Wie konnte in tausend Tagen so viel passieren? Wer sich nach einem halben Jahrhundert wiederbegegnet, muss auf Überraschungen gefasst sein. Hans Magnus Enzensberger hat sich auf dieses Abenteuer eingelassen: Ein zufälliger Kellerfund gab den Anlass für eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. 1963 führt den Autor eine erste Reise nach Russland, und unverhofft wird er zum Gast auf Chruschtschows Datscha in Gagra. Das Ergebnis ist ein genaues Porträt des Mannes und der sowjetischen »Tauwetter«-Politik dieser Zeit. Drei Jahre später durchreist Enzensberger die UdSSR vom äußersten Süden bis nach Sibirien. Auf diesem Parforceritt nehmen die Verwicklungen des »russische Romans«, der konfliktreichen Beziehung zu seiner zweiten, russischen Frau, ihren Anfang. 1968/1969 gerät der Dichter dann in eine Phase des politischen und privaten Tumults. Mitten im Vietnamkrieg folgt er einer Einladung an die Wesleyan University, aber schon nach wenigen Monaten lockt das Kuba der Revolution. Doch sind die Fraktionskämpfe der außerparlamentarischen Opposition in Berlin nicht so weit entfernt, als dass der Dichter nicht auch auf diesem Schauplatz zum Akteur würde ...
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2014Das Marmorierte im Menschen
Im Gespräch mit seinem jüngeren Ich: Hans Magnus Enzensbergers Erinnerungen an die sechziger Jahre sind höchster Literaturgenuss und ein Meisterstück der Ironie.
Dieses Buch ruft ständig den Satz eines anderen Dichters in Erinnerung: "In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen." Das, was Brecht 1927 im Gedicht "Vom armen B. B." feststellte, das bekräftigt Hans Magnus Enzensberger in seinem neuen Buch "Tumult" für sich selbst mit Lust. Eine Kostprobe? Lieber gleich zwei, drei. Zum Beginn der Studentenproteste im Jahr 1967 schreibt Enzensberger lapidar: "Ich war nicht dabei. Ich war wieder einmal woanders." Wenig später heißt es: "Ich habe das meiste vergessen und das Wichtigste nicht verstanden." Und: "Mehr als eine Nacht hinter Gittern habe ich nicht vorzuweisen. Einen deutlicheren Beweis für meine Harmlosigkeit kann es kaum geben." Warum sollten uns die Erinnerungen eines Mannes an die sechziger Jahre interessieren, der abwesend, unverständig und harmlos war und unverändert zu sein behauptet?
Weil er all das nicht war oder ist. Es war Enzensberger, zu dem sich Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin mit Andreas Baader 1970 aufmachten, nachdem sie diesen gerade gewaltsam befreit und damit den Geburtsakt der RAF vollzogen hatten - der Hausherr wies ihnen die Tür mit Verweis darauf, dass er polizeilich überwacht werde. Es war Enzensberger, in dessen Wohnung 1967 die Kommune 1 ihr erstes Domizil fand - der Hausherr weilte auf Reisen in Italien. Es war Enzensberger, der als einziges deutsches Mitglied einer internationalen Schriftstellerdelegation 1963 ins Ferienquartier des sowjetischen Staatschefs Nikita Chruschtschow eingeladen wurde - der Hausherr erwies sich als schlichtes Gemüt, wie sein alles andere als schlichter Besucher in einem beispiellosen Kabinettstück der Porträtkunst festgehalten hat (F.A.Z. vom 18. Oktober). Doch all dies, so beteuert Enzensberger jedes Mal, widerfuhr ihm ohne eigenes Zutun, auch "daß ich aus reinem Zufall, um nicht zu sagen aus Versehen, bei Chruschtschow in seiner Sommerresidenz zu Gast war".
