Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Das 21. Jahrhundert und der fatale Reiz des Autoritären
Der Historiker Tony Judt warnte vor einem vergessenen 20. Jahrhundert. Es sei ein Säkulum der Krisen und Katastrophen, der Kriege und ideologischen Verwerfungen gewesen. Wer blind an den unumkehrbaren Sieg der Demokratie glaube, sei auf dem Holzweg. Mittlerweile ist zur Gewissheit geworden, wie weit das 21. Jahrhundert von solcher Glückseligkeit und einem "Ende der Geschichte" entfernt ist. Die Stichworte der Zeitdiagnostik haben sich gewandelt: Von absterbenden Demokratien und der Verlockung des Autoritären ist nun die Rede.
Da kommt der von dem Frankfurter Juristen Günter Frankenberg und dem Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer verantwortete Band, der nach den Ursachen und Antriebsmomenten des Autoritären fragt, gerade recht. Gleich eingangs schränken die Herausgeber ihr Vorhaben ein, indem sie sich auf Varianten eines rechten Autoritarismus konzentrieren und aufgrund der zeitlichen Nähe die aktuelle russische Entwicklung ausblenden wollen. Es sei "nicht vorauszusehen" gewesen, heißt es im Vorwort, "dass der russische Präsident einen verbrecherischen Krieg führen würde, der Grundzüge eines faschistischen Systems offenbart". Das klingt plausibel und provoziert doch die Frage: Waren der autoritäre Charakter Russlands unter Putin und dessen expansionistischer Drang nicht schon lange, spätestens seit der Krim-Annexion, deutlich erkennbar?
Gleichwohl ist es legitim, Russland außen vor zu lassen, ebenso China, und auch linken oder islamistischen Autoritarismus nicht thematisieren zu wollen. Dabei werden diese Vorgaben nicht strikt eingehalten. Michael Zürn behandelt in seinem lesenswerten Beitrag über autoritäre Herrschaftsformen im 21. Jahrhundert ausgiebig China als Beispiel für einen "technokratischen Autoritarismus", den er von einem populistischen Typus unterscheidet, der bei weit rechts anzusiedelnden Parteien und Gruppierungen in Europa und den Vereinigten Staaten eine größere Rolle spielt. Beide Erscheinungsformen seien aber die wichtigsten Ausprägungen der derzeitigen "Dynamiken der Autokratisierung". Mit diesem Prozessbegriff nimmt Zürn eine weiterführende Perspektive ein. Er fragt nicht in erster Linie nach den Kennzeichen statischer Herrschaftsformen, sondern nach der Elastik, Bewegungs- und Anpassungsfähigkeit autoritärer Systeme, nach den Bedingungen ihres Aufstiegs, Bestands und Verfalls. Gerade im Falle Chinas und anderer asiatischer Staaten sei auffällig, wie es - überwiegend ohne offene Despotie - gelinge, bei einer Mehrheit der Bevölkerung über Wohlfahrtsgewinne und Aufstiegseuphorie die Zufriedenheit mit dem eigenen politischen System zu befördern.
Dieter Rucht knüpft an diese Überlegungen an und regt zur vermehrten Erforschung autoritärer sozialer Bewegungen an, die bislang im Schatten vergleichbarer demokratischer Initiativen gestanden hätten. Er blickt auf Phänomene des autoritären Populismus, der von materiellen Verlustängsten und der Wahrnehmung einer relativen Deprivation, von einer Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten und einer kulturellen Desorientierung im Zeichen der Globalisierung angetrieben werde. Um im Säurebad der Komparatistik manches noch schärfer herauspräparieren zu können, plädiert Rucht abschließend für einen "Vergleich zwischen rechts- und linksautoritären Bewegungen".
