1919, Revolution in München - und alle sind vor Ort: Ernst Toller, Thomas Mann, Erich Mühsam, Rainer Maria Rilke, Gustav Landauer, Oskar Maria Graf, Viktor Klemperer, Klaus Mann ... Wann gab es das schon einmal - eine Revolution, durch die die Dichter an die Macht gelangten? Doch es gibt sie, die kurzen Momente in der Geschichte, in denen alles möglich erscheint ...Von einem solchen Ereignis, der Münchner Räterepublik zwischen November 1918 und April 1919 erzählt Volker Weidermann im Stil einer mitreißenden Reportage, bei der der Leser zum Augenzeugen der turbulenten, komischen und tragischen Wochen wird, die München, Bayern und Deutschland erschütterten.Nach der Vorgeschichte, dem Ende des 1. Weltkriegs und der Absetzung des bayrischen Königs, beginnt der magische Moment, in dem alles möglich erscheint: radikaler Pazifismus, direkte Demokratie, soziale Gerechtigkeit, die Herrschaft der Phantasie. An der Spitze der Rätebewegung stehen die Schriftsteller Ernst Toller, Gustav Landauer und Erich Mühsam, auf die nach den Tagen der Euphorie und der schnellen Ernüchterung lange Haftstrafen oder der Tod warten. In rasantem Tempo und aus der Perspektive von Beteiligten und Beobachtern vor Ort wie Thomas Mann, Klaus Mann, Rainer Maria Rilke, Adolf Hitler, Viktor Klemperer oder Oskar Maria Graf entsteht so ein historischer Thriller über ein einzigartiges Ereignis der deutschen Geschichte.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2017Und wenn er nicht gestorben wär?
Sechs Monate unter einem Regiment von Dichtern: Volker Weidermann und Ralf Höller erzählen in ihren Büchern von der Rolle deutscher Schriftsteller im revolutionären München des Winters 1918/1919.
Von Andreas Platthaus
Zur Zäsur des Geschehens wird ein Mord, bis dahin war alles scheinbar ein Märchen. Am 21. Februar 1919 erschießt ein junger Mann in München auf offener Straße den bayrischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner, und einmal noch, fünf Tage später aus Anlass der Beerdigung, ist die bayrische Landeshauptstadt gegen alle Wahrscheinlichkeit geeint in der Trauer um diesen Mann, einen verkrachten Dichter und Journalisten, der 1907 als Vierzigjähriger aus Berlin erst nach Nürnberg und drei Jahre später von Franken nach München gezogen war, wo er bis zum Jahr 1918 nicht viel gegolten hatte. Ein linker Schreiberling, ein Preuße, ein Jude gar - niemand hätte sich einen wie Eisner an der Spitze Bayerns vorstellen können. Aber als in der Nacht vom 7. auf den 8. November 1918 König Ludwig III. seine Residenz verließ und als erster deutscher Monarch Fersengeld gab, war das Eisner zu verdanken. Der Schöngeist hatte sich im Winter zuvor als Münchner Streikführer der Unabhängigen Sozialdemokraten gegen die Fortführung des Kriegs bewährt, und als nun tatsächlich der Waffenstillstand bevorstand, war es nur konsequent, dass die Arbeiter und Soldaten Eisner folgten und nicht seinem politischen Rivalen Erhard Auer von der SPD. Die hatte ja mehr als vier Jahre lang Burgfrieden gehalten mit dem Kaiser und den anderen deutschen Fürsten, war also diskreditiert. Der neue König hieß Kurt, aber da er selbst an diesem 7. November den Freistaat Bayern proklamiert hatte, wurde der Dichter nur Ministerpräsident. "Freistaat" hieß ja: frei von Fürstenherrschaft.
