Albert Schweitzer war eine Kultfigur, ein ethischer Popstar der jungen Bundesrepublik. Tausende Schulkinder schrieben Briefe an den »Urwalddoktor«, hunderte Straßen wurden nach ihm benannt. Sein legendäres Spital »Lambarene« in Afrika avancierte zum symbolisch aufgeladenen Ort eines Heilungsgeschehens. Exemplarisch zeigt sich gerade am Mythos von »Lambarene« eine Suche nach der Bewältigung untilgbarer Schuld, entstanden durch die Shoah. Caroline Fetscher beleuchtet diesen zentralen Aspekt der Großgruppenpsyche der Bundesdeutschen nach 1945 (Teil I). Im Kontrast dazu erkundet die Autorin das reale, zeithistorische Lambaréné in Äquatorialafrika (Teil II). Erst die postkoloniale Perspektive offenbart vollends die Kluft zwischen Fiktion und Faktizität. Deutlich wird die enorme Dynamik der Projektionen auf ein imaginäres Afrika.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Johann Hinrich Claussen staunt, was die Journalistin Caroline Fetscher über Jahrzehnte an Material gesammelt hat und wie sie damit in ihrem Buch die einstige Kult-Figur entblättert. "Gründe und Abgründe" tun sich vor dem Rezensenten auf, wenn er liest, wie Albert Schweitzer sich in Afrika medial als guter Deutscher in den Mittelpunkt zu rücken wusste (obwohl er französischer Staatsbürger war). Fetscher, lobt Claussen, analysiere, in welche Wunde der Schuld Schweitzer damals sozialpsychologisch stieß, wie er sich mit seinem Krankenhaus in Lambaréné zur gütigen Vaterfigur stilisierte und gleichzeitig die Überlegenheit weißer Menschen propagierte. Dass Schweitzer mit seinem Tod 1965 völlig von der Bildfläche verschwand: Auch das durchleuchte Fetscher, schreibt der Rezensent, der sich offenbar über seine eigene Verklärung von Schweitzer nun sehr wundert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2023Der gütige Deutsche
Caroline Fetscher erklärt in ihrem Buch „Tröstliche Tropen“, woher die seltsame Verehrung von Albert Schweitzer rührt
Um Albert Schweitzer ist es still geworden. Dafür gibt es Gründe. Der Kult um ihn und sein Spital in Lambaréné wurde im Nachkriegswestdeutschland so übertrieben – mehr als 200 Schulen und fast 700 Straßen hat man nach ihm benannt –, dass seit Langem niemand mehr etwas über ihn hören mag. Doch nun hat die Publizistin Caroline Fetscher eine umfang- und materialreiche Studie über die Schweitzer-Verehrung, ihre Gründe und Abgründe, vorgelegt. Viele Jahre hat sie sich damit beschäftigt. In den Neunzigern hat sie sogar Feldstudien in Lambaréné unternommen. Herausgekommen ist ein erschreckend-erhellendes Stück deutscher Zeit-, Mentalitäts- und Mediengeschichte. Man kommt beim Lesen aus dem Staunen und Schaudern kaum mehr heraus.
Begonnen hat alles in Aspen, Colorado. Dort sollte 1949 der 200. Geburtstag von Goethe groß gefeiert werden. Als Ehrengast kam Schweitzer aus Lambaréné, eine mühsame Reise für den 74-Jährigen. Die medial geschürte Begeisterung über den „Goethe unserer Zeit“ wurde zu einer riesigen Welle, die bald auch Deutschland erreichte. Endlich hatte man wieder einen „guten Deutschen“ (der allerdings französischer Staatsbürger war), an dem man sich aus- und aufrichten konnte. Da er aus dem fernen Afrika kam, schien er von der eigenen katastrophalen Schuldgeschichte unberührt zu sein.
Schweitzer wurde zum „Genie der Menschheit“ und Lambaréné zum Sehnsuchtsort verklärt. Bücher, Zeitschriften, Filme, Theaterstücke, Traktate und Unterrichtsmaterialien verbreiteten das neue Evangelium. Es war eine Flut erbaulicher Publikationen, die Fetscher sorgfältig recherchiert hat und einer ideologiekritischen Analyse unterzieht. Am unangenehmsten berühren einen die Briefe von Kindern und Jugendlichen, die die Schule in den Schweitzer-Kult eingeführt hatte. Etwa 70 000 von ihnen sind erhalten.