Unterfutter für einen solchen Vergleich stellt in diesem Band Bernd Stegemann bereit, der eine linke Identitätspolitik als Treiber autoritärer Entwicklungen untersucht und kritisiert. Dies sei ihm umso wichtiger, als die "autoritären Züge linker Identitätspolitik ungleich weniger kritisch analysiert" würden "als die historisch bekannteren Aggressionen rechter Identitätspolitik". Voller Sorge beobachte er, wie sehr die Gefahren und der autoritäre Gestus einer linken Identitätspolitik verkannt würden - offenbar deshalb, weil sie verwandt mit den Werten eines liberalen Milieus erscheinen. Diese Täuschung wirke schleichend wie ein wohldosiertes Gift und verhindere so rechtzeitige Gegenwehr.
Wie Stegemann, der so meinungsfreudig wie begründet nach links austeilt, sind die Beiträge, die nach rechts schauen - ob auf die provinziell-kleingeistige AfD, den großspurigen Viktor Orbán oder den ungestüm-frivolen Donald Trump -, nicht immer wertungsfrei empirisch. Wie weit der Horizont über eine Ende-der-Geschichte-Dogmatik mittlerweile hinausreicht, ist daran erkennbar, dass sozialistische Denkmodelle offenbar wieder als salonfähig gelten. Klaus Dörre erneuert seine Überlegungen zu einer "kapitalistischen Landnahme", sinniert über "demokratischen Klassenkampf" und erwägt einen "nachhaltigen Infrastruktursozialismus". Der biete nicht nur die Möglichkeit, gewisse öffentliche Bereiche von privaten Gewinninteressen abzuschirmen, sondern in diesem Raum auch demokratisch-zivilgesellschaftliche Prozesse zu befördern. Und in Betrachtungen über die "Gegenhegemonie zum Autoritarismus" und eine "progressive Flüchtlingspolitik" will Maximilian Pichl einen Solidaritätsappell der Zweiten Internationale von 1907 revitalisieren.
Während im Falle dieser Überlegungen linke Ideen dazu dienen sollen, weit in die demokratische Mehrheitsgesellschaft hineinzuwirken, misstraut umgekehrt eine Reihe von Beiträgern eben jener gesellschaftlichen Mitte. Sie werde nach rechts (außen) zunehmend durchlässig und anfällig für eine "Normalisierung" extrem rechter Denkweisen. Heitmeyers bekannte Thesen zur "rohen Bürgerlichkeit" und zu "rechten Bedrohungsallianzen" weisen in diese Richtung, ebenso Natascha Strobls dünne Diagnose eines "radikalisierten Konservatismus". Man fragt sich, ob diese pathologischen Befunde nicht die demokratische Qualität und - so müsste es heute wohl heißen - Resilienz der Mitte unterschätzen.
Ohne Zweifel ist es aber wichtig, auf die Erosion von Abgrenzungen hinzuweisen. Volker Weiß erinnert an die Diffusionswirkung von Denkmodellen der "konservativen Revolution" von Weimar bis heute. Andere Autoren beobachten den Staat und nicht nur einzelne Phänomene als Treiber des Autoritären - ob im Falle des Einsatzes der Spionagesoftware "Pegasus" oder eines "Leviathan mit Schnabelmaske", wie Günter Frankenberg recht hübsch seine kritische Inventur des Infektionsschutzrechts während der Corona-Krise überschreibt.
Die Herausgeber bescheinigen ihrem Vorhaben gleich zu Beginn selbst, es sei "von höchster aktueller Bedeutung". Wer wollte da widersprechen? Auch wenn der begriffliche Rahmen weit gefasst ist und neben gut formulierten, analyse- und urteilsstarken Aufsätzen solche stehen, die einen eher erkenntnisarmen, selbstreferenziell wirkenden sozialwissenschaftlichen Jargon pflegen, motiviert der Band doch zur weiteren Erforschung des Autoritarismus. Dieses Phänomen des 20. Jahrhunderts, da erwies sich Judts Mahnung als allzu berechtigt, wirkt auch im 21. Jahrhundert höchst vital und herausfordernd. ALEXANDER GALLUS
Günter Frankenberg/ Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Treiber des Autoritären. Pfade und Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2022. 532 S., 45,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main