Zufall aber ist bei Enzensberger gar nichts. Spätestens seit er 1963 als erst Dreiunddreißigjähriger den Büchnerpreis zugesprochen bekam, ist er eine maßgebliche Stimme nicht nur der deutschen Literatur, und diesen Status hat er durch nimmermüde publizistische und auch politische Aktivitäten gestärkt, ohne dabei wie seine Generationsgenossen Günter Grass und Martin Walser allzu forciert vorzugehen. Das widersprach dem Selbstverständnis dieses Gentleman-Versprechers. Zum Selbstverständnis Enzensbergers gehört aber durchaus die Rolle des Hans Magnus im Glück.
Und das hat auch bei der Abfassung von "Tumult" die Hände mit im Spiel gehabt. Im Buch erfahren wir, weshalb Enzensberger - "Ich will mir gar nicht alles merken, was mich betrifft" - seine Erinnerungen an die sechziger Jahre nun doch veröffentlicht hat: weil das Material schon da war, nur lag es vergessen im Münchner Keller. "Zwischen Weinregal und Werkzeugkasten dämmerten einige Pappschachteln vor sich hin. Ich öffnete sie auf der Suche nach irgendeinem alten Vertrag und stieß auf vergessene Briefe, Photos, Zeitungsausschnitte, liegengelassene Manuskripte." Darunter der Bericht vom Chruschtschow-Besuch, der schon allein den im selben Jahr erhaltenen Büchnerpreis gerechtfertigt hätte - wenn er denn nicht so lange "liegengelassen" worden wäre.
Wobei man aufpassen muss, nicht wieder einer neuen Finte Enzensbergers auf den Leim zu gehen. Denn von allen Teilen aus "Tumult" weist nur diese Schilderung der Russlandreise des Jahres 1963 eine Textgestalt auf, die tatsächlich zeitgenössisch sein könnte. Die Aufzeichnungen der späteren Russlandaufenthalte bezeichnet Enzensberger selbst nur als "gekritzelte Notizen", und die den größten Teil des Buchs ausmachenden Berichte über die späten sechziger Jahre sind gar in der Form eines auf zwei Personen verteilten Gesprächs gefasst: Der nunmehr fünfundachtzigjährige Enzensberger befragt sein nicht einmal halb so altes damaliges Ich. Das ist ein schönes literarisch-biographisches Spiel, das seinen Höhepunkt in der saloppen Bemerkung des alten Enzensberger zum jungen findet: "Welcher Teufel hat dich in diesem Doppelspiel geritten?" Die richtige Antwort müsste lauten: Es ist der teuflisch geschickte Fragesteller selbst, der Enzensberger von heute.
Auch die eben referierte Fundgeschichte des Basiskonvoluts für "Tumult" ist Fiktion. Tatsächlich fanden Archivare des Deutschen Literaturarchivs in Marbach die Materialien, als sie in Vorbereitung eines etwaigen Erwerbs von Enzensbergers Vorlass die Bestände sichteten. Und was betreffs dessen Inhalt im Buch nur allgemein bezeichnet wird, hat der Autor im Gespräch kürzlich etwas präzisiert. So zählt zu den erwähnten Briefen etwa seine komplette Korrespondenz mit der Literaturnobelpreisträgerin Nelly Sachs. Auch die von der Fachwelt seit langem ersehnten Briefe von Ingeborg Bachmann an Enzensberger dürften sich dort finden. Im Münchner Keller liegt somit ein veritabler Schatz für uns Leser.
Dass in "Tumult" nun die ersten Pretiosen daraus zugänglich werden, lässt auf mehr hoffen. Allerdings schließt der sich als zögerlich gerierende Enzensberger das Buch programmatisch mit dem Gedicht "Andenken" von 1978 ab, das mit folgenden beiden Zeilen beginnt: "Also was die siebziger Jahre betrifft, / kann ich mich kurz fassen." Und mit diesen beiden endet: "Daß irgendwer ihrer mit Nachsicht gedächte, / wäre zuviel verlangt." Das soll wohl den Erwartungen auf eine Fortsetzung von "Tumult" entgegentreten, aber kann das mehr sein als eine weitere Enzensbergersche Koketterie?