Bayern nennt sich heute noch so, aber mehr ist von der Dichterherrschaft Kurt Eisners nicht geblieben. Sie endete nach 106 Tagen auf der Promenadestraße in jenem Mord, bei dem auch der Attentäter schwerverwundet wurde; ihn flickte danach kein Geringerer als der legendäre Chirurg Ferdinand Sauerbruch wieder zusammen - und das in Rekordzeit, denn auf einem anderen Operationstisch wartete schon der nächste Patient in Lebensgefahr: Erhard Auer, der von einem Parteigänger Eisners für das Attentat verantwortlich gemacht und im Landtag am Rednerpult niedergeschossen worden war, als er gerade seine Trauerrede auf den ermordeten Ministerpräsidenten hielt. Auer überlebte, und sein Ruf ist bis heute nicht der beste. Doch wenn Eisner nicht gestorben wäre, wie sähen wir ihn heute?
Wohl kaum so, wie Ralf Höller und Volker Weidermann ihn in ihren Büchern darstellen. Genau ein Jahr vor den diversen hundertsten Jubiläen der Revolution haben beide Autoren - der eine ein freier, eher unbekannter Historiker, der andere ein beim "Spiegel" und zuvor bei dieser Zeitung beschäftigter, als Buchautor höchst erfolgreicher Literaturredakteur - jetzt jeweils einen Band herausgebracht über jene sechs Monate von der unblutigen Revolution in München bis zur sehr blutigen Niederschlagung der dortigen Räterepublik, die nicht nur Bayern, sondern seinerzeit tatsächlich auch die Welt erschütterte. Weil damit mehr zerstoben war als eine linke Utopie und letztlich der Traum von der sozialistischen Weltrevolution. Es scheiterte auch das Ideal einer Gelehrtenrepublik. Damals lebten und schrieben (was meist auch politisieren hieß) in München Oskar Maria Graf und Rainer Maria Rilke, Erich Mühsam und Gustav Landauer, Heinrich und Thomas Mann, Lion Feuchtwanger und Victor Klemperer, Ricarda Huch und Gustav Regler, Ret Marut alias B. Traven und Ernst Toller. Alles große bis sehr große Namen der deutschen Literatur, eine Konstellation wie sonst nur im Berlin der zwanziger Jahre, aber unter noch interessanteren, noch konzentrierteren, geradezu phantastischen, weil irrealen Bedingungen. "Das Wintermärchen" heißt Höllers Buch, "Träumer" das von Weidermann, beides sind Elegien. Höller betrauert den Untergang der Utopie, Weidermann den der Phantasie.
Das ist der entscheidende inhaltliche Unterschied. Beide Bücher sind ansonsten exakt gleich lang und lassen die Stimmen der Beteiligten sprechen. Höller sagt es schon im Untertitel: "Schriftsteller erzählen die bayerische Revolution und die Münchner Räterepublik 1918/19". Weidermann hätte dasselbe schreiben können, doch bei seinen "Träumern" steht stattdessen: "Als die Dichter die Macht übernahmen". Damit wird ein weiterer Unterschied suggeriert: Weidermann erzählte selbständig, Höller trüge lediglich zusammen. In Wahrheit benutzen beide fast dieselben Quellen, und wie nicht anders zu erwarten, zitieren sie oft auch genau dieselben Passagen. Nur weist Höller sie jeweils nach, während Weidermann auf Fußnoten verzichtet und zum Schluss eine bloße "Bücherliste" anfügt, aus der man aber nicht erschließen kann, was in "Träumer"denn nun konkret aus Weidermanns Feder stammt und was aus fremder. Es sei denn, man liest beide Bücher.
Dann sieht man, wie viel Weidermanns Schilderung etwa den Revolutionsmemoiren von Oskar Maria Graf, "Wir sind Gefangene", verdankt, teilweise bis in die Übernahme ganzer Dialoge und Beobachtungen hinein. Gleich zu Beginn von "Träumer" erklingt der bei Graf kolportierte markige Schlachtruf vom 7. November: "Aus ist's! Revolution! Marsch!" Höller, der sich länger mit der Vorgeschichte aufhält, lässt diesen Ruf erst auf Seite 66 erschallen, zitiert dabei jedoch explizit aus Grafs Buch, samt dem gleich darauf folgenden Satz: "Ein Älpler juchzte wie beim Schuhplatteln." Der ist bei Weidermann auch zu lesen, allerdings mit einem Absatz Abstand zum Aufschrei der erregten Menschenmasse und ohne Anführungszeichen, wie eine eigene Erzählleistung.
