"Und während wir noch ironisch verharmlosen, tanzt das ›Neue Denken‹ wie Rumpelstilzchen ums Feuer. Heute hol ich mir den Heimatbegriff, morgen das Volk, und übermorgen setze ich in die Praxis um, was hinter der Rhetorik steckt." Am Vorabend des Erntedankfestes besteigen Lou und Ottilie einen seniorengerechten Vier-Sterne-Reisebus, um eine Reise nach Thüringen und in die deutsche Vergangenheit anzutreten – zum Kyffhäuser-Denkmal. Lous zwanzigjähriger Sohn Anatol sitzt derweil betrunken in einem Flugzeug von den USA nach Deutschland und rekapituliert vor zwei Spielzeugnilpferden seinen Versuch, mit Hilfe einer Fruchtbarkeits-App eine Bilderbuchfamilie zu gründen. Und während die deutschtümelnde Leipziger Kleingartenanlage für das Erntedankfest aufrüstet, bereitet sich auch Karola auf die Verteidigung der Heimat vor, denn sie hat es satt, sich vom Kapitalismus ihre Geschichte diktieren zu lassen. 48 Stunden später kommt es zum Showdown: Anatol fesselt Karola an einen Baum, Kohlköpfe werden gesprengt und alle von ihrer eigenen Geschichte eingeholt, bis hin zur furchtbaren "Aktion Erntefest" 1943 im Generalgouvernement Polen. Die Tür zwischen Fiktion und Realität ist in diesem rasanten Roman weit aufgerissen. Im Stil einer literarischen Kreissäge fräst sich "Trümmerfrauen" durch deutsche Geschichte und lässt Lebenswirklichkeiten aus Ost und West, Gegenwart und Vergangenheit aufeinanderprallen. Eine kämpferische Erzählstimme, die trotz ihrer berechtigten Wut nie die Empathie für ihre Figuren verliert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2020Im Nilpferd steckt der Trost
Romantitel verpflichten: Christine Koschmieder hätte bei den "Trümmerfrauen" bleiben sollen.
Von Melanie Mühl
Alle Vergangenheit ist Gegenwart. Ottilie, eine geistig rüstige Rentnerin von Anfang achtzig, hat ihren Rosenstöcken die Namen von Wehrmachtsangehörigen gegeben, die sich der "Rechtsbeugung im Interesse nationalsozialistischer Volkstumspolitik nicht beugen wollen". Anstatt nur hübsch auszusehen, verkörpern die Rosenstöcke in Ottilies verwaistem Leipziger Laubengarten die Möglichkeit individueller Handlungsspielräume. Jeder entscheidet sich immer wieder aufs Neue: für das Gute oder eben für das Böse.
Lou, deren Kindheitstraumata unbeirrt im Jetzt wüten, hat ebenfalls einen Hang dazu, das nicht Greifbare zu benennen. Ihre Dämonen heißen Holly Golightly, Evelyn Couch und Randall Boogs und hindern sie daran, sich der Liebe hinzugeben, ihr Leben in den Griff zu kriegen und aus der gefühlten Unsichtbarkeit in die Sichtbarkeit zu treten. Kurz gesagt: Lou ist ein Psychowrack. Und da wäre noch Anatol, Lous Sohn, der beherzt in die Fußstapfen der Mutter tritt, obwohl er sich nach Amerika auf und davon gemacht hat.
Der Leser lernt ihn auf einem amerikanischen Flughafen kennen, wo er auf den Rückflug in die Heimat wartet - betrunken und im regen Austausch mit zwei Spielzeugnilpferden namens Gino und Eddie. Therapeuten müssen ihren Patienten schließlich nicht immer antworten, manchmal hilft es bereits, seinen seelischen Müll bei zwei Überraschungsei-Figuren abzuladen.