Es wäre schlimm. Denn dieses Buch leistet für das Verständnis seiner Zeit und mehr noch seines Autors unendlich viel. Es legt raffiniert Rechenschaft ab. "Gelegentlich wurde mir in den Jahren des Tumults eine Protagonistenrolle zugeschrieben, an der mir wahrlich nie gelegen war. Aber einen Rest von Komplizenschaft konnte und kann ich nicht abstreiten. Jeder, der in das Durcheinander verwickelt war, haftet mehr oder weniger mit." Der Tausendsassa Enzensberger aber entzieht dieser Haftung den Boden: durch erzählerische Brillanz und Ironie. Die vom älteren Alter Ego des Verfassers ständig bespöttelte Wiederkehr der Erinnerungen des jüngeren an einen Aufenthalt in Castros Kuba 1968/69 etwa gipfelt in einer Formulierung, die nur scheinbar von Ratlosigkeit kündet: "Schwerer fällt es, die mentalen Mischformen zu entziffern, die daraus hervorgegangen sind: das Marmorierte im Selbstverständnis der Menschen, ihre Auffassung von Macht, Kompromiß und Korruption." Fünfzig Jahre kubanische Geschichte in einem Satz.
Einmal fragt der jüngere Enzensberger den älteren: "Und wenn die Geschichten der anderen interessanter wären als unsere eigenen?" Sind sie nicht. Was für ein Buch!
ANDREAS PLATTHAUS
Hans Magnus Enzensberger: "Tumult".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 287 S., geb., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Gespräch mit seinem jüngeren Ich: Hans Magnus Enzensbergers Erinnerungen an die sechziger Jahre sind höchster Literaturgenuss und ein Meisterstück der Ironie.
Dieses Buch ruft ständig den Satz eines anderen Dichters in Erinnerung: "In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen." Das, was Brecht 1927 im Gedicht "Vom armen B. B." feststellte, das bekräftigt Hans Magnus Enzensberger in seinem neuen Buch "Tumult" für sich selbst mit Lust. Eine Kostprobe? Lieber gleich zwei, drei. Zum Beginn der Studentenproteste im Jahr 1967 schreibt Enzensberger lapidar: "Ich war nicht dabei. Ich war wieder einmal woanders." Wenig später heißt es: "Ich habe das meiste vergessen und das Wichtigste nicht verstanden." Und: "Mehr als eine Nacht hinter Gittern habe ich nicht vorzuweisen. Einen deutlicheren Beweis für meine Harmlosigkeit kann es kaum geben." Warum sollten uns die Erinnerungen eines Mannes an die sechziger Jahre interessieren, der abwesend, unverständig und harmlos war und unverändert zu sein behauptet?
Weil er all das nicht war oder ist. Es war Enzensberger, zu dem sich Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin mit Andreas Baader 1970 aufmachten, nachdem sie diesen gerade gewaltsam befreit und damit den Geburtsakt der RAF vollzogen hatten - der Hausherr wies ihnen die Tür mit Verweis darauf, dass er polizeilich überwacht werde. Es war Enzensberger, in dessen Wohnung 1967 die Kommune 1 ihr erstes Domizil fand - der Hausherr weilte auf Reisen in Italien. Es war Enzensberger, der als einziges deutsches Mitglied einer internationalen Schriftstellerdelegation 1963 ins Ferienquartier des sowjetischen Staatschefs Nikita Chruschtschow eingeladen wurde - der Hausherr erwies sich als schlichtes Gemüt, wie sein alles andere als schlichter Besucher in einem beispiellosen Kabinettstück der Porträtkunst festgehalten hat (F.A.Z. vom 18. Oktober). Doch all dies, so beteuert Enzensberger jedes Mal, widerfuhr ihm ohne eigenes Zutun, auch "daß ich aus reinem Zufall, um nicht zu sagen aus Versehen, bei Chruschtschow in seiner Sommerresidenz zu Gast war".
