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Dreimal wurde Russland im 20.Jahrhundert neu erfunden: im Zuge der Modernisierung des späten Zarenreichs, unter den Kommunisten und nach dem Ende der Sowjetunion. Die Träume, die mit diesen Aufbrüchen verbunden waren, konfrontiert Dietmar Neutatz auf innovative und zugängliche Weise mit der Wirklichkeit, die sich oft genug als Alptraum entpuppte. «Wir wollten das Beste, aber es kam wie immer.» Dieser Satz Viktor ?ernomyrdins ist in Russland zum geflügelten Wort geworden, weil er als gemeinsamer Nenner vieler Anfänge gelten kann, die in Russland im Laufe seiner Geschichte unternommen wurden.…mehr

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Produktbeschreibung
Dreimal wurde Russland im 20.Jahrhundert neu erfunden: im Zuge der Modernisierung des späten Zarenreichs, unter den Kommunisten und nach dem Ende der Sowjetunion. Die Träume, die mit diesen Aufbrüchen verbunden waren, konfrontiert Dietmar Neutatz auf innovative und zugängliche Weise mit der Wirklichkeit, die sich oft genug als Alptraum entpuppte. «Wir wollten das Beste, aber es kam wie immer.» Dieser Satz Viktor ?ernomyrdins ist in Russland zum geflügelten Wort geworden, weil er als gemeinsamer Nenner vieler Anfänge gelten kann, die in Russland im Laufe seiner Geschichte unternommen wurden. Die Reformer des späten Zarenreichs, die Bolschewiki, deren Traum von einer besseren Gesellschaft Millionen Menschen das Leben kostete, aber auch die Marktwirtschaftler der neuen Ära nach dem Ende der Sowjetunion: Sie alle mussten zusehen, wie sehr sich das, was herauskam, von dem unterschied, was sie sich ausgemalt hatten. Anschaulich und mit dem Blick für die Lebenswelten der Menschen schildert Dietmar Neutatz die bewegte Geschichte Russlands seit 1890 und zeigt, welche Antworten dort auf die Herausforderungen des «langen» 20.Jahrhunderts gefunden wurden.

Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.

Autorenporträt
Dietmar Neutatz ist Professor für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Kerstin S. Jobst möchte angesichts der imposanten Gesamtleistung, die der in Ulrich Herberts Reihe "Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert" erscheinende Band von Dietmar Neutatz für sie darstellt, nicht kleinlich sein. Kritik stellt sie daher an den Schluss ihrer Rezension: Mehr Bilder, ein umfangreicherer Index, eine klarere Struktur, meint sie, wären schön gewesen. Außerdem hält sie das Kapitel zu Tschernobyl für unangemessen kurz. Zuvor aber lobt Jobst die anregende wie plausible Herausarbeitung der für Russland im 20. Jahrhundert entscheidenden Brüche und der wachsenden weltpolitischen Bedeutung Russlands durch den Autor. Sie erkennt die dichte Faktengeschichte an und dass Neutatz Alltagskultur und Realitätswahrnehmungen der russischen Stadt- und Landbevölkerung in den Blick nimmt, die kollektive Selbstbespiegelung und die "ontologische Rückständigkeit", zum Beispiel anhand von Gesundheitswesen, Alkoholismus und Demografie untersucht. Bei der Betrachtung des Vielvölkercharakters geht ihr der Autor allerdings zu knausrig vor.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.06.2014

Moskauer Sargnagel, Münchner Bleiwüste
Imposante Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert - lieblos vom Verlag gestaltet

Russland ist nach dem Ende der Sowjetunion ein bedeutender Akteur der Weltpolitik geblieben, ohne den beispielsweise die diplomatische Lösung der Krise Syriens nicht gelingen will. Und innerhalb Europas kann die Europäische Union ohne die Einbeziehung des immer noch größten Staats der Erde seine außenpolitischen Ziele keineswegs immer durchsetzen. Die Relevanz der Russländischen Föderation für ein sich als Wertegemeinschaft verstehendes Europa lässt sich also nicht allein auf den Komplex der Energiesicherheit reduzieren. In der historischen Forschung wird das allmählich breiter rezipiert. Ulrich Herbert, Herausgeber der voluminösen Reihe "Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert", hat die Bedeutung Russlands offenkundig erkannt und einen Band für das seit der Aufklärung immer wieder aus Europa heraus deklinierte Russland in Auftrag gegeben.

Dietmar Neutatz beschränkt sich - den Vorgaben der Reihe entsprechend - auf den Zeitraum der 1890er Jahre bis zur Jahrtausendwende, was die Sechshundert-Seiten-Darstellung dicht und hochkomplex werden lässt. Neben der klassischen Faktengeschichte nimmt er zudem Alltag, Verhaltensmuster und Lebenswelten der Stadt- und Landbevölkerung gekonnt in den Blick. Er fragt nach Wahrnehmungen und Deutungen der Realitäten durch die Menschen, eben nach ihren "Träumen und Alpträumen". Darüber hinaus arbeitet er sich konsequent an der in der kollektiven russischen Eigenwahrnehmung so relevanten Frage nach der Zugehörigkeit zu einem gedachten Europa ab.