Doch das muss man "Träumer" lassen: Hier wird erzählt, dass es eine Lust ist. Kein Wunder, dass Graf mit seinem quicklebendigen Stil so gut hineinpasst. Und andere auch. Rilke etwa, der früher in München studiert hatte, war während der Kriegszeit wieder in die Stadt gezogen. Weidermann lässt mittels Stakkatostils den seit 1916 in einer Schaffenskrise steckenden Dichter in dessen schwankender Euphorie fürs Geschehen um ihn herum plastisch werden: "Zeitung lesen. Politik bedenken. Wirklichkeit beachten. Irgendwie in der Zeit sein! Nicht wie der Panther im Pariser Jardin des Plantes, über den er Anfang des Jahrhunderts gedichtet hatte: ,Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / Und hinter tausend Stäben keine Welt.' Aber Rilke war ja in der Welt. Er war ja viel zu durchlässig für diese täglichen Katastrophen, es war ja zu viel Weltgeschehen, Brutalität. Lärm überall, Krieg." In der Nacht, in der der Freistaat ausgerufen wurde, saß er jedoch gemeinsam mit der von ihm angeschwärmten Schauspielerin Elya Maria Nevar (deren vollen Namen erfahren wir nur bei Höller) in einem Liederabend und lauschte "Melodien aus alter und ältester Zeit". Weidermann wählt auch zu dieser privaten Atempause der Revolution den genau passenden Ton: "Eine alte Zeit geht zu Ende, eine große Epoche, eine neue hebt an. Rainer Maria Rilke hört der alten Zeit beim Verklingen zu."
Derartige rhetorische Anschmiegsamkeit an den erzählten Gegenstand beweist Höller nicht. Im Gegenteil, in seinem Buch findet man gestelzte Sätze wie "Optisch besitzt der hünenhafte Graf durchaus Vorteile gegenüber dem schmächtigen Zweitvornamensvetter" (gemeint ist auch hier Rilke). Als Autor einer vor achtzehn Jahren erschienenen Ereignisgeschichte der Münchner Räterepublik hat Höller seinen Stoff parat, und ungeachtet des diesmaligen Anspruchs, ihn nun von Schriftstellern erzählen zu lassen, ist es doch wieder der abgeklärte Blick eines Historikers, der hier Ausdruck findet. Die Unterschiede zwischen beiden Büchern sind also weniger inhaltlicher als stilistischer Natur. Zwar erzählen beide im historischen Präsens, doch Höller arrangiert sein Material lediglich, er collagiert es nicht wie Weidermann, dessen Geschick dabei, die Anschlussstellen zwischen fremdem und eigenem Wortlaut und auch die zwischen Dokumentation und Interpretation zu verwischen, ein Textkunststück durchaus eigenen Rechts hervorbringt. Höllers "Wintermärchen" ist ein sachliches Nachschlagewerk, Weidermanns "Träumer" ein sprachlich virtuoses Vorlesebuch.