Obwohl es sich verbietet, Klappentexte zu zitieren, kommt man bei "Trümmerfrauen" von Christine Koschmieder nicht drum herum. Dort steht Folgendes: "Wie eine literarische Kreissäge fräst sich ,Trümmerfrauen' durch deutsche Geschichte und lässt Lebenswirklichkeiten aus Ost und West, Gegenwart und Vergangenheit aufeinanderprallen."
Ja, denkt man, genau, eine Kreissäge, so hört sich das an! Koschmieders Prosa hat bisweilen diesen nervtötenden, aggressiv machenden Sound, der sich zu einem Ärgernis zuspitzt, sobald sie aus Anatols Perspektive erzählt, der "total" deprimiert ist, weil ihn seine große Liebe, mit der er digital unterstützt ein Kind kriegen wollte, abserviert hat. Trotz der gemeinsam installierten Fruchtbarkeits-App Glow sowie akribischer Beobachtung und Dokumentation der Zervixschleim-Produktion (Ausfluss) hat es nicht funktioniert mit den beiden. Und das klingt beispielsweise so: "Ich war jedenfalls total dankbar, dass der User-Support von Glow erkannt hat, wie viele Fruchtbarkeitsanalphabeten sich da draußen rumtreiben, deren Kenntnisse des weiblichen Fortpflanzungsapparats sich darauf beschränken, dass es fruchtbare Tage gibt und es gilt, die eigenen Spermien termingerecht auf die Eizelle der Frau abzuschießen, wenn das mit dem Kind klappen soll. Und, schon klar, dass das jetzt nicht gerade klassische Smalltalk-Themen sind, deswegen hat Glow die Kategorie ja auch ,Taboo Tuesday' gelabelt."
Zum Glück geht es in "Trümmerfrauen" nicht hauptsächlich um Anatol, seine Ex und Zervixschleim, sondern auch um Lous und Ottilies Kaffeefahrt zum Kyffhäuser, eine Kleingartensiedlung, deren Bewohner "Reise in die völkische Vergangenheit spielt", Ost und West, Heimat und Heimatscham, Schuld und Sühne.
Man muss allerdings ein bisschen Geduld aufbringen, bis sich eine gewisse Nähe zu Lou und Ottilie einstellt, wobei die starrköpfige Dame mit dem Barlachgesicht, die stets Haltung bewahrt und selbst auf ihren acht Quadratmetern im Pflegeheim Andersen Nexö ein eigenes Reich samt elektrischer Kochplatte und manipuliertem Temperaturfühler geschaffen hat, einem tatsächlich ans Herz wächst. Gegen die feindliche Übernahme ihres Schrebergartens jedenfalls geht der Enkel Anatol mit Entschiedenheit vor und malträtiert die neugepflanzten Kohlköpfe bis zur Unkenntlichkeit. Das ist eine Heldentat am Schluss, die einen selbst mit diesem liebeskummerkranken Nilpferdfreund versöhnt.
Christine Koschmieder: "Trümmerfrauen".
Ein Heimatroman.
Edition Nautilus, Hamburg 2020. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Romantitel verpflichten: Christine Koschmieder hätte bei den "Trümmerfrauen" bleiben sollen.
Von Melanie Mühl
Alle Vergangenheit ist Gegenwart. Ottilie, eine geistig rüstige Rentnerin von Anfang achtzig, hat ihren Rosenstöcken die Namen von Wehrmachtsangehörigen gegeben, die sich der "Rechtsbeugung im Interesse nationalsozialistischer Volkstumspolitik nicht beugen wollen". Anstatt nur hübsch auszusehen, verkörpern die Rosenstöcke in Ottilies verwaistem Leipziger Laubengarten die Möglichkeit individueller Handlungsspielräume. Jeder entscheidet sich immer wieder aufs Neue: für das Gute oder eben für das Böse.