Sehr überzeugend erklärt Fetscher die sozialpsychologische Funktion des Schweitzer-Kults. Sie verschaffte den Deutschen eine neue, gütige Vaterfigur, in deren Leben sie sich hineinträumen konnten. Das entlastete sie davon, sich der eigenen Biografie und der deutschen Schuld zu stellen. Von ihm wurden sie aber auch eingeführt in eine humane Moral der Ehrfurcht vor jedem Leben – eine notwendige Umerziehung. Zudem konnten sie über die Verehrung Anteil gewinnen an der Sühne, die dieser säkulare Heilige stellvertretend für sie in Afrika leistete. Dabei verschaffte der Mythos vom „weißen Retter“ ihnen ein wohliges Überlegenheitsgefühl gegenüber den Völkern, denen geholfen werden muss. So ließ sich der Vernichtungsrassismus der NS-Zeit durch eine Moralität wohlmeinender Herablassung ersetzen.
Wer aber steckte hinter dem Schweitzer-Kult? Eine zentrale Steuerung scheint es nicht gegeben zu haben. Schweitzer selbst hätte sie in seinem Alter und von Lambaréné aus nicht leisten können, auch wenn er sich den Rummel gefallen ließ. Es war wohl eine spontane, kollektive Leistung, die einen Gesinnungsmarkt schuf, der über lange Zeit bedient werden wollte. Bis sich Übersättigung einstellte und der Bedarf schwand. Als Albert Schweitzer 1965 im Alter von 90 Jahren starb, hörte der Kult schlagartig auf. Der Urwalddoktor hatte seine Schuldigkeit getan und konnte begraben werden.
Rückblickend fragt man sich: Musste das sein? Was wäre die Alternative gewesen? Brauchte es in einer so krassen Umbruchszeit nicht eine solche Figur? Es kann doch kein Zufall gewesen sein, dass sich die Deutschen damals ausgerechnet „ihren“ Schweitzer erfanden. Wie sonst hätte man ihnen ein humanes Ethos nahebringen sollen? Zugleich sieht man von heute aus überdeutlich die Schattenseiten dieses Syndroms, vor allem die Schuldverdrängung und die Vorstellung weißer Überlegenheit. So ist man froh, dass diese Geschichte vorbei ist.
Allerdings sollte man es sich mit der Kritik am altbundesrepublikanischen Schweitzer-Kult nicht zu leicht machen. Wenn man sich manche Lifestyle-Klimaaktivisten ansieht – Schauspieler, Tierfotografen und andere Influencer, die öffentlichkeitswirksam die Natur auf anderen Kontinenten bewahren wollen –, begegnet man immer noch dem Mythos vom weißen Retter, der in der fernen Wildnis Reservate einrichtet und Bäume pflanzt, ohne groß Rücksprache mit den dort Lebenden zu halten. Schweitzer ist eben auch ein Ahnherr mancher NGO heute. Doch wenn man das muffig-kitschige Urwalddoktor-Image abzieht und auf Abstand zur vereinnahmenden Verehrung von damals geht, kann man bei Schweitzer durchaus eine radikale Existenz und einen tragischen Heroismus entdecken, die beide für den ernsthaften Teil der Klimabewegung von Interesse sein dürften.
JOHANN HINRICH CLAUSSEN
Er verschaffte den Deutschen
eine neue Vaterfigur, in deren
Leben sie sich träumen konnten
Nach Albert Schweitzer sind in Deutschland mehr als 200 Schulen und fast 700 Straßen benannt.
Foto: dpa
Caroline Fetscher:
Tröstliche Tropen –
Albert Schweitzer,
Lambarene und die
Westdeutschen nach 1945. Psychosozial-Verlag, Gießen 2023. 820 Seiten, 70 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Caroline Fetscher erklärt in ihrem Buch „Tröstliche Tropen“, woher die seltsame Verehrung von Albert Schweitzer rührt
Um Albert Schweitzer ist es still geworden. Dafür gibt es Gründe. Der Kult um ihn und sein Spital in Lambaréné wurde im Nachkriegswestdeutschland so übertrieben – mehr als 200 Schulen und fast 700 Straßen hat man nach ihm benannt –, dass seit Langem niemand mehr etwas über ihn hören mag. Doch nun hat die Publizistin Caroline Fetscher eine umfang- und materialreiche Studie über die Schweitzer-Verehrung, ihre Gründe und Abgründe, vorgelegt. Viele Jahre hat sie sich damit beschäftigt. In den Neunzigern hat sie sogar Feldstudien in Lambaréné unternommen. Herausgekommen ist ein erschreckend-erhellendes Stück deutscher Zeit-, Mentalitäts- und Mediengeschichte. Man kommt beim Lesen aus dem Staunen und Schaudern kaum mehr heraus.