Markant ist diesbezüglich etwa die Entscheidung für die jeweilige Charakterisierung Kurt Eisners durch dessen eigene Texte. In "Träumer" kommt er mit seinem Gedicht "Gesang der Völker" zu Wort, das mit der Strophe schließt: "Wir schwören zu hören / den Rufern der Freiheit / Wir schirmen in Stürmen / die heiligen Höhn. / Die Menschheit gesunde / In schaffendem Bunde, / Das neue Reich ersteht. / O Welt werde froh! / Welt werde froh!" Weidermann zitiert zwar dabei fehlerhaft "Rufen" statt "Rufern", wodurch Eisner bei ihm als grammatikalisch recht sorgloser Dichter erscheint, aber die Emphase dieses Poems ist eine andere als der Tonfall der bei Höller wiedergegebenen Redeausschnitte wie etwa jener aus der Ansprache des Ministerpräsidenten zur Siegesfeier der Revolution am 17. Dezember 1918 im ehedem Königlichen, jetzt Nationaltheater: "Wir wollen der Welt das Beispiel geben, daß endlich einmal eine Revolution, vielleicht die erste Revolution der Weltgeschichte, die Idee, das Ideal und die Wirklichkeit vereint." Weltanspruchsdenken bei beiden Zitaten, aber im "Gesang" ist das Scheitern schon implizit, weil Eisner sich in dieser "Hymne seiner Revolution" (Weidermann) lyrisch alles andere als revolutionär zeigt.
Die literarische Qualität von Texten jedoch interessiert Weidermann nicht; was ihn umtreibt, sind deren Pathos, Botschaft, Selbstauskünfte. Bei Höller ist es nicht anders, und so wird jeweils die Chance versäumt, neben einer lesenswerten Politabenteuergeschichte auch noch eine Literaturgeschichte zu schreiben. Die nichts Trockenes hätte haben müssen, ja gar nicht haben könnte, denn zur gleichen Zeit triumphierte angesichts der Schrecken des Kriegs auch Dada in Zürich, fand der Expressionismus zur Sprache gleich in mehreren am Krieg beteiligten Völkern, kam aus Russland eine neue politische Diktion der Drastik.
Letztere wenigstens ist in beide Bücher eingegangen: in Form von Lenins Telegramm vom 24. April 1919 an die nach wochenlangen Wirren von den Kommunisten ausgerufene Räterepublik Baiern (diese Schreibweise war eine Marotte Gustav Landauers), die aber schon gescheitert war, als die Nachricht eintraf. Höller zitiert immerhin Lenins ganzen Fragen- oder besser: Forderungskatalog an die bayrischen Revolutionäre, Weidermann beschränkt sich auf den ersten Satz und die Grußformel - die harmlosen Teile, in denen nicht von Geiselnahme, Enteignung, Bewaffnung die Rede ist. Nein, Revolution und Räterepublik waren mehr als Märchen oder Traum. Deshalb waren die Dichter dabei auch fehl am Platze.
Ralf Höller: "Das Wintermärchen". Schriftsteller erzählen die Bayerische Revolution und die Münchner Räterepublik 1918/1919.
Edition Tiamat, Berlin 2017. 288 S., 19 Abb., br., 20,- [Euro].
Volker Weidermann: "Träumer". Als die Dichter die Macht übernahmen.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sechs Monate unter einem Regiment von Dichtern: Volker Weidermann und Ralf Höller erzählen in ihren Büchern von der Rolle deutscher Schriftsteller im revolutionären München des Winters 1918/1919.
Von Andreas Platthaus
Zur Zäsur des Geschehens wird ein Mord, bis dahin war alles scheinbar ein Märchen. Am 21. Februar 1919 erschießt ein junger Mann in München auf offener Straße den bayrischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner, und einmal noch, fünf Tage später aus Anlass der Beerdigung, ist die bayrische Landeshauptstadt gegen alle Wahrscheinlichkeit geeint in der Trauer um diesen Mann, einen verkrachten Dichter und Journalisten, der 1907 als Vierzigjähriger aus Berlin erst nach Nürnberg und drei Jahre später von Franken nach München gezogen war, wo er bis zum Jahr 1918 nicht viel gegolten hatte. Ein linker Schreiberling, ein Preuße, ein Jude gar - niemand hätte sich einen wie Eisner an der Spitze Bayerns vorstellen können. Aber als in der Nacht vom 7. auf den 8. November 1918 König Ludwig III. seine Residenz verließ und als erster deutscher Monarch Fersengeld gab, war das Eisner zu verdanken. Der Schöngeist hatte sich im Winter zuvor als Münchner Streikführer der Unabhängigen Sozialdemokraten gegen die Fortführung des Kriegs bewährt, und als nun tatsächlich der Waffenstillstand bevorstand, war es nur konsequent, dass die Arbeiter und Soldaten Eisner folgten und nicht seinem politischen Rivalen Erhard Auer von der SPD. Die hatte ja mehr als vier Jahre lang Burgfrieden gehalten mit dem Kaiser und den anderen deutschen Fürsten, war also diskreditiert. Der neue König hieß Kurt, aber da er selbst an diesem 7. November den Freistaat Bayern proklamiert hatte, wurde der Dichter nur Ministerpräsident. "Freistaat" hieß ja: frei von Fürstenherrschaft.
