und zum Abschied sagt: "Ich glaube wirklich, dass die Toten eine bestimmte Energie für uns hinterlassen." Vielleicht ist es dieses Gefühl, das auch mit dem "Selig sind die Toten" in Brahms' Deutschem Requiem gemeint ist.
Es ist schwer, solch ein Mammutprojekt von Trauerarbeit nach ästhetischen Kriterien zu beurteilen. Doch A. F. Th. van der Heijden ist ohnehin einer der bemerkenswertesten Romanciers, die es im Europa unserer Zeit gibt. Seine - zugegeben zuweilen weitschweifige - Methode, eigenes Leben, eigene Zeitgenossenschaft in mythologischen Sprachzusammenhängen zu einem tausendstimmigen Epos des Alltags zu verweben, verfeinert er bereits seit Jahrzehnten mit echter Besessenheit und arbeitet dabei gleichzeitig an diversen Prosazyklen. Nun wendet er diese Methode lebens- und todesprall, nackt vor seinem Publikum, ohne jede Verfremdung auf sein eigenes Schicksal an - dafür steht schon auf der niederländischen (leider nicht der deutschen) Ausgabe das fotografische Selbstporträt Tonios in Oscar-Wilde-Verkleidung aus der Fotoschule. Das Bild hing beim Autor im Flur, war Tonios Lieblingsbild, diente als Traueranzeige und ist nun Teil von Literatur.
Wir können davon ausgehen, dass Mirjam Rautenstreich, deren mütterliche Verzweiflung und deren im Schmerz fast ertränkte Liebe zum Autor einen Gutteil des Buches ausmachen, mit der Publikation vollkommen konform ging. Bei Verwandten, wie der alles andere als sympathisch und einfühlsam gezeichneten Schwiegermutter, die noch bei der Beerdigung den Verzicht auf jüdische Rituale beklagt und mit dem Friedhof nicht einverstanden ist, dürfte das sicher nicht der Fall sein. Doch das ist dem Autor augenscheinlich egal.
Dass er nach dem Tod des Sohnes an Selbstmord gedacht, den Gedanken aber als vorschnelle Lösung verworfen hat, dürfen die Bewunderer von van der Heijdens Prosa auch der trotzigen Schlussseite entnehmen, auf der in der Werkliste bereits die künftigen Romane verzeichnet stehen. Vielleicht kaputt, aber heroisch wird A. F. Th. also weitermachen. Was ist der Sinn? Diese Frage kommt angesichts der Lakonik des Todes, dieses Todes naturgemäß auf: "Was ist der Sinn, dass Mirjam und ich gut einundzwanzig Jahre lang so einen prächtigen Jungen neben uns hatten, ein Kind, das durch seine pure Lebenslust uns gesund und lebendig hielt" - und das es nun nicht mehr gibt. Die Antwort darauf kann nur sein: Liebe. Die Liebe zum eigenen Sohn hat die Gestalt dieses schwer zu verkraftenden und dennoch unfassbar eindrucksvollen Romans angenommen. Es gibt wenige Bücher, von denen sich das sagen lässt.
DIRK SCHÜMER
A. F. Th. van der Heijden: "Tonio". Ein Requiemroman.
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 671 S., geb., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als der Sohn nach einem Unfall stirbt, beginnt der Vater zu schreiben: In "Tonio" ruft der großartige niederländische Schriftsteller A. F. Th. van der Heijden dem Schicksal seine Verzweiflung entgegen.
Am 23. Mai 2010 verunglückte Tonio van der Heijden frühmorgens in Amsterdam. An den schweren inneren und Hirnverletzungen starb der gerade einmal 21 Jahre alte Mann, nachdem die Ärzte zehn Stunden lang im Operationssaal um sein Leben gekämpft hatten. Eine Tragödie, wie sie nicht gar so selten vorkommt: Alkoholisiert nach einer Fete, mit schlecht beleuchtetem Fahrrad auf einer Kreuzung, deren Ampel ausgestellt ist, zufällig kommt ein Auto vorbei - das klingt so banal, und es beendet ein junges Leben. "Er lässt uns gebrochen zurück", schreiben seine Eltern in der Todesanzeige. Im niederländischen Original klingt das noch niederschmetternder: "Hij laat ons kapot achter." Kaputt. Tonios Vater, A. F. Th. (Adri) van der Heijden, einer der berühmtesten und großartigsten Schriftsteller der Niederlande, kann nun nicht mehr weiterarbeiten und wie besessen seine Gegenwart in Prosa umzaubern. An dieser Schwelle ist die Kraft der literarischen Fiktion zu Ende.
