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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Martin Pollack zieht Lehren aus seiner Familiengeschichte
"Große Geschichte wird leichter begreifbar, wenn wir sie von unten betrachten, aus der Perspektive einzelner Erfahrungen, Erlebnisse und auch Tragödien", erklärt Martin Pollack zu Beginn seines Essaybandes "Topographie der Erinnerung", um den Leser anstelle eines Vorworts zu einer solchen Tragödie mitzunehmen. Im Schlosspark von Radzejowice hatte Pollacks leiblicher Vater, der SS-Sturmbannführer Gerhard Bast, im Herbst 1944 eine Gruppe von polnischen Geiseln erschießen lassen - sie wurden nicht mehr gebraucht.
Die Erschießung ist belegt, doch hatte Pollack vor Ort partout niemanden gefunden, der sich daran erinnern wollte. Erst lange nach seinen Recherchen meldete sich im letzten Jahr überraschend doch noch ein Zeuge. Inzwischen ein alter Mann, hatte er nach dem Krieg als zwölfjähriger Ministrant den örtlichen Priester zur Exhumierung der Leichen begleitet. Pollack schildert die Erleichterung des Mannes, als er nach siebzig Jahren des Schweigens mit unglaublicher Genauigkeit und grausigen Details vom Erlebten berichtet. Diesem Schweigen eines unschuldigen Zeugen stellt er das Schweigen der Täter gegenüber, seiner eigenen Familie. Sie musste von den Verbrechen des Vaters gewusst haben. Doch als stramme Nationalsozialisten sprachen sie im Nachkriegs-Österreich höchstens vom erfahrenen, nicht jedoch vom zugefügten Leid. Und Pollack selbst hat auch nie danach gefragt.
Bereits im ersten Essay breitet der Autor die zentralen Themen aus, die in den siebzehn folgenden wiederkehren: Ostmitteleuropa, vor allem Polen, das eng mit seiner Biographie und seinem Schaffen verbunden ist. Sein Heimatland Österreich, und wie dort mit den Verstrickungen in den Nationalsozialismus umgegangen wird. Und schließlich die Aufarbeitung seiner Familiengeschichte, mit deren düsteren Seiten er sich immer wieder schonungslos auseinandersetzt. Doch ist diese Konfrontation mit den tragischen und schmerzhaften - aber gelegentlich auch erhebenden - historischen Erfahrungen des zentraleuropäischen zwanzigsten Jahrhunderts keineswegs richtungslos.
Die Konfrontation mit der Geschichte, der eigenen wie auch der fremden, versteht Pollack als Pfad zur eigenen Identität und zum Verstehen der anderen. Es sind meist Erinnerungsschnipsel, viele Fotos und Notizen, oft aus seiner Zeit als "Spiegel"-Korrespondent in Wien und Warschau, um die herum Pollack seine Texte strickt. Wandert er als kleiner Junge mit seinem Großvater im niederösterreichischen Mostviertel, erfährt der Leser nebenbei, dass dieser wegen seiner Nazi-Vergangenheit keine Waffe besitzen und demnach nicht zur Jagd gehen konnte. Doch dämonisiert Pollack seinen Großvater nicht. Der überzeugte Nationalsozialist hatte seine knorrig-liebenswürdigen Seiten.
Mit der scheinbar nebensächlichen Geschichte eines unbekannten, gehörlosen alten Mannes aus dem Prag des Dezember 1989 veranschaulicht Pollack den gesellschaftlichen Wandel dieser Tage. An anderer Stelle wird eine Postkarte von 1900 zum Ausgangspunkt für eine Reflexion über das multikulturelle Lódz, wo damals deutsche Burschenschaftler mit von der Mensur lädiertem Gesicht ebenso im Stadtbild anzutreffen waren wie traditionelle Juden im Kaftan. Dieser Essay endet schließlich bei der Frage, ob man die kommenden Generationen mit der bitteren Wahrheit konfrontieren soll, dass Burschenschaftler mit Schmiss, wie Pollacks leiblicher Vater, dieses Lódz zerstört haben. Überhaupt entpuppt sich Pollack als Sammler alter Fotos. Solche aus Familienbesitz wie die auf dem Einband zu sehenden fröhlichen Kinder beim Hitlergruß sind ebenso darunter wie jenes im Internet erstandene Kriegsfoto eines toten, vermeintlichen polnischen Heckenschützen.
Eindrucksvoll sind Pollacks "Polnische Lektionen", die den Band abschließen. Sie ziehen sich von seinen Kindertagen über die Wiener und Warschauer Studientage bis in die Gegenwart. Dabei sind es die scheinbaren Widersinnigkeiten, die dazu einladen, Sichergeglaubtes zu hinterfragen: Wenn er davon berichtet, als Kind die Heimatvertriebenen in der Nachbarschaft als "Polacken" gehänselt zu haben, obwohl er doch selbst Pollack heißt. Wenn er seine Erlebnisse als Student in Wien festhält, wo er eine prägende Vorlesung zur polnischen Literatur bei Kaffee und Wodka vom exilierten Schriftsteller Artur Marya Swinarski erhalten hatte. Oder wenn er über die Begegnung mit einem jüdischen Bekannten in Warschau auf dem Rückweg vom zerstörten jüdischen Friedhof berichtet, der ihm von den deutschen Unternehmern und Händlern erzählt, die die Stadt mit geprägt hatten, bevor andere Deutsche sie im Zweiten Weltkrieg dem Erdboden gleichmachten.
Martin Pollack vermisst das nahe und doch manchmal fern scheinende Zentraleuropa. In seiner "Topographie der Erinnerung" fördert er dessen Geschichte in Geschichten zutage, die allzu oft keine angenehme, immer aber eine intellektuell anregende Lektüre bieten.
STEPHAN STACH.
Martin Pollack: "Topographie der Erinnerung". Essays.
Residenz Verlag, Salzburg / Wien 2016. 176 S., geb., 21,90 [Euro].
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