Bayern nennt sich heute noch so, aber mehr ist von der Dichterherrschaft Kurt Eisners nicht geblieben. Sie endete nach 106 Tagen auf der Promenadestraße in jenem Mord, bei dem auch der Attentäter schwerverwundet wurde; ihn flickte danach kein Geringerer als der legendäre Chirurg Ferdinand Sauerbruch wieder zusammen - und das in Rekordzeit, denn auf einem anderen Operationstisch wartete schon der nächste Patient in Lebensgefahr: Erhard Auer, der von einem Parteigänger Eisners für das Attentat verantwortlich gemacht und im Landtag am Rednerpult niedergeschossen worden war, als er gerade seine Trauerrede auf den ermordeten Ministerpräsidenten hielt. Auer überlebte, und sein Ruf ist bis heute nicht der beste. Doch wenn Eisner nicht gestorben wäre, wie sähen wir ihn heute?
Wohl kaum so, wie Ralf Höller und Volker Weidermann ihn in ihren Büchern darstellen. Genau ein Jahr vor den diversen hundertsten Jubiläen der Revolution haben beide Autoren - der eine ein freier, eher unbekannter Historiker, der andere ein beim "Spiegel" und zuvor bei dieser Zeitung beschäftigter, als Buchautor höchst erfolgreicher Literaturredakteur - jetzt jeweils einen Band herausgebracht über jene sechs Monate von der unblutigen Revolution in München bis zur sehr blutigen Niederschlagung der dortigen Räterepublik, die nicht nur Bayern, sondern seinerzeit tatsächlich auch die Welt erschütterte. Weil damit mehr zerstoben war als eine linke Utopie und letztlich der Traum von der sozialistischen Weltrevolution. Es scheiterte auch das Ideal einer Gelehrtenrepublik. Damals lebten und schrieben (was meist auch politisieren hieß) in München Oskar Maria Graf und Rainer Maria Rilke, Erich Mühsam und Gustav Landauer, Heinrich und Thomas Mann, Lion Feuchtwanger und Victor Klemperer, Ricarda Huch und Gustav Regler, Ret Marut alias B. Traven und Ernst Toller. Alles große bis sehr große Namen der deutschen Literatur, eine Konstellation wie sonst nur im Berlin der zwanziger Jahre, aber unter noch interessanteren, noch konzentrierteren, geradezu phantastischen, weil irrealen Bedingungen. "Das Wintermärchen" heißt Höllers Buch, "Träumer" das von Weidermann, beides sind Elegien. Höller betrauert den Untergang der Utopie, Weidermann den der Phantasie.
Das ist der entscheidende inhaltliche Unterschied. Beide Bücher sind ansonsten exakt gleich lang und lassen die Stimmen der Beteiligten sprechen. Höller sagt es schon im Untertitel: "Schriftsteller erzählen die bayerische Revolution und die Münchner Räterepublik 1918/19". Weidermann hätte dasselbe schreiben können, doch bei seinen "Träumern" steht stattdessen: "Als die Dichter die Macht übernahmen". Damit wird ein weiterer Unterschied suggeriert: Weidermann erzählte selbständig, Höller trüge lediglich zusammen. In Wahrheit benutzen beide fast dieselben Quellen, und wie nicht anders zu erwarten, zitieren sie oft auch genau dieselben Passagen. Nur weist Höller sie jeweils nach, während Weidermann auf Fußnoten verzichtet und zum Schluss eine bloße "Bücherliste" anfügt, aus der man aber nicht erschließen kann, was in "Träumer"denn nun konkret aus Weidermanns Feder stammt und was aus fremder. Es sei denn, man liest beide Bücher.
