Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der telegrammartige Roman "Tour de chambre" der dänischen Schriftstellerin Tine Høeg ist vor allem eine Tour de mémoire
Die dreiunddreißigjährige Schriftstellerin Asta sitzt an einem Roman über den (wohl fiktiven) polnischen Bildhauer Lysander Milo. Der war ein geheimnisvoller Künstler, der früh unter-, dann wieder auftauchte, schließlich endgültig verschwand und hundert Zementbüsten hinterließ, alles Porträts der Zementfabrikangestellten. Es ist Astas zweites Buch, das ist immer schwierig, sie weiß nicht recht, wie sie es anpacken soll. Da kommt aus heiterem Himmel die Einladung zu einer Gedenkfeier. Zehn Jahre zuvor war völlig überraschend für alle Astas Kommilitone und Freund August an einer seltenen Herzkrankheit gestorben. Die Einladung löst eine Flut verwirrender Erinnerungen an ihre Studienzeit aus, Erinnerungen an August, an ihre beste Freundin Mai und all die anderen. Der Text der Einladung ist der allererste Satz von Tine Høegs (nicht mit Peter Høeg verwandt) neuem Roman.
In ihrem ersten ins Deutsche übersetzten Roman, "Neue Reisende" (F.A.Z. vom 15. Februar 2020), hatten wir es mit zwei Hauptfiguren (eine davon die Icherzählerin) zu tun, um deren Geschichte sich alles drehte. In "Tour de chambre" gibt es auch wieder eine Icherzählerin, nämlich Asta, sowie eine zweite Hauptperson, ihre Freundin Mai. Aber erstens befinden wir uns diesmal in zwei verschiedenen Zeiten, und zweitens steht im Grunde eine ganze Gruppe ehemaliger Studenten im Rampenlicht, die vor zehn Jahren im selben Wohnheim lebten. Sie bildeten eine verschworene Gemeinschaft, fast eine große Familie, die sich täglich sah und das studentische Leben genoss. Man liebt sich, man geht auf Partys und Vernissagen, und man spielt ein Spiel, jene sonderbare "Tour de chambre" aus dem Titel. Dabei steht jedes Zimmer im Wohnheim unter einem bestimmten Thema: Weihnachten, Weißkohl, Heidegger, egal was. Dabei wird ein bisschen gefuttert und eine Menge getrunken, Wodka und Kahlúa, Asti und Absinth.
Aber wie es bei großen Familien so ist und bei einem derart engen Zusammenleben nicht ungewöhnlich, zeigen sich Brüche oder auch Versuchungen, die den Zusammenhalt der Gruppe auf den Prüfstand stellen. Astas Freundin Mai ist mit August zusammen (dass Høeg diese beiden Namen wählt, die auch im Dänischen mit den Monaten der Frühlingssäfte beziehungsweise der reifen Früchte verbunden sind, wäre eine eigene Untersuchung wert). August wiederum kann sein Interesse an Asta nicht verhehlen und schreibt wie sie Gedichte, die Poesie ist ihre gemeinsame Passion.
Das Besondere an Tine Høegs Büchern ist deren Form. Satzfetzen, Textschnipsel, Sinnhäppchen - den telegrammartigen Stil, diese ungewohnte Manier schriftlicher Kommunikation, hat Tine Høeg beibehalten. Schon in "Neue Reisende", der Geschichte einer Obsession, verfuhr sie so; ihre Texte wirken wie Langgedichte, mit Zeilenbrüchen, Leerzeilen, strophenähnlichen Absätzen. Einen Versroman im klassischen Sinne kann man das nicht nennen, es ist eher eine Assoziationskette. In "Neue Reisende" hatte sie unter anderem dem französischen Schriftsteller Edouard Levé gedankt, dessen radikales Buch "Autoportrait" (deutsch bei Matthes & Seitz) ebenfalls isolierte Sätze versammelt: autarke, souveräne Elemente, aus denen der Mensch besteht. Levé schrieb indes eine Art "kubistische Vita", während Tine Høeg eine zusammenhängende, quasilineare Geschichte erzählte, ihre Einzelsätze sind nicht unbedingt Elemente eines Menschen, sondern eines Lebens oder der Geschichte eines Lebens.
So auch in "Tour de chambre", allerdings ist hier die Linearität aufgehoben. Zumindest wissen wir oft nicht auf Anhieb, in welcher Zeit wir uns befinden - geschieht, was wir lesen, jetzt oder vor zehn Jahren? Nicht zufällig haben die Freunde damals eine Serie wie "Lost" gesehen, die ganz ähnlich verwirrend konstruiert ist und in der Vergangenheit und Gegenwart, ja sogar Realität und Vorstellung oder Einbildung verschwimmen.
Trotz alledem zeigt sich hier wieder einmal, dass das Wortkarge, das sogenannte Minimalistische sehr viel stärker wirken kann als das Wortreiche, das Blumige, weil es pointierter ist und auf das Wesentliche weist, ohne zu viel zu verraten. Es muss damit keinesfalls rationaler oder "vernünftiger" sein, sondern enthüllt durchaus innerste Gefühle und tiefliegende Sehnsüchte. Tine Høegs eigenartige Manier neigt freilich auch zum Manieristischen, zur Ausdrucksgebärde; gegen die Harmonie setzt sie die Irregularität, die allerdings und paradoxerweise - nach nun zwei so verwandten Büchern - etwas Regelhaftes, ja sogar Mechanisches annehmen kann.
Høegs aneinandergereihte Fragmente des Alltags haben keine Satzzeichen - die ihr norwegischer Kollege Johan Harstad in seinem Buch "Auf frischer Tat", einer Parodie auf den Avantgardismus, ironisch als "deformative Abscheulichkeiten" bezeichnet hat -, dafür aber viel Luft und Pausen und weiße Stellen. Die vielleicht, wie früher auf Landkarten, Orte und Etappen und Momente im Leben eines Menschen markieren, die noch unerforscht sind und womöglich, wer weiß, nie erforscht werden wollen. PETER URBAN-HALLE
Tine Høeg: "Tour de chambre". Roman.
Aus dem Dänischen von Gerd Weinreich. Droschl Verlag, Graz 2022. 304 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main