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'Im Jahr fünfundvierzig bekam meine Mutter die Nachricht, dass es besser wäre, mit mir wegzugehen, da mir Deportation und Gaskammer drohten.' So beginnen Karol Sidons literarische Erinnerungen an seine Kindheit im Prag der Vierziger- und Fünfzigerjahre, an die Bewohner der Stadt und diejenigen, die nicht mehr zurückgekehrt sind – allen voran der Vater, der im KZ Theresienstadt umgebracht wurde. Der kleine Karol, zu diesem Zeitpunkt erst zwei Jahre alt, vermisst ihn trotzdem und deshalb ein Leben lang.

Produktbeschreibung
'Im Jahr fünfundvierzig bekam meine Mutter die Nachricht, dass es besser wäre, mit mir wegzugehen, da mir Deportation und Gaskammer drohten.' So beginnen Karol Sidons literarische Erinnerungen an seine Kindheit im Prag der Vierziger- und Fünfzigerjahre, an die Bewohner der Stadt und diejenigen, die nicht mehr zurückgekehrt sind – allen voran der Vater, der im KZ Theresienstadt umgebracht wurde. Der kleine Karol, zu diesem Zeitpunkt erst zwei Jahre alt, vermisst ihn trotzdem und deshalb ein Leben lang.
Autorenporträt
Karol Sidon, 1942 in Prag geboren, hat an der dortigen Film- und Fernsehakademie studiert und anschließend u. a. als Hörspielautor und Dramaturg gearbeitet. In den Sechzigerjahren trat er erstmals als Schriftsteller in Erscheinung. Er ist Unterzeichner der Charta 77 und war während des Kommunismus im Widerstand aktiv. 1978 konvertierte er zum Judentum. 1983 ging er nach Westdeutschland, um in Heidelberg Judaistik zu studieren. Anfang der Neunzigerjahre kehrte Sidon schließlich nach Tschechien zurück. Ab 1992 war er Oberrabbiner von Prag, jetzt ist er tschechischer Landesoberrabbiner.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2019

Zwischen Königgrätz und Kater Mikesch
Ein Streifzug durch die tschechische Gegenwartsliteratur

Die junge Hana weiß nicht mehr weiter und zieht in einen Schrank. Den hat ihre Schwester auf "schmeissmichnichtweg.cz" annonciert, der Name der Website könnte aber auch Hana meinen. Ihr Freund ist gestorben, es war keine gute Beziehung, sie ist eigentlich erleichtert, hat aber keine Idee, was sie jetzt anfangen soll. Wie machen es bloß die anderen, mit ihren Kindern und Jobs und Wochenendhäuschen, den Kochrezepten und Fernsehsendungen? Ihrer besorgten Mutter erzählt Hana, sie fange demnächst in einer Bank zu arbeiten an, tatsächlich aber wandert sie durchs sommerheiße Prag, beobachtet, wie sich die anderen einrichten, um dann, wenn sie sich eingerichtet haben, unglücklich zu sein, macht Zufallsbekanntschaften und Zufallsjobs, befragt die Vergangenheit und versteckt sich vor der Zukunft.

Was man als Flucht deuten könnte, ist gerade das Gegenteil: Hana lenkt sich nicht ab. "Das also ist die Zeit, in der ich lebe. Das bin ich", sagt sie. Einen Sommer und Herbst lang lässt Tereza Semotamová, die 1983 geborene Autorin von "Der Schrank", ihre Hauptfigur die Freiheit kosten. Erzählt mal nüchtern-sarkastisch, mal komisch-grotesk vom Leerlauf junger und alter Durchschnittsleben im Tschechien der Gegenwart, die sich von denen anderer Bewohnerinnen und Bewohner Mitteleuropas nicht so sehr unterscheiden. In Semotamovás Erzählung finden sich unser aller Selbstbeschwichtigungen, Ausweichmanöver und Lügen, mit denen wir einigermaßen anständig und zufrieden durchs Leben zu kommen hoffen, wobei wir allzu oft vergessen, dass es unser einziges ist, wir es also nicht wegschmeißen sollten.

