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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Marc Degens macht mit seinen vielschichtigen Reiseaufzeichnungen Lust auf Kanada und das süße Autorendasein.
Kann es höfliche Grenzbeamten geben? Durchaus. Auch wenn man dafür über den Atlantik muss. Das "Zollamt" der Vereinigten Staaten empfiehlt der reisende Schriftsteller explizit zur Nachahmung: "Die niedrige Habgier der französischen Beamten ist schon verächtlich genug; aber bei den unsrigen findet man eine mürrische, bäurische Unhöflichkeit, die ebensowohl allen, welche in ihre Hände geraten, mißfällig sein muß, als sie der Nation, die fortwährend an ihren Toren so schlimme Köter knurren läßt, wenig Ehre bringt." Mit "uns" ist freilich das britische Königreich gemeint, schließlich ist es Charles Dickens, der seine durchaus kritischen "Aufzeichnungen aus Amerika" von 1842 mit einer Eloge auf die Höflichkeit in der Neuen Welt beginnt.
Zahlreiche Matadoren der Feder haben seither ihre Erfahrungen im Land der ungebremsten Möglichkeiten in literarischen Reiseberichten niedergelegt. Hier reiht sich nun auch Marc Degens ein, Autor, Formate-Erfinder (meist im Bereich digitaler Autofiktion) und Verlagsgründer (des wackeren Sukultur-Verlags), dessen Erkundungsbasis zwar etwas weiter nördlich lag, aber auch in seinen "Aufzeichnungen aus Kanada" ist Höflichkeit ein zentrales Thema: "Die kanadische Freundlichkeit und das permanente höfliche Entschuldigen haben mich für das Leben in Berlin unbrauchbar gemacht." Es gibt sie, die mentalitätskulturelle longue durée.
Schnell wird klar, was wir bei aller dokumentarischen Akkuratesse dieses sich halb als Tagebuch, halb als Itinerar gerierenden Textes vor uns haben: eine Et-in-Arcadia-ego-Autofiktion, die - auf höfliche Weise - den Abstand der Kulturnationen Kanada und Deutschland vermisst. Degens, der Kanada an der Seite seiner für den DAAD vier Jahre lang das ganze Land bereisenden Ehefrau kennenlernt (eine paradiesische Situation für Autoren), trifft auf eine Gesellschaft, die ohne falsche Scham in innerer Harmonie zu leben scheint: "Gutmensch" als Schimpfwort ist hier undenkbar; dafür bedankt man sich vor vielen Veranstaltungen bei den First Nations dafür, "dass sie das Land mit den Kanadiern teilen".
Kultur in jeder Form, noch in den entlegensten Winkeln hochschätzt, ist das Bindemittel dieser Gesellschaft; sie ist weniger institutionalisiert, sondern eine zwischenmenschliche Größe. Das "gemeindehafte Denken" erklärt für Degens einen guten Teil der nordamerikanischen Mentalität. Entsprechend unprätentiös wirken die Künstler, deren Auftritte oder Begegnungen das Rückgrat dieses Alltag-in-der-Fremde-Buchs darstellen: Von Peaches, Miranda July und Lena Dunham über die Comiczeichner Chester Brown oder Joe Sacco (eine besondere Leidenschaft des Autors), den singenden Schauspieler Kiefer Sutherland, die gefeierte Autorin Zadie Smith und zahlreiche weitere prominente Intellektuelle bis zur lebenden Legende Don DeLillo macht sich niemand der Überheblichkeit schuldig. Man hat es einfach nicht nötig. Adam Green, hierzulande angestaunt wie die Reinkarnation Frank Sinatras, baut in Toronto, wo er für ein paar Dollar auftritt, sogar selbst die Bühne um. Ein Star ohne Starallüren: "Aus Deutschland kenne ich das nur von der Freiwilligen Selbstkontrolle um Michaela Melián und Thomas Meinecke."
Anders als die in die eigene Scheingröße verliebte Berliner Popliteratur-Szene hatte Pop für Degens immer schon etwas jugendschweißtränenhaft Pikarisches, nichts eitel Hippes, sondern etwas Ruhrgebietstrotziges (so in seinen Romanen) und frech Anverwandelndes (in der Kolumne "Unsere Popmoderne" hatte der Autor für diese Zeitung reihenweise inexistente Gegenwartstexte vorgestellt, die es als erfundene von diesem Moment an eben doch gab). Nordamerika ist in dieser Hinsicht nicht unbedingt Pop, sondern so etwas wie die Mutter des Pop: abgeklärt, entspannt und aber in vielerlei Hinsicht der Ursprung all dessen, was man als pubertärer deutscher Dorfpunk erfunden zu haben glaubt. Nur dass das hier alles ganz ohne Aufruhr und Widerstand zu bekommen ist. So zelebriert der Besucher denn sein Bohemienleben im Traumreich des gelebten künstlerischen Austauschs.
Das stilistische Understatement des zumindest partiell anmutigen Textes ("Die Ansicht ist wie in Öl gemalt") lässt sich vielleicht Anverwandlung nennen. Degens maßt sich nicht an, seine Erfahrungen poetisch zu ästhetisieren. Und obwohl das Büchlein aufgrund all der Vermeldungen von Aufwachzeiten und Frühstücksdetails mitunter wirken könnte, als klatschte man uns das nächste Biographie-Projekt um die Ohren, fällt doch auf, wie sehr sich der Autor auf eine aussagekräftige Auswahl konzentriert hat. Zwischen den datierten Einträgen liegen mitunter Monate, erst im Abgang wird es etwas kurzatmiger, wobei auch diese "Twin Peaks"-Fanreise ihre schönen Momente hat. Degens will uns Kanada nicht erklären, er will es uns zeigen und zieht dafür stets die konkrete Beobachtung der philosophischen Großthese vor. Dabei ist auch Platz für Kurioses: Hätte man gewusst, dass der Tomatensoßenverbrauch in Kanada so hoch ist, weil Hundebesitzer ihren Liebling nur durch ein Tomatenbad von den Nachwirkungen eines Stinktierangriffs befreien können? Das könnte aber auch schon wieder eine David-Lynch-Anverwandlung sein. In jedem Fall wird deutlich: Sollte Berlin tatsächlich seinen Eros verlieren, in den Ahornwäldern Arkadiens ist noch Platz.
OLIVER JUNGEN
Marc Degens: "Toronto". Aufzeichnungen aus Kanada.
Mairisch Verlag, Hamburg 2020. 144 S., br., 12,- [Euro].
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