Und dennoch resigniert "A. F. Th." - so sein Künstlernamenskürzel - nicht. Fast gleichzeitig mit dem Todestag seines einzigen Kindes richtet er seine Recherche auf dessen Leben, dessen Sterben. Tonio ist tot, doch es entsteht "Tonio". Ein "Requiemroman", in dem der kaputte Vater wenigstens mit seinen unzureichenden Mitteln, nein: nicht den Verlust verarbeitet oder das Kind weiterleben lässt. Das geht ja nicht. Der Autor tut, was ein Autor eben kann: Er ruft dem Schicksal seine Verzweiflung entgegen, sammelt die Erinnerungen, aus denen ab jetzt das Leben seines Sohnes besteht. Und er stellt sich dabei als niedergeschmettertes Objekt notgedrungen in den Mittelpunkt und feiert ein Requiem auf das eigene Leben. Das Buch, das dabei herausgekommen ist, wurde zur ungeheuerlichen Kraftprobe mit dem eigenen Schmerz. Natürlich hat der Schriftsteller diese Kraftprobe verloren. An der verzweifeltsten Stelle dieses verzweifelten Werkes beschreibt van der Heijden, wie er sich seine Zukunft vorstellt: dass die Zeit keineswegs den Verlust und das Gefühl der totalen Niederlage mildert, sondern dass alles mit den Jahren immer schmerzlicher werden wird. Bis zum eigenen Tod.
Bis zu solchen tiefschwarzen Lektionen aus dem Unfall am "schwarzen Pfingsttag" legt van der Heijden einen schweren Weg zurück. Er schneidet mit der ihm eigenen Detailfreude und Sprachmacht das eigene Erleben des Unfalltages mit zahlreichen Reminiszenzen an Tonios Leben zusammen: Tonios Zeugung, Tonios Geburt, die in die Tage des holländischen Fußballtriumphs bei den Europameisterschaften 1988 fiel. Die Reisen mit seiner Frau Mirjam Rautenstreich ("Minchen") und dem gemeinsamen Jungen, der wie jedes Kind mit den Jahren zur Person heranwächst. Tonio begleitet den Vater, zunehmend gelangweilt, zu Lesungen und Signierstunden. Macht das Abitur, wird zum passionierten Fotografen, bricht ein Studium ab, doch will er nun in Medienwissenschaften bald abschließen.
Ginge es dabei nur um den toten Tonio, würde dieser Roman zu einem traurigen Familienalbum mit Tagebuchschnipseln, wie dies auch andere Eltern, die ihre Kinder überleben mussten, anlegen. Van der Heijden aber, selbsternannter "Homo duplex", mit jeder Wahrnehmung zum Reflektieren und Aufschreiben gezwungen, will sich keineswegs mit "metaphysischer Ornithologie" abgeben und fragen, wo sein totes Kind jetzt wohl sei. Stattdessen fängt der Autor ein, was die Katastrophe mit ihm und aus ihm gemacht hat. Mit einer fotorealistischen Rückhaltlosigkeit, die für den Leser oft nur schwer auszuhalten ist, macht van der Heijden Bilanz. Er schildert bis zu körperlichen Details an den verdreckten Fingernägeln, am verquollenen Gesicht und der erkaltenden Haut den Sterbeprozess seines Kindes, den Vater und Mutter hinter einem Plastikvorhang "im nylongelben Beduinenzelt" auf dem Gang von Amsterdams größter und daher auch unbehaustester Klinik miterleben. Sinnlos läuft in solcher Schreckensstunde das Hirn leer, und auch diese Form dadaistischen Entsetzens erspart sich der Autor nicht: Er vermerkt, wie sein Denken im Moment, da der Arzt jede Hoffnung verneint, sich auf den eigenen Knoblauchatem richtet: ein Addio mit "Aglio olio".
Quälend ausführlich, weil komplett wahrhaftig die Schilderungen der Beerdigung, der namenlosen Wut der Eltern, des Heulens und Schreiens und der von Alkohol und Tabletten begünstigten Agonie. Mit keiner Faser seiner inneren und äußeren Existenz schont der Verfasser dabei weder seine Frau noch sich, legt ihre Leere und ihr Versagensgefühl ohne Rückhalt offen: "Indem ich Tonio gezeugt habe, wurde sein Tod eine der unwillkommenen Möglichkeiten, denen ich ihn auslieferte. Ich habe mit seinem Leben gespielt und verloren." Und dann richten die Eltern sich, wie das in solchen Fällen oft geschieht, auf die letzten Lebenstage des Kindes, befragen Tonios Freunde nach seinen Plänen und Taten, dringen dabei ein in eine beginnende Romanze und treiben schließlich sogar noch Bilder einer Überwachungskamera auf, die den Unfall fast zur Gänze eingefangen hat.