Der tschechischen Gegenwartsliteratur, die sich in diesem Frühjahr auf der Leipziger Buchmesse präsentiert, kann man vor allem eines bescheinigen: wach zu sein. Vorbei die Zeit, in der die tschechische Prosa vor sich hin dümpelte und man Aufregendes fast nur in der Lyrik fand. Nach der "Samtenen Revolution" war die Zeit der großen Gesellschaftsromane erst mal vorbei, das Genre durch die sozialistische Kulturpropaganda kontaminiert. Jetzt aber lohnt es sich, den lesenden Blick ins Nachbarland zu richten. Eine neue Autorengeneration ist herangewachsen, die die tschechische und mitteleuropäische Gegenwart kartiert und sich mit dem historischen Erbe selbstbewusst auseinandersetzt. Mit mehr als siebzig Neuerscheinungen von 55 Autoren und Autorinnen bekommt das deutschsprachige Publikum in diesem Frühjahr die Chance, die tschechische Literatur in ihrer ganzen Breite zu erkunden und sich dabei von Klischeevorstellungen zu lösen, die von den literarischen Heroen des 20. Jahrhunderts, wie Hasek, Hrabal, Kundera, herrühren.

Im österreichischen Wieser-Verlag sind, in Zusammenarbeit mit Vetrné Mlýny aus Brno, gleich zehn schön gestaltete Bände in einer "Tschechischen Auslese" erschienen, die vor allem Erzählungen präsentieren, unter anderem von Petra Soukupová, Dora Cechova und Markéta Pilátová, allesamt sehr empfehlenswert. Kleine Alltagsgeschichten stehen da neben historischen Grotesken, durchaus auch mal, wie bei Jirí Kratochvil, von einem Pferd erzählt. Erstaunlich kritisch ist der Blick auf das Tschechien der Gegenwart, ein Land, das von Subventionen der Europäischen Union profitiert und trotzdem gegen die EU polemisiert, das von korrupten Politikern regiert wird und in dem nicht wenige Einwohner einen neuen Nationalismus pflegen.

Die in Leipzig auftretenden Autorinnen und Autoren zeigen ein anderes Gesicht: liberal, weltoffen, europafreundlich. Auffallend viele Romane beschäftigen sich mit Themen aus der jüngeren Vergangenheit, die in Tschechien lange Zeit Tabu waren, fragen nach dem Verhalten ihrer Vorfahren während des sogenannten Protektorats, im Holocaust oder bei der Vertreibung der Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Stalinismus der fünfziger Jahre wird ebenso ausgeleuchtet wie die bleierne Zeit der "Normalisierung" nach der Niederschlagung des Prager Frühlings und das Chaos der Nachwendezeit.

Bereits 2006 (2009 auf Deutsch) erschien Radka Denemarkovás Roman "Ein herrlicher Flecken Erde", in dem die 1968 Geborene vom Schicksal einer deutschen Jüdin und KZ-Überlebenden erzählt, die nach ihrer Befreiung wieder Opfer von Gewalt wird, diesmal von tschechischer Seite. Der Roman brach das Schweigen über eines der dunklen Kapitel tschechischer Nachkriegsgeschichte und führte zu einer äußerst polemisch geführten Diskussion. Die 1980 in Brno/Brünn geborene Katerina Tucková begibt sich mit ihrem Roman "Gerta - Das deutsche Mädchen" nun gewissermaßen in Denemarkovás Fußstapfen. Ebenfalls anhand eines Einzelschicksals erzählt sie vom lange verleugneten "Todesmarsch" der deutschsprachigen Brünner nach Ende des Zweiten Weltkriegs, bei dem mehrere tausend Menschen durch Seuchen, Hunger und Gewaltexzesse den Tod fanden. Der Roman, mit einer Auflage von mehr als hunderttausend Exemplaren in Tschechien ein Mega-Bestseller, überrascht durch seine prodeutsche Gesinnung und wird sicher auch hierzulande, trotz seiner nur knapp an Kolportage und psychologischen Klischees vorbeischrammenden Machart, viel gelesen und diskutiert werden.