Lou, deren Kindheitstraumata unbeirrt im Jetzt wüten, hat ebenfalls einen Hang dazu, das nicht Greifbare zu benennen. Ihre Dämonen heißen Holly Golightly, Evelyn Couch und Randall Boogs und hindern sie daran, sich der Liebe hinzugeben, ihr Leben in den Griff zu kriegen und aus der gefühlten Unsichtbarkeit in die Sichtbarkeit zu treten. Kurz gesagt: Lou ist ein Psychowrack. Und da wäre noch Anatol, Lous Sohn, der beherzt in die Fußstapfen der Mutter tritt, obwohl er sich nach Amerika auf und davon gemacht hat.
Der Leser lernt ihn auf einem amerikanischen Flughafen kennen, wo er auf den Rückflug in die Heimat wartet - betrunken und im regen Austausch mit zwei Spielzeugnilpferden namens Gino und Eddie. Therapeuten müssen ihren Patienten schließlich nicht immer antworten, manchmal hilft es bereits, seinen seelischen Müll bei zwei Überraschungsei-Figuren abzuladen.
Obwohl es sich verbietet, Klappentexte zu zitieren, kommt man bei "Trümmerfrauen" von Christine Koschmieder nicht drum herum. Dort steht Folgendes: "Wie eine literarische Kreissäge fräst sich ,Trümmerfrauen' durch deutsche Geschichte und lässt Lebenswirklichkeiten aus Ost und West, Gegenwart und Vergangenheit aufeinanderprallen."
Ja, denkt man, genau, eine Kreissäge, so hört sich das an! Koschmieders Prosa hat bisweilen diesen nervtötenden, aggressiv machenden Sound, der sich zu einem Ärgernis zuspitzt, sobald sie aus Anatols Perspektive erzählt, der "total" deprimiert ist, weil ihn seine große Liebe, mit der er digital unterstützt ein Kind kriegen wollte, abserviert hat. Trotz der gemeinsam installierten Fruchtbarkeits-App Glow sowie akribischer Beobachtung und Dokumentation der Zervixschleim-Produktion (Ausfluss) hat es nicht funktioniert mit den beiden. Und das klingt beispielsweise so: "Ich war jedenfalls total dankbar, dass der User-Support von Glow erkannt hat, wie viele Fruchtbarkeitsanalphabeten sich da draußen rumtreiben, deren Kenntnisse des weiblichen Fortpflanzungsapparats sich darauf beschränken, dass es fruchtbare Tage gibt und es gilt, die eigenen Spermien termingerecht auf die Eizelle der Frau abzuschießen, wenn das mit dem Kind klappen soll. Und, schon klar, dass das jetzt nicht gerade klassische Smalltalk-Themen sind, deswegen hat Glow die Kategorie ja auch ,Taboo Tuesday' gelabelt."
Zum Glück geht es in "Trümmerfrauen" nicht hauptsächlich um Anatol, seine Ex und Zervixschleim, sondern auch um Lous und Ottilies Kaffeefahrt zum Kyffhäuser, eine Kleingartensiedlung, deren Bewohner "Reise in die völkische Vergangenheit spielt", Ost und West, Heimat und Heimatscham, Schuld und Sühne.
Man muss allerdings ein bisschen Geduld aufbringen, bis sich eine gewisse Nähe zu Lou und Ottilie einstellt, wobei die starrköpfige Dame mit dem Barlachgesicht, die stets Haltung bewahrt und selbst auf ihren acht Quadratmetern im Pflegeheim Andersen Nexö ein eigenes Reich samt elektrischer Kochplatte und manipuliertem Temperaturfühler geschaffen hat, einem tatsächlich ans Herz wächst. Gegen die feindliche Übernahme ihres Schrebergartens jedenfalls geht der Enkel Anatol mit Entschiedenheit vor und malträtiert die neugepflanzten Kohlköpfe bis zur Unkenntlichkeit. Das ist eine Heldentat am Schluss, die einen selbst mit diesem liebeskummerkranken Nilpferdfreund versöhnt.
Christine Koschmieder: "Trümmerfrauen".
Ein Heimatroman.
Edition Nautilus, Hamburg 2020. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main