Studienarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1,3, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Germanistisches Institut), Veranstaltung: Literarische Autobiographien im 18. Jahrhundert, Sprache: Deutsch, Abstract: „Die Erinnerungen aus demselben [scil. meinem eigentlichen Dasein] scheinen mir alle nur Erinnerungen von Erinnerungen zu sein“2, schreibt Karl Philipp Moritz in seinem 1783 im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde erschienenen Artikel „Zur Seelennaturkunde – Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit“. So belehrt er den Leser wage über den Status, den er den frühen Kindheitserinnerungen beimisst, vermutlich weil seine Gedanken selbst noch ebenso wage bleiben. Wie die Erinnerungen an einen Traum, so kommt ihm zum Beispiel die später im Anton Reiser wieder aufgegriffene Idee der Mutter, die ihn, „in ihren Mantel gehüllt, auf dem Arm trug“3, vor und sie wird somit weniger als ein realer Eindruck, mehr als ein Produkt der Einbildungskraft begriffen. Vermittelt scheinen Moritz die frühen Kindheitserinnerungen zu sein, ihr Bezug zu realen Erlebnissen ist dahin gestellt. Seine Gedanken muten uns bei all ihrer Wagheit als ein Vorgriff auf Freud’sche Theoriebildung an. Auch Freud zufolge werden Erinnerungen konstruiert, sie tauchen nicht unvermittelt auf, so wie es unser eigenes Erleben uns häufig glauben lässt. Besonders die frühen Kindheitserinnerungen stehen seiner Meinung nach im Dienste späterer Tendenzen und sind strukturell analog zu Mythen Phantasieprodukte, die als Deckerinnerungen an die Stelle der infantilen Amnesie treten. Goldmann, der die Rahmenbedingung der Gelehrtenautobiographien des 18. Jahrhunderts als ein variables Grundschema detailliert aufzeigt,4 identifiziert unterschiedliche gattungskonstituierende und epochenspezifische Topoi, die sich auch im Anton Reiser wieder finden. Sie lassen sich seiner Ansicht nach allesamt „in sozialanthropologischer Perspektive als Schwellensituationen auffassen“.5 Der Begriff Schwellensituation steht hier für Initiationsprozesse von sozialer Bedeutsamkeit, die das Individuum auf dem Weg hin zur Findung der eigenen Positionierung in Gemeinschaft durchschreitet. Da sich in der damaligen Pädagogik die Einsicht in die Relevanz früher Kindheitserfahrungen für eben jene Positions- und damit Identitätsfindung durchgesetzt hat, beginnt in den autobiographischen Erinnerungen die Fixierung auf die frühesten prägenden Kindheitserlebnisse. == 1 Freud (2000): Seite 553. 2 Moritz (1993): Seite 106. 3 ebd.: Seite 104. 4 Goldmann (1994): Seite 660ff. 5 Goldmann (1994): Seite 668.