Von Radka Denemarková liegt zur Messe auch der aktuelle, hochpolitische Roman vor, der den rätselhaften Titel "Ein Beitrag zur Geschichte der Freude" trägt. Zunächst kann man nicht anders, als diesen Titel sarkastisch, wenn nicht gar zynisch zu verstehen, geht es doch um die sexuelle Gewalt, die sich in die Körper missbrauchter Frauen ebenso eingeschrieben hat, wie sie, über die Jahrhunderte hinweg, in das kollektive Gedächtnis aller Frauen eingegangen ist. Was Quelle der Freude sein könnte, wird überall auf der Welt als Instrument der Demütigung, Ausbeutung, Vernichtung eingesetzt, dabei oftmals als Bagatelldelikt abgetan. Im Roman nun sind drei ältere Damen am Werk, die, quasi als weibliche Simon Wiesenthals, in einer Villa in Prag ein riesiges unterirdisches Archiv angelegt haben, in dem sie Tausende Fälle von Gewalt gegen Frauen dokumentieren und Beweise sammeln, um die Täter verfolgen und bestrafen zu können, durchaus auch in Eigenregie.

Wann hat es angefangen, dass Frauen als Menschen zweiter Klasse behandelt werden - das ist die Frage, die Denemarková umtreibt. Wann hat das große Morden begonnen, fragt Jaroslav Rudis, einer der derzeit bekanntesten tschechischen Autoren, in seinem ersten auf Deutsch geschriebenen Roman, "Winterbergs letzte Reise", mit dem der 1972 Geborene für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist. Ein 99-jähriger ehemaliger Sudetendeutscher, Winterberg aus Liberec/Reichenberg, liegt im Krankenhaus und wartet auf den Tod. Sein aus Böhmen, nämlich Vimperk/Winterberg stammender Pfleger aber weckt noch einmal die Lebensgeister in ihm, zusammen begeben sie sich auf eine lange Zugreise durch Mittel- und Südosteuropa, mit dem letzten Vorkriegs-Baedeker für Österreich-Ungarn im Gepäck. Ein abgründiges Setting und ein ungleiches Paar, der eine pausenlos redend, der andere schweigsam. Beide mit einem dunklen Fleck in der Biographie, der zu dem riesigen Blutfleck der Geschichte gehört, die, so meint Winterberg, 1866 in der Schlacht bei Königgrätz begann, als die Preußen die Österreicher besiegten, der Anfang vom Ende der k. u. k. Monarchie und der Beginn des "Dritten Reichs". Nichts lässt sich wiedergutmachen, das weiß der über 500 Seiten sebaldesk-melancholisierende, bernhardesk-kalauernde Rudis, aber es muss erzählt werden. Nur so kommt das Verdrängte ins Bewusstsein und ist Versöhnung möglich. Bewusst doppelbödig agiert Rudis in seinem Roman, wie es der Baedeker schon immer unfreiwillig tut, wenn er neben Museen, Schlössern und Grandhotels auch die Kasernen und Friedhöfe erwähnt, Ausgangs- und Endpunkte der Vernichtung. Verstörend wirkt allerdings, dass Rudis seine beiden Protagonisten ausgerechnet mit der Bahn reisen lässt, dem willfährigen Werkzeug nicht nur des Tourismus, sondern auch des Krieges, und zwar ohne je zu reflektieren, dass auf diesem Schienennetz Millionen Menschen deportiert wurden.

Einer von ihnen war Karol Sidons Vater. Er ist keine ausgedachte Figur, sondern war ein wirklicher Mensch, der ins KZ Theresienstadt gebracht wurde, da war sein Sohn gerade zwei Jahre alt. Der Vater kam nie mehr wieder. Sein Sohn hat ihn immer vermisst, von ihm geträumt, wurde nur ein halber Mensch. "Traum von meinem Vater" heißt Sidons Buch mit Erinnerungen an die vierziger und fünfziger Jahre, in denen er aufwuchs, mit dem Stiefvater, der als Einziger aus seiner Familie den Holocaust überlebt hat, und der Mutter, die unerträglich streng ist, jähzornig und ungerecht. Karol Sidon, 1942 geboren, Filmhochschulstudent, Dramaturg beim berühmten Trickfilmregisseur Trnka, 1977er Chartist, reiste 1983 in die Bundesrepublik aus, studierte Judaistik in Heidelberg, wurde 1992 Oberrabbiner von Prag und ist heute Landesoberrabbiner. Das Buch über seine Kindheit hat er schon 1968, während des Prager Frühlings, veröffentlicht, auf Deutsch kann man es erst jetzt lesen. Es ist schlicht und tief und wahr und macht unendlich traurig.