Begonnen hat alles in Aspen, Colorado. Dort sollte 1949 der 200. Geburtstag von Goethe groß gefeiert werden. Als Ehrengast kam Schweitzer aus Lambaréné, eine mühsame Reise für den 74-Jährigen. Die medial geschürte Begeisterung über den „Goethe unserer Zeit“ wurde zu einer riesigen Welle, die bald auch Deutschland erreichte. Endlich hatte man wieder einen „guten Deutschen“ (der allerdings französischer Staatsbürger war), an dem man sich aus- und aufrichten konnte. Da er aus dem fernen Afrika kam, schien er von der eigenen katastrophalen Schuldgeschichte unberührt zu sein.
Schweitzer wurde zum „Genie der Menschheit“ und Lambaréné zum Sehnsuchtsort verklärt. Bücher, Zeitschriften, Filme, Theaterstücke, Traktate und Unterrichtsmaterialien verbreiteten das neue Evangelium. Es war eine Flut erbaulicher Publikationen, die Fetscher sorgfältig recherchiert hat und einer ideologiekritischen Analyse unterzieht. Am unangenehmsten berühren einen die Briefe von Kindern und Jugendlichen, die die Schule in den Schweitzer-Kult eingeführt hatte. Etwa 70 000 von ihnen sind erhalten.
Sehr überzeugend erklärt Fetscher die sozialpsychologische Funktion des Schweitzer-Kults. Sie verschaffte den Deutschen eine neue, gütige Vaterfigur, in deren Leben sie sich hineinträumen konnten. Das entlastete sie davon, sich der eigenen Biografie und der deutschen Schuld zu stellen. Von ihm wurden sie aber auch eingeführt in eine humane Moral der Ehrfurcht vor jedem Leben – eine notwendige Umerziehung. Zudem konnten sie über die Verehrung Anteil gewinnen an der Sühne, die dieser säkulare Heilige stellvertretend für sie in Afrika leistete. Dabei verschaffte der Mythos vom „weißen Retter“ ihnen ein wohliges Überlegenheitsgefühl gegenüber den Völkern, denen geholfen werden muss. So ließ sich der Vernichtungsrassismus der NS-Zeit durch eine Moralität wohlmeinender Herablassung ersetzen.
Wer aber steckte hinter dem Schweitzer-Kult? Eine zentrale Steuerung scheint es nicht gegeben zu haben. Schweitzer selbst hätte sie in seinem Alter und von Lambaréné aus nicht leisten können, auch wenn er sich den Rummel gefallen ließ. Es war wohl eine spontane, kollektive Leistung, die einen Gesinnungsmarkt schuf, der über lange Zeit bedient werden wollte. Bis sich Übersättigung einstellte und der Bedarf schwand. Als Albert Schweitzer 1965 im Alter von 90 Jahren starb, hörte der Kult schlagartig auf. Der Urwalddoktor hatte seine Schuldigkeit getan und konnte begraben werden.
Rückblickend fragt man sich: Musste das sein? Was wäre die Alternative gewesen? Brauchte es in einer so krassen Umbruchszeit nicht eine solche Figur? Es kann doch kein Zufall gewesen sein, dass sich die Deutschen damals ausgerechnet „ihren“ Schweitzer erfanden. Wie sonst hätte man ihnen ein humanes Ethos nahebringen sollen? Zugleich sieht man von heute aus überdeutlich die Schattenseiten dieses Syndroms, vor allem die Schuldverdrängung und die Vorstellung weißer Überlegenheit. So ist man froh, dass diese Geschichte vorbei ist.
Allerdings sollte man es sich mit der Kritik am altbundesrepublikanischen Schweitzer-Kult nicht zu leicht machen. Wenn man sich manche Lifestyle-Klimaaktivisten ansieht – Schauspieler, Tierfotografen und andere Influencer, die öffentlichkeitswirksam die Natur auf anderen Kontinenten bewahren wollen –, begegnet man immer noch dem Mythos vom weißen Retter, der in der fernen Wildnis Reservate einrichtet und Bäume pflanzt, ohne groß Rücksprache mit den dort Lebenden zu halten. Schweitzer ist eben auch ein Ahnherr mancher NGO heute. Doch wenn man das muffig-kitschige Urwalddoktor-Image abzieht und auf Abstand zur vereinnahmenden Verehrung von damals geht, kann man bei Schweitzer durchaus eine radikale Existenz und einen tragischen Heroismus entdecken, die beide für den ernsthaften Teil der Klimabewegung von Interesse sein dürften.
JOHANN HINRICH CLAUSSEN
Er verschaffte den Deutschen
eine neue Vaterfigur, in deren
Leben sie sich träumen konnten
Nach Albert Schweitzer sind in Deutschland mehr als 200 Schulen und fast 700 Straßen benannt.
Foto: dpa
Caroline Fetscher:
Tröstliche Tropen –
Albert Schweitzer,
Lambarene und die
Westdeutschen nach 1945. Psychosozial-Verlag, Gießen 2023. 820 Seiten, 70 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de