Dabei muss er auch dem regelmäßig wiederholten und vor allem von westlichen Intellektuellen erhobenen Vorwurf der ontologischen Rückständigkeit Russlands nachgehen. Zu Recht verweist er auf den partiellen Konstruktionscharakter einer solchen, vielfach reflexhaft erhobenen Zuschreibung und betont zugleich, dass den Parametern Fortschrittlichkeit und Rückständigkeit nicht allein Ideologie, sondern auch durchaus messbare Kriterien zugrunde liegen. Folgerichtig thematisiert er Aspekte wie die infrastrukturellen Verhältnisse oder die Demographie (einschließlich der Faktoren Gesundheitswesen oder des in Russland so relevanten Alkoholismus, nicht aber das vergleichsweise junge, aber dramatische Phänomen der Aidserkrankungen) oder der Alphabetisierungsrate, um Aussagen über den Entwicklungsgrad Russlands im Vergleich mit Westeuropa treffen zu können. Insbesondere die im Zarenreich, aber ebenfalls noch in der Sowjetunion enorm ausgeprägten Diskrepanzen zwischen Stadt und Land werden ausführlich behandelt. Weniger stark fokussiert er die kulturellen Entwicklungen, obgleich diese nicht vollständig fehlen; so veranschaulicht er an einer Stelle am Beispiel eines Liedtextes der in der späten Sowjetunion sehr populären Band "Akwarium" die Gestimmtheit jugendlicher Sowjetbürger und Sowjetbürgerinnen gegenüber dem staatlichen System oder widmet dem im späten Zarenreich und in der frühen Sowjetunion verbreiteten großstädtischen Phänomen des chuligansto (Hooliganismus) einigen Raum. Über die Leistungen russischsprachiger Schriftsteller oder anderer Kunstschaffender erfährt man insgesamt aber wenig.

Eine aus Platzgründen nicht einfache Frage ist die nach der adäquaten Berücksichtigung der nichtrussischen Bevölkerungsgruppen. Neutatz will sie zumindest schlaglichtartig beleuchten. Zweifellos ist es bei einer derart beeindruckenden Gesamtleistung fast kleinlich, sich eine ausführlichere Betrachtung des Vielvölkercharakters zu wünschen, zumal es sich bei allen russisch dominierten Staaten des 20. Jahrhunderts um national heterogene Entitäten handelte. Neutatz nimmt zumeist die Perspektive der russischen Metropole auf die nichtrussischen Peripherien ein, was nicht immer befriedigt.

Zu den Höhepunkten des gelungenen Überblicks gehört die konsequente Einbeziehung der Umweltgeschichte. Der verschwenderische Umgang mit der Natur und seinen Ressourcen war ein besonders gravierendes Problem zumal in der so stark auf Industrialisierung ausgerichteten Sowjetunion. Gerade der in der Endphase von vielen Sowjetrepubliken erhobene Vorwurf, die Zentrale begehe einen Ökozid in der nichtrussischen Peripherie, ist nicht zuletzt für das Verständnis des Auseinanderbrechens der Union von zentraler Bedeutung. Umso erstaunlicher ist es vor diesem Hintergrund, dass dem Faktor Tschernobyl nur wenige Sätze gewidmet sind. Denn diese Katastrophe gilt doch in der Rückschau als ein wesentlicher Nagel im Sarg der Sowjetunion. Alles in Allem ist "Träume und Alpträume" aber ein imposantes Werk, das insbesondere die ausgemachten "drei Neuerfindungen Russlands" im 20. Jahrhundert - die Übergänge vom Zarenreich zur Sowjetunion bis hin zur Russländischen Föderation - plausibel und anregend herausarbeitet.

Die nun folgende Kritik geht in Richtung des Verlags, der nur wenig getan hat, um dieses Buch in Zeiten veränderten Leseverhaltens handhabbar zu machen. Ein Beispiel: Der ebenso spannende wie konsequent vom Autor durchgezogene Einfall, die Selbstdarstellung der jeweiligen russischen staatlichen Gebilde am Beispiel der Auftritte auf den Weltausstellungen zwischen Paris im Jahr 1900 bis hin zur Expo 2000 in Hannover nachzuzeichnen, wird den meisten Lesern verschlossen bleiben, weil das "Anschauungsmaterial" fehlt. Und diejenigen, die sich nur an Teilaspekten der russischen Geschichte im 20. Jahrhundert delektieren möchten, werden sich an der Gestaltung stören: Das fünf Teile und 17 "Querschnitte" (plus Einleitung und Schlussbetrachtung) aufzählende Inhaltsverzeichnis weist Unterkapitel (beispielsweise zu den Weltausstellungen oder der Umweltgeschichte) nicht separat aus. Der Index beschränkt sich auf Personen. Zudem hat der Beck-Verlag dem Textkorpus kein einziges Bild, nicht eine Tabelle oder eine andere optische Auflockerung gegönnt. Die beigegebenen Karten können das Bedürfnis nach Illustration nur sehr eingeschränkt befriedigen.

KERSTIN S. JOBST

Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. Verlag C.H. Beck, München 2013. 688 S., 29,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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