Denn alles, das lernt man, versteht man bei Sidon, beginnt in der Familie, unter Nachbarn und Freunden. Die Liebe, die Sehnsucht, der Verrat, der Ekel und der Hass. Einer, der das auch am eigenen Leib lernen musste, ist Jáchym Topol, in den achtziger Jahren Dissident und Underground-Dichter, seit seinem Nach-Wende-Anarchie-Roman "Die Schwester" auch in Deutschland bekannt. Jetzt, 25 Jahre später, hat er eine Art Fortsetzung geschrieben, eine umgekehrte Roadnovel, Geschichte einer Heimkehr und sprachliches Wunderwerk, von Eva Profousová in bewundernswertes Deutsch übertragen. "Ein empfindsamer Mensch" heißt der von Topol so bezeichnete "politische Gegenwartsroman", in dem ein schriftstellernder Ex-Dissident mit seiner Familie durch das Europa von 2015 zieht, um nach absurd-abenteuerlicher Reise, inklusive eines Abstechers ins Kriegsgebiet zwischen Ukraine und Russland, im heimatlichen Böhmen zu landen, wo ihn alle erkennen, ihn aber keiner haben will.

Topol verarbeitet in seinem ausufernden Genremix einen Großteil der tschechischen (Kultur-)Geschichte, angefangen bei den beiden Slawenaposteln Kyrill und Method über Jan Hus bis hin zu Kater Mikesch. Wer aber, so fragt man sich inmitten des erzählerischen Chaos zwischen Schrottplätzen, Kleinstadtrummelplätzen und Waldbordellen, skurrilen Dialogen, Saufgelagen und Dorfkeilereien, wer ist bloß dieser titelgebende "empfindsame Mensch"? Etwa der heimatsuchende, dauerflüchtende Vater? Oder sein Sohn, ein frühpubertärer, stummer Autist? Oder eine der vielen anderen im Roman auftretenden Figuren? Am Ende ist dieser Empfindsame wohl kein anderer als der Erzähler Topol selbst, der mit unbestechlichem Blick für die zwischenmenschliche und geschichtliche Verwüstung dieses große böhmische Familienporträt gezeichnet hat und dennoch unbeirrt geblieben ist in seinem Optimismus und seiner Menschenfreundlichkeit.

BETTINA HARTZ.

Radka Denemarková: "Ein Beitrag zur Geschichte der Freude". Aus dem Tschechischen von Eva Profousová. Hoffmann und Campe, 336 Seiten, 24 Euro.

Jaroslav Rudis: "Winterbergs letzte Reise". Roman. Luchterhand, 543 Seiten, 24 Euro Tereza Semotamová: "Im Schrank". Roman. Aus dem Tschechischen von Martina Lisa. Voland & Quist, 288 Seiten, 20 Euro.

Karol Sidon: "Traum von meinem Vater". Aus dem Tschechischen von Elmar Tannert. Ars Vivendi, 216 Seiten, 19 Euro.

Jáchym Topol: "Ein empfindsamer Mensch". Roman. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová. Suhrkamp, 494 Seiten, 25 Euro.

Katerina Tucková: "Gerta - Das deutsche Mädchen". Roman. Aus dem Tschechischen von Iris Milde. Klak, 548 Seiten, 19,90 Euro

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»Und es regt zum Nachdenken an: da kenne ich doch jemanden, der könnte Ähnliches erfahren haben.« »Ein kleines, recht großes Buch liegt jetzt auch auf Deutsch vor.« Ackermann - Andreas Toscano del Banner Der Ackermann