Wie, oh wie soll man beginnen, „Treue“ von Hernan Diaz zu besprechen? Fangen wir mit dem Grundriss an:
Der erste Teil ist ein Roman des (fiktiven) Schriftstellers Harold Vanner, in dem die Geschichte von Benjamin Rask und seiner Frau Helen erzählt wird. Rask ist als Geschäftsmann an der Wall
Street tätig, während seine Frau mit Empfängen und wohltätigen Projekten den Aufstieg in der…mehrWie, oh wie soll man beginnen, „Treue“ von Hernan Diaz zu besprechen? Fangen wir mit dem Grundriss an:
Der erste Teil ist ein Roman des (fiktiven) Schriftstellers Harold Vanner, in dem die Geschichte von Benjamin Rask und seiner Frau Helen erzählt wird. Rask ist als Geschäftsmann an der Wall Street tätig, während seine Frau mit Empfängen und wohltätigen Projekten den Aufstieg in der Gesellschaft sicherstellt. Rask gelingt es, von dem Börsenzusammenbruch Ende der 1920er auf geradezu skandalöse und verdächtige Weise zu profitieren. Schnell entstehen Gerüchte um und Gerede über das Paar. Als Helen zusätzlich noch psychisch schwer erkrankt, wird sie, auf eigenen Wunsch, in eine Klinik eingewiesen, deren Heilmethoden ihrem Mann missfallen und ihn dazu bewegen, einzugreifen.
In Teil zwei begegnen wir Andrew Bevel, der sich sicher ist, dass Vanners Benjamin Rask ihn, Andrew Bevel, porträtieren soll. Und zwar unzulänglich und rufschädigend. Er setzt alles daran, den Roman aus dem Verkehr zu ziehen, und beschließt, seine eigenen Memoiren zu schreiben, die wahre Geschichte seines Erfolges zu erzählen.
Doch so richtig scheint Bevel mit seiner Geschichte nicht voranzukommen. Jedenfalls engagiert er die junge Ida Partenza, Erzählerin des dritten Teiles, die, nach seinem Diktat, seine Memoiren aufschreiben, und besonders den Stellen über Mildred, der echten Helen, eine weibliche Note geben soll. Es dauert nicht lange, bis Ida merkt, dass Bevel seine Vergangenheit so verschiebt und verformt, wie er sie haben möchte. Und bis Ida sich fragt, wie groß ihr Teil der Verantwortung ist, wenn sie diese Verfälschungen mitgestaltet.
Jahre später wird das Haus der Bevels verkauft und bei einer Durchsicht der Unterlagen stößt Ida auf Mildreds Tagebuch. Den Aufzeichnungen einer sich in einer Klinik befindenden sterbenden Frau.
Alles verstanden? Eine Geschichte, vier Versionen, so kann man es vielleicht am besten zusammenfassen, auch wenn sich die unterschiedlichen Blicke auf das Geschehen weniger ergänzen, als widerlegen. Diaz zeigt hier auf spannende Weise, wie der, der das Wort hat, auch der ist, der festlegt, was als wahr betrachtet wird. Dass die lauteste Stimme die ist, die überlebt. Man fühlt sich an den Spruch erinnert, der besagt, dass Historie von den Gewinnern geschrieben wird. Und dass das, was im Großen zählt, auch für die kleinen Details des Alltags zutreffend ist. Es ist ein tiefes Fass, das Diaz hier aufmacht, einem jede Grundlage für einen Anspruch auf Wahrhaftigkeit entzieht.
Bei den Besprechungen zu „Treue“ bin ich des Öfteren auf den Vergleich mit Edith Wharton gestoßen. Ich habe mich eher an Wilkie Collins erinnert gefühlt, den Meister der Vielstimmigkeit, der in seinen Romanen nicht nur die Erzählperspektiven, sondern auch die Erzählmedien wechselt. Auch Diaz beherrscht diese Kunst ausgezeichnet und auf hohem Niveau.
Zuerst war ich etwas misstrauisch, ob die Idee, jeden Teil von einem anderen Sprecher einlesen zu lassen, wirklich funktioniert. Sie ist naheliegend, aber gerade deswegen hatte ich die Befürchtung, dass es zu gewollt wirken könnte. Aber mit Stephan Schad, Johann von Bülow, Sabine Arnhold und Valerie Tscheplanowa hat der Argon Verlag eine stimmige und überzeugende Gruppe versammelt, die ihre jeweiligen Charaktere passend modulieren und zum Leben erwecken.
Es fällt mir ungewöhnlich schwer, „Treue“ zu rezensieren, weil der größte Teil des Hörerlebnisses auf einer sehr individuellen Basis stattgefunden hat, die nicht leicht zu greifen und noch weniger mitzuteilen ist. Ich wünsche dem Roman jedenfalls viele Leser und freue mich über die Nominierung für den Booker Prize 2022.