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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Wie man sich an der Einsamkeit festhält: Die neuen Gedichte der belarussischen Poetin Volha Hapeyeva.
Von Kerstin Holm
Heimatlos fühlte sich die belarussische Dichterin Volha Hapeyeva eigentlich schon, als sie noch in ihrer Heimatstadt Minsk wohnte, wo das offizielle Leben ihr fremd blieb und wo sie, wie für Intellektuelle in autoritär geführten Ländern üblich, nur in Nischen für sich Bewegungsraum fand. Gleichwohl wurde die promovierte Linguistin und Übersetzerin, die auch an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Vilnius ein Genderstudium absolvierte, zu einer führenden Dichterin in Belarus, wo sie insgesamt vierzehn Bücher herausbrachte. Dabei befasste sie sich früh mit dem russisch- ukrainischen Konflikt, übersetzte zwischen 2017 und 2021 für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), darunter auch Briefe von Gefangenen und deren Verwandten von sowohl ukrainischer als auch prorussischen Seite in Luhansk und Donezk. Damals erbat sich auch ein belarussischer Freund, der ins Gefängnis kam, weil er Bücher verkauft hatte, von ihr Gedichte, obwohl er eigentlich kein Lyrikliebhaber war: In der Krise habe ihm das geholfen. Die 41 Jahre alte Hapeyeva, die heute in München lebt, sich aber als Nomadin definiert, bezeichnet inzwischen auch keine Sprache, sondern die Poesie selbst als ihre Heimat. Nach der Gedichtsammlung "Mutantengarten", dem Roman "Camel Travel" und dem Essay "Verteidigung der Poesie in Zeiten andauernden Exils" ist mit dem Lyrikband "Trapezherz" jetzt die vierte Buchpublikation auf Deutsch in nur zwei Jahren herausgekommen. Der schön gestaltete Band des Literaturverlags Droschl aus Graz, wo Hapeyeva 2013 artist in residence und im belarussischen Schicksalsjahr 2020 Stadtschreiberin war, führt mit Poesie aus den letzten zwanzig Jahren, die Matthias Göritz subtil in deutsche Verse übertragen hat, in ihren literarischen Kosmos. Unter den 73 in freien Rhythmen, ohne Großbuchstaben und nahezu ohne Interpunktion verfassten Gedichten trägt nur eines ein Datum, den August 2020. Es extrapoliert, wie Arbeiter der Stadtreinigung in den frühen Morgenstunden in menschenleeren Straßen "pfützen in denen sich roter himmel mit dem geruch von eisen spiegelt" wegputzen. Es ist eine Beschwörung des auf Sauberkeit erpichten Minsk, wo in jenen Sommertagen die friedlichen Proteste gegen die vermutlich gefälschte Präsidentschaftswahl mit brutaler Polizeigewalt niedergeschlagen und sodann Blutspuren beseitigt wurden. Hapeyeva beschloss damals, nicht nach Belarus zurückzukehren. Doch wie sie mit der eigenen Einsamkeit auch die der Stadtreiniger hervorhebt, an der diese sich angesichts der Zeugnisse polizeilicher Gräueltaten indes geradezu festhalten, darin liegt ein implizites Schuldbekenntnis des Autor-Ichs. Politisch diagnostisch ist auch das große Poem "schwierige arithmetik", das die historische Zirkelbewegung von Hapeyevas Heimatland umreißt. Die spätere Sowjetunion, an die viele heute über Sechzigjährige gern zurückdenken, auch weil es keine Massenverhaftungen wie unter Stalin mehr gab, war komfortabel für Konformisten, die schweigen und "nichtdenken" konnten, während der Staat Bücher zensierte und die Todesstrafe verhängte. Die Perestroika erscheint als Märchenwelt und -wald, wo man an das Gute glauben, sich aber auch verirren kann und wo Angst wächst (Hapeyeva schreibt das deutsche Wort mit kyrillischen Buchstaben). Und während "Vogelstimmen" und "Blumen" von Veränderungen in Nachbarländern künden, ist das eigene nach dreißig Jahren wieder dort angelangt, wo man die Regierung lieben oder schweigen kann und wo Andersdenkende zu einem "spaziergang" in den sprichwörtlichen Wald gebracht - das heißt oft umgebracht - werden. Ein wiederkehrendes Thema ist außerdem die Expropriation des weiblichen Körpers durch Machtstrukturen. Im Strophengedicht "drei kleider" versetzt Hapeyeva sich in die (nur durch ihr Todesdatum kenntlich gemachte) französische Königin Marie Antoinette, die, geboren als Erzherzogin von Österreich, vom dritten Geburtstag an Korsette tragen und sich mit vierzehn, als sie mit dem französischen Thronfolger zwangsverheiratet wurde, bei ihrer Übergabe auf einer Rheininsel von allen Kleidern, Dingen, Erinnerungen trennen und einen neuen Namen annehmen musste. Dass sie zu ihrer eigenen Hinrichtung Weiß trug, erklärt sie damit, dass Trauerfarben ihr verweigert worden seien. Erschütternd ist auch das Poem "trink, kindchen, trink", das durch die liedhafte Aufzählung abtreibender Hausmittel die Nöte einer mittellosen ungewollt Schwangeren vergegenwärtigt. In dem Gedicht "der körper hat am tisch gesessen", das die Widerstände des menschlichen Organismus gegen den sozialen Optimierungsdruck veranschaulicht, beweist Hapeyeva jedoch auch kauzigen Humor. Denn als der Körper nach einer "reparatur" defekt und weniger nachgefragt ist, erschließt sich ihm - durch ein Stück Schokolade - die Freude des Hier und Jetzt. Anmutig ist Hapeyevas lyrische Selbstidentifikation mit Gebrauchsgegenständen wie einem weggeworfenen Damenmantel, den sie trösten möchte, oder Schuhkartons, die ob ihrer Geringschätzung wütend sind. Hier schlägt sich ihre existenzielle Heimatlosigkeit nieder, die dialektisch dazu führt, dass sie alles als Heimat annehmen kann. Programmatisch dafür ist das Gedicht "auf dem planeten erde", das die Einsamkeit der meisten Menschen damit erklärt, dass sie in verschiedenen, Milliarden Lichtjahre voneinander entfernten Sternsystemen beheimatet sind. So kann sie auch in "wieder kommt mir das leben unwirklich vor" ihre eigenen öffentlichen Auftritte (gemeint sein dürften solche in demokratischen Ländern) aus innerer Distanz wie das Erwachsenspielen eines Kindes wahrnehmen. Umso schöner sind ihre Bekenntnisverse in "traurigkeit wird meine eintrittskarte zum vollmond", die vergegenwärtigen, wie Verzweiflung und andere bittere Gefühle in die menschenferne Einöde treibt, während allein die Zärtlichkeit zum Verweilen beim Nächsten einlädt. Volha Hapeyeva: "Trapezherz". Gedichte. Literaturverlag Droschl, Graz 2023. 112 S., geb. 20,- Euro.
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