Zufall aber ist bei Enzensberger gar nichts. Spätestens seit er 1963 als erst Dreiunddreißigjähriger den Büchnerpreis zugesprochen bekam, ist er eine maßgebliche Stimme nicht nur der deutschen Literatur, und diesen Status hat er durch nimmermüde publizistische und auch politische Aktivitäten gestärkt, ohne dabei wie seine Generationsgenossen Günter Grass und Martin Walser allzu forciert vorzugehen. Das widersprach dem Selbstverständnis dieses Gentleman-Versprechers. Zum Selbstverständnis Enzensbergers gehört aber durchaus die Rolle des Hans Magnus im Glück.
Und das hat auch bei der Abfassung von "Tumult" die Hände mit im Spiel gehabt. Im Buch erfahren wir, weshalb Enzensberger - "Ich will mir gar nicht alles merken, was mich betrifft" - seine Erinnerungen an die sechziger Jahre nun doch veröffentlicht hat: weil das Material schon da war, nur lag es vergessen im Münchner Keller. "Zwischen Weinregal und Werkzeugkasten dämmerten einige Pappschachteln vor sich hin. Ich öffnete sie auf der Suche nach irgendeinem alten Vertrag und stieß auf vergessene Briefe, Photos, Zeitungsausschnitte, liegengelassene Manuskripte." Darunter der Bericht vom Chruschtschow-Besuch, der schon allein den im selben Jahr erhaltenen Büchnerpreis gerechtfertigt hätte - wenn er denn nicht so lange "liegengelassen" worden wäre.
Wobei man aufpassen muss, nicht wieder einer neuen Finte Enzensbergers auf den Leim zu gehen. Denn von allen Teilen aus "Tumult" weist nur diese Schilderung der Russlandreise des Jahres 1963 eine Textgestalt auf, die tatsächlich zeitgenössisch sein könnte. Die Aufzeichnungen der späteren Russlandaufenthalte bezeichnet Enzensberger selbst nur als "gekritzelte Notizen", und die den größten Teil des Buchs ausmachenden Berichte über die späten sechziger Jahre sind gar in der Form eines auf zwei Personen verteilten Gesprächs gefasst: Der nunmehr fünfundachtzigjährige Enzensberger befragt sein nicht einmal halb so altes damaliges Ich. Das ist ein schönes literarisch-biographisches Spiel, das seinen Höhepunkt in der saloppen Bemerkung des alten Enzensberger zum jungen findet: "Welcher Teufel hat dich in diesem Doppelspiel geritten?" Die richtige Antwort müsste lauten: Es ist der teuflisch geschickte Fragesteller selbst, der Enzensberger von heute.
Auch die eben referierte Fundgeschichte des Basiskonvoluts für "Tumult" ist Fiktion. Tatsächlich fanden Archivare des Deutschen Literaturarchivs in Marbach die Materialien, als sie in Vorbereitung eines etwaigen Erwerbs von Enzensbergers Vorlass die Bestände sichteten. Und was betreffs dessen Inhalt im Buch nur allgemein bezeichnet wird, hat der Autor im Gespräch kürzlich etwas präzisiert. So zählt zu den erwähnten Briefen etwa seine komplette Korrespondenz mit der Literaturnobelpreisträgerin Nelly Sachs. Auch die von der Fachwelt seit langem ersehnten Briefe von Ingeborg Bachmann an Enzensberger dürften sich dort finden. Im Münchner Keller liegt somit ein veritabler Schatz für uns Leser.
Dass in "Tumult" nun die ersten Pretiosen daraus zugänglich werden, lässt auf mehr hoffen. Allerdings schließt der sich als zögerlich gerierende Enzensberger das Buch programmatisch mit dem Gedicht "Andenken" von 1978 ab, das mit folgenden beiden Zeilen beginnt: "Also was die siebziger Jahre betrifft, / kann ich mich kurz fassen." Und mit diesen beiden endet: "Daß irgendwer ihrer mit Nachsicht gedächte, / wäre zuviel verlangt." Das soll wohl den Erwartungen auf eine Fortsetzung von "Tumult" entgegentreten, aber kann das mehr sein als eine weitere Enzensbergersche Koketterie?
