Etwa mit sieben Jahren beginnt es. Neiges Stiefvater nähert sich ihr in der Nacht oder wenn die Mutter nicht im Hause ist. Er wird es immer wieder tun, über Jahre hinweg, bis in die Pubertät hinein. Ein Stiefvater und Vergewaltiger. Wie lebt ein Kind, das sich einer solchen Gewalt ausgesetzt sieht?
Wie überlebt es? Und wie kann man den Menschen davon erzählen, dem eigenen Umfeld, aber auch der…mehrEtwa mit sieben Jahren beginnt es. Neiges Stiefvater nähert sich ihr in der Nacht oder wenn die Mutter nicht im Hause ist. Er wird es immer wieder tun, über Jahre hinweg, bis in die Pubertät hinein. Ein Stiefvater und Vergewaltiger. Wie lebt ein Kind, das sich einer solchen Gewalt ausgesetzt sieht? Wie überlebt es? Und wie kann man den Menschen davon erzählen, dem eigenen Umfeld, aber auch der ganzen Welt? Mit einem Buch wie "Trauriger Tiger" von Neige Sinno, das in der Übersetzung aus dem Französischen von Michaela Meßner bei dtv erschienen ist.
Schon der Anfang strahlt diese Wucht aus, die die Leserschaft während der Lektüre des Buches häufig überfallen wird. Völlig unvermittelt beginnt Neige Sinno nämlich mit dem Versuch des Porträts ihres Peinigers, den sie einst mit ihrer späten Anzeige vor Gericht brachte. Sie wird in der Folge immer wieder damit beginnen. "Denn auch mich interessiert im Grunde vor allem das, was im Kopf des Täters vor sich geht", so lautet der überraschende erste Satz von "Trauriger Tiger", das in Frankreich fünf große Literaturpreise und dazu den Premio Strega Europeo erhielt. "Porträts" und "Gespenster" heißen die beiden Teile des Buches, die sich zunächst um das Umfeld von Neige und ihrer Familie drehen, ehe es in der zweiten Hälfte der gut 300 Seiten eher um die Auswirkungen des Missbrauchs auf die "Überlebenden", wie Neige Sinno die Missbrauchsopfer häufig nennt, und somit auf sie selbst geht.
Wobei die literarischen Auszeichnungen doch etwas überraschend sind. Rein sprachlich ist das Buch nämlich recht unauffällig. Zwar gibt es zwischendurch immer wieder so aufrüttelnde Sätze wie "Man vergewaltigt, um zu existieren", doch in seiner Gesamtheit liest sich "Trauriger Tiger" eher wie eine Mischung aus Sachbuch und Memoir. Das Besondere ist vielmehr Neige Sinnos Zugang zu ihrer so persönlichen Geschichte. Und hier kommt die Literatur dann doch wieder ins Spiel, denn Sinno analysiert und beschreibt ihren langjährigen Missbrauch und die Auswirkungen auf sie, aber auch auf den Täter, auch mithilfe von Büchern und Erzählungen. Ob Nabokovs "Lolita", Hans Christian Andersens "Die wilden Schwäne" oder Emmanuel Carrères "Widersacher" - sie alle spielen eine zentrale Rolle in "Trauriger Tiger".
Positiv hervorzuheben ist, dass das Buch keineswegs voyeuristisch ist. Im Gegenteil, die Darstellung des Grausamen ist erstaunlich sachlich, was einen emotionaleren Zugang zum Buch allerdings teilweise auch verhindert. In dieser Hinsicht konnte "Tiger, Tiger" der mittlerweile verstorbenen Margaux Fragoso mit einem sehr ähnlichen Thema aus dem Jahre 2011 deutlich mehr überzeugen. "Tiger, Tiger", das unverblümt Namenspate für Neige Sinnos Werk ist, hat letztere überraschenderweise aber gar nicht gelesen, obwohl sie sonst nahezu alles zum Thema Missbrauch verschlungen hat. Abgeschreckt hat sie eine negative Kritik, was eine etwas seltsame Entscheidung ist.
Der Zugang über die Literatur ist dennoch ein kluger, wenn auch nicht der einzige Ansatz von Neige Sinno in diesem Buch. Sie reflektiert über die Auswirkungen der jahrelangen Vergewaltigungen, über männliche Sexualität, über Schuld, über die Wirksamkeit von Therapien und Strafen, ja, sogar über das Leben und den Tod. Und es gelingt ihr, dass man auch als Leser:in darüber reflektiert, dass man gezwungen wird, eine Haltung einzunehmen. Schwächer ist das Buch, wenn Sinno sich in ihren Gedankengängen verheddert, unverständlich bleibt und wenn sie einzelne Passagen zu häufig wiederholt.
Zudem wird nicht ganz klar, warum Neige Sinno ihr Buch überhaupt geschrieben hat. Sie wünscht ihm "nicht viele Leser", ja, es widere sie sogar an, aus ihrer Geschichte Kunst zu machen, was man beides nicht besonders glaubwürdig findet. Eine therapeutische Wirkung hatte das Schreiben für sie auch nicht. Warum also auch immer, die Entscheidung war natürlich richtig. Denn "Trauriger Tiger" gelingt es trotz oder wegen des persönlichen Schicksals der Autorin, dass man als Leser:in schockiert und nachdenklich zurückbleibt. Und dass man Neige Sinno, die Überlebende, nicht so schnell wieder vergisst.
3,5/5