Dann sieht man, wie viel Weidermanns Schilderung etwa den Revolutionsmemoiren von Oskar Maria Graf, "Wir sind Gefangene", verdankt, teilweise bis in die Übernahme ganzer Dialoge und Beobachtungen hinein. Gleich zu Beginn von "Träumer" erklingt der bei Graf kolportierte markige Schlachtruf vom 7. November: "Aus ist's! Revolution! Marsch!" Höller, der sich länger mit der Vorgeschichte aufhält, lässt diesen Ruf erst auf Seite 66 erschallen, zitiert dabei jedoch explizit aus Grafs Buch, samt dem gleich darauf folgenden Satz: "Ein Älpler juchzte wie beim Schuhplatteln." Der ist bei Weidermann auch zu lesen, allerdings mit einem Absatz Abstand zum Aufschrei der erregten Menschenmasse und ohne Anführungszeichen, wie eine eigene Erzählleistung.
Doch das muss man "Träumer" lassen: Hier wird erzählt, dass es eine Lust ist. Kein Wunder, dass Graf mit seinem quicklebendigen Stil so gut hineinpasst. Und andere auch. Rilke etwa, der früher in München studiert hatte, war während der Kriegszeit wieder in die Stadt gezogen. Weidermann lässt mittels Stakkatostils den seit 1916 in einer Schaffenskrise steckenden Dichter in dessen schwankender Euphorie fürs Geschehen um ihn herum plastisch werden: "Zeitung lesen. Politik bedenken. Wirklichkeit beachten. Irgendwie in der Zeit sein! Nicht wie der Panther im Pariser Jardin des Plantes, über den er Anfang des Jahrhunderts gedichtet hatte: ,Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / Und hinter tausend Stäben keine Welt.' Aber Rilke war ja in der Welt. Er war ja viel zu durchlässig für diese täglichen Katastrophen, es war ja zu viel Weltgeschehen, Brutalität. Lärm überall, Krieg." In der Nacht, in der der Freistaat ausgerufen wurde, saß er jedoch gemeinsam mit der von ihm angeschwärmten Schauspielerin Elya Maria Nevar (deren vollen Namen erfahren wir nur bei Höller) in einem Liederabend und lauschte "Melodien aus alter und ältester Zeit". Weidermann wählt auch zu dieser privaten Atempause der Revolution den genau passenden Ton: "Eine alte Zeit geht zu Ende, eine große Epoche, eine neue hebt an. Rainer Maria Rilke hört der alten Zeit beim Verklingen zu."
Derartige rhetorische Anschmiegsamkeit an den erzählten Gegenstand beweist Höller nicht. Im Gegenteil, in seinem Buch findet man gestelzte Sätze wie "Optisch besitzt der hünenhafte Graf durchaus Vorteile gegenüber dem schmächtigen Zweitvornamensvetter" (gemeint ist auch hier Rilke). Als Autor einer vor achtzehn Jahren erschienenen Ereignisgeschichte der Münchner Räterepublik hat Höller seinen Stoff parat, und ungeachtet des diesmaligen Anspruchs, ihn nun von Schriftstellern erzählen zu lassen, ist es doch wieder der abgeklärte Blick eines Historikers, der hier Ausdruck findet. Die Unterschiede zwischen beiden Büchern sind also weniger inhaltlicher als stilistischer Natur. Zwar erzählen beide im historischen Präsens, doch Höller arrangiert sein Material lediglich, er collagiert es nicht wie Weidermann, dessen Geschick dabei, die Anschlussstellen zwischen fremdem und eigenem Wortlaut und auch die zwischen Dokumentation und Interpretation zu verwischen, ein Textkunststück durchaus eigenen Rechts hervorbringt. Höllers "Wintermärchen" ist ein sachliches Nachschlagewerk, Weidermanns "Träumer" ein sprachlich virtuoses Vorlesebuch.