Es wäre schlimm. Denn dieses Buch leistet für das Verständnis seiner Zeit und mehr noch seines Autors unendlich viel. Es legt raffiniert Rechenschaft ab. "Gelegentlich wurde mir in den Jahren des Tumults eine Protagonistenrolle zugeschrieben, an der mir wahrlich nie gelegen war. Aber einen Rest von Komplizenschaft konnte und kann ich nicht abstreiten. Jeder, der in das Durcheinander verwickelt war, haftet mehr oder weniger mit." Der Tausendsassa Enzensberger aber entzieht dieser Haftung den Boden: durch erzählerische Brillanz und Ironie. Die vom älteren Alter Ego des Verfassers ständig bespöttelte Wiederkehr der Erinnerungen des jüngeren an einen Aufenthalt in Castros Kuba 1968/69 etwa gipfelt in einer Formulierung, die nur scheinbar von Ratlosigkeit kündet: "Schwerer fällt es, die mentalen Mischformen zu entziffern, die daraus hervorgegangen sind: das Marmorierte im Selbstverständnis der Menschen, ihre Auffassung von Macht, Kompromiß und Korruption." Fünfzig Jahre kubanische Geschichte in einem Satz.
Einmal fragt der jüngere Enzensberger den älteren: "Und wenn die Geschichten der anderen interessanter wären als unsere eigenen?" Sind sie nicht. Was für ein Buch!
ANDREAS PLATTHAUS
Hans Magnus Enzensberger: "Tumult".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 287 S., geb., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.20148 LITERATUR BELLETRISTIK
Dienstag, 7. Oktober 2014, Nr. 230 SüddeutscheZeitung
Begnadeter Kulissenschieber
Exotik, Melodram und große Zeitgeschichte: Wenn Hans Magnus Enzensberger seine
Erinnerungen aufschreibt, ist das Ergebnis keine Autobiografie, eher ein „Tumult“
VON HELMUT BÖTTIGER
Hans Magnus Enzensberger war schon immer so. Kaum aufgetaucht, galt er schon als Chefideologe der Gruppe 47. Darauf angesprochen, wollte er indigniert mit solch einem „verschwommenen Gebilde“ nicht in Verbindung gebracht werden. Auch die 68er-Bewegung haftete ihm sofort an: der „Tod der Literatur“ wurde mit ihm verbunden und eine besonders militant wirkende Fähigkeit der Agitation (einige Tondokumente scheinen dies zu belegen). Aber das hat er ebenfalls immer weit von sich gewiesen. Wenn Enzensberger, die Sphinx, die den Hase- und Igel-Sport ständig neu definiert und stets vorn dran ist, eine Autobiografie schreibt, muss man auf allerhand gefasst sein.
Natürlich wird sie nicht „Autobiografie“ genannt, sondern „Tumult“ – das fungiert als Titel und Gattungsbezeichnung zugleich. Auslöser dieser Aufzeichnungen sei ein Zufallsfund im Keller gewesen, teilt der Autor mit, längst vergessene „Sudelhefte und Mappen“ aus den tumultuösen frühen Jahren. Mit dieser Rahmenerzählung knüpft Enzensberger augenzwinkernd an frühere Gepflogenheiten an, einen unschuldigen Erzähler auf Schriften eines geheimnisvollen Unbekannten stoßen und diese dann herausgeben zu lassen. „Standards der Dokumentation oder gar der Philologie“, so der Autor, habe er nicht im Auge gehabt. Wir sind also mitten im flirrenden Feld zwischen Realität und Fiktion, Ästhetik und Leben, Regeln und Spiel, und da fühlt sich dieser Protagonist seit jeher am wohlsten.
Das zentrale Kapitel kommt in Gestalt eines Dialogs daher, einer vor allem in der bürgerlichen Aufklärung beliebten, mittlerweile fast ausgestorbenen Form von Prosa. In Rede und Gegenrede stehen sich der junge und der alte Enzensberger gegenüber. Der mittlerweile 85-Jährige befragt den ihm fremd gewordenen Sudelheft- und Mappenkritzler aus den Sechzigerjahren was dieser sich dabei gedacht hat. Das verspricht ein gewaltiges Hakenschlagen!