Bringt diese eingestandene "Zwangsneurose", der letzten Lebenszeit des geliebten Toten nahe zu sein, Trost? Van der Heijden lässt solche Hoffnung gar nicht erst aufkeimen, wenn er immer wieder seine eigene Lächerlichkeit reflektiert, seine verkehrten und nutzlosen Selbstvorwürfe, seine Zusammenbrüche: "Alles ist beseelt von seinem Verlust." Tonios schöne Freundin Jenny drückt es in der traurig-tröstlichen Schlussszene auf ihre Art aus, wenn sie lange Zeit allein im Dunkel von Tonios Kinderzimmer verweilt und zum Abschied sagt: "Ich glaube wirklich, dass die Toten eine bestimmte Energie für uns hinterlassen." Vielleicht ist es dieses Gefühl, das auch mit dem "Selig sind die Toten" in Brahms' Deutschem Requiem gemeint ist.
Es ist schwer, solch ein Mammutprojekt von Trauerarbeit nach ästhetischen Kriterien zu beurteilen. Doch A. F. Th. van der Heijden ist ohnehin einer der bemerkenswertesten Romanciers, die es im Europa unserer Zeit gibt. Seine - zugegeben zuweilen weitschweifige - Methode, eigenes Leben, eigene Zeitgenossenschaft in mythologischen Sprachzusammenhängen zu einem tausendstimmigen Epos des Alltags zu verweben, verfeinert er bereits seit Jahrzehnten mit echter Besessenheit und arbeitet dabei gleichzeitig an diversen Prosazyklen. Nun wendet er diese Methode lebens- und todesprall, nackt vor seinem Publikum, ohne jede Verfremdung auf sein eigenes Schicksal an - dafür steht schon auf der niederländischen (leider nicht der deutschen) Ausgabe das fotografische Selbstporträt Tonios in Oscar-Wilde-Verkleidung aus der Fotoschule. Das Bild hing beim Autor im Flur, war Tonios Lieblingsbild, diente als Traueranzeige und ist nun Teil von Literatur.
Wir können davon ausgehen, dass Mirjam Rautenstreich, deren mütterliche Verzweiflung und deren im Schmerz fast ertränkte Liebe zum Autor einen Gutteil des Buches ausmachen, mit der Publikation vollkommen konform ging. Bei Verwandten, wie der alles andere als sympathisch und einfühlsam gezeichneten Schwiegermutter, die noch bei der Beerdigung den Verzicht auf jüdische Rituale beklagt und mit dem Friedhof nicht einverstanden ist, dürfte das sicher nicht der Fall sein. Doch das ist dem Autor augenscheinlich egal.
Dass er nach dem Tod des Sohnes an Selbstmord gedacht, den Gedanken aber als vorschnelle Lösung verworfen hat, dürfen die Bewunderer von van der Heijdens Prosa auch der trotzigen Schlussseite entnehmen, auf der in der Werkliste bereits die künftigen Romane verzeichnet stehen. Vielleicht kaputt, aber heroisch wird A. F. Th. also weitermachen. Was ist der Sinn? Diese Frage kommt angesichts der Lakonik des Todes, dieses Todes naturgemäß auf: "Was ist der Sinn, dass Mirjam und ich gut einundzwanzig Jahre lang so einen prächtigen Jungen neben uns hatten, ein Kind, das durch seine pure Lebenslust uns gesund und lebendig hielt" - und das es nun nicht mehr gibt. Die Antwort darauf kann nur sein: Liebe. Die Liebe zum eigenen Sohn hat die Gestalt dieses schwer zu verkraftenden und dennoch unfassbar eindrucksvollen Romans angenommen. Es gibt wenige Bücher, von denen sich das sagen lässt.
DIRK SCHÜMER
A. F. Th. van der Heijden: "Tonio". Ein Requiemroman.
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 671 S., geb., 26,90 [Euro].
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»Doch A. F. Th. van der Heijden ist ohnehin einer der bemerkenswertesten Romanciers, die es im Europa unserer Zeit gibt.« Dirk Schümer Frankfurter Allgemeine Zeitung 20120914