Markant ist diesbezüglich etwa die Entscheidung für die jeweilige Charakterisierung Kurt Eisners durch dessen eigene Texte. In "Träumer" kommt er mit seinem Gedicht "Gesang der Völker" zu Wort, das mit der Strophe schließt: "Wir schwören zu hören / den Rufern der Freiheit / Wir schirmen in Stürmen / die heiligen Höhn. / Die Menschheit gesunde / In schaffendem Bunde, / Das neue Reich ersteht. / O Welt werde froh! / Welt werde froh!" Weidermann zitiert zwar dabei fehlerhaft "Rufen" statt "Rufern", wodurch Eisner bei ihm als grammatikalisch recht sorgloser Dichter erscheint, aber die Emphase dieses Poems ist eine andere als der Tonfall der bei Höller wiedergegebenen Redeausschnitte wie etwa jener aus der Ansprache des Ministerpräsidenten zur Siegesfeier der Revolution am 17. Dezember 1918 im ehedem Königlichen, jetzt Nationaltheater: "Wir wollen der Welt das Beispiel geben, daß endlich einmal eine Revolution, vielleicht die erste Revolution der Weltgeschichte, die Idee, das Ideal und die Wirklichkeit vereint." Weltanspruchsdenken bei beiden Zitaten, aber im "Gesang" ist das Scheitern schon implizit, weil Eisner sich in dieser "Hymne seiner Revolution" (Weidermann) lyrisch alles andere als revolutionär zeigt.
Die literarische Qualität von Texten jedoch interessiert Weidermann nicht; was ihn umtreibt, sind deren Pathos, Botschaft, Selbstauskünfte. Bei Höller ist es nicht anders, und so wird jeweils die Chance versäumt, neben einer lesenswerten Politabenteuergeschichte auch noch eine Literaturgeschichte zu schreiben. Die nichts Trockenes hätte haben müssen, ja gar nicht haben könnte, denn zur gleichen Zeit triumphierte angesichts der Schrecken des Kriegs auch Dada in Zürich, fand der Expressionismus zur Sprache gleich in mehreren am Krieg beteiligten Völkern, kam aus Russland eine neue politische Diktion der Drastik.
Letztere wenigstens ist in beide Bücher eingegangen: in Form von Lenins Telegramm vom 24. April 1919 an die nach wochenlangen Wirren von den Kommunisten ausgerufene Räterepublik Baiern (diese Schreibweise war eine Marotte Gustav Landauers), die aber schon gescheitert war, als die Nachricht eintraf. Höller zitiert immerhin Lenins ganzen Fragen- oder besser: Forderungskatalog an die bayrischen Revolutionäre, Weidermann beschränkt sich auf den ersten Satz und die Grußformel - die harmlosen Teile, in denen nicht von Geiselnahme, Enteignung, Bewaffnung die Rede ist. Nein, Revolution und Räterepublik waren mehr als Märchen oder Traum. Deshalb waren die Dichter dabei auch fehl am Platze.
Ralf Höller: "Das Wintermärchen". Schriftsteller erzählen die Bayerische Revolution und die Münchner Räterepublik 1918/1919.
Edition Tiamat, Berlin 2017. 288 S., 19 Abb., br., 20,- [Euro].
Volker Weidermann: "Träumer". Als die Dichter die Macht übernahmen.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 288 S., geb., 22,- [Euro].
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»Eine Einladung in eine Zeit zu gehen, über die wir viel zu wenig wissen. Und eine wunderbare Fülle der Entdeckungen und des Wissenswerten über die Münchner Räterepublik.« Denis Scheck SWR Lesenswert 20180125