Die Jahre 1967 bis 1970 erlebt der jüngere Enzensberger wie einen an rauschenden Kamerafahrten und extremen Einstellungen überreichen Film. Minimalistisches Schwarzweiß wechselt ab mit sattem Breitwand-Color. Chronologie oder eine Entwicklung spielen keine Rolle, und in seinen formalen Überlegungen begründet der Autor das auch stringent. Der jüngere erklärt dem älteren Enzensberger programmatisch: „Wie oft soll ich dir noch einbleuen, was ein Tumult ist? Als Buchhalter unserer Vergangenheit bin ich eine Fehlbesetzung.“
Schauplätze, die in einzelnen Traumsequenzen angeflogen und rasch wieder überblendet werden, sind der Oslofjord in Norwegen, wo Enzensberger jahrelang mit seiner ersten Frau Dagrun lebte, Moskau, wo er 1966 seine zweite Frau Mascha kennenlernte, das Berlin der antiautoritären Bewegung, aber auch Indien, Kuba, Tahiti, Australien, Kambodscha und diverse europäische Hauptstädte. Es entsteht ein Sog, von dem der Leser unweigerlich mitgerissen wird und in dem zum Beispiel Salvador Allende, der spätere chilenische Präsident, plötzlich in einer entlegenen Südseekulisse auftaucht, zusammen mit den wenigen Überlebenden von Che Guevaras Bolivien-Expedition – ein Vexierbild, das in einer surreal anmutenden Montage neben Besäufnissen in der sowjetischen Schriftstellersiedlung Peredelkino steht oder Schnappschüssen aus der römischen Via Veneto, wo vor der amerikanischen Botschaft Steine fliegen: „Das Tränengas wehte bis zu uns herüber. Dann gingen wir tanzen, mit Ingeborg Bachmann, die ein glitzerndes Paillettenkleid trug, Arm in Arm mit Ungaretti.“
Dass der „fliegende Robert“ aus dem „Struwwelpeter“ Enzensbergers Lieblingsfigur ist, leuchtet angesichts dieser rasanten Szenenfolge ein. In vielen Momenten stecken ganze Erzählungen, kleine Romane, verwickelte Theateraufführungen. Sie werden nie ausgeführt und strahlen gerade dadurch so verheißungsvoll und enigmatisch. Enzensberger scheint nicht selbst zu agieren, sondern lässt sich treiben – er habe es sich „angewöhnt, meine Probleme mit Hilfe der Geographie zu lösen“, also durch Ortswechsel. Nach vier Monaten an der US-Universität Wesleyan schafft es sein kleiner Brief „Warum ich die USA verlasse“ sogar bis auf die Titelseite der New York Times ; Anlass ist eine Einladung ins revolutionäre Kuba. Wie Enzensberger, der sich irgendwelche herausgehobene Bildungstätigkeiten vorgestellt hatte, dann ziemlich frustiert – und vom mehr oder weniger freiwilligen Einsatz bei der Zuckerrohrernte gezeichnet – nach Deutschland zurückkehrte, ist damals Anlass für viel Häme und Spott gewesen. Man hört das Gelächter und Schenkelklopfen in diesbezüglichen Anmerkungen von Uwe Johnson, Günter Grass oder Hans Werner Richter noch heute. In der Darstellung, die jetzt der ältere dem jüngeren Enzensberger abverlangt, geht es aber mehr um Neugier. So etwas wie eine kommunistische Euphorie lässt sich der junge Enzensberger nie anmerken. Seine Schilderungen des kubanischen Alltags und seiner privilegierten Situation als sympathisierender Ausländer sind jedoch phantastisch.
Enzensberger zeigt sich als eine Art linker Felix Krull, der ganz selbstverständlich die Suiten der Mächtigen bewohnt und als literarische Figur an den aberwitzigen Wendungen der Geschichte teilhat. Und er legt großen Wert auf die Distanz zu den deutschen 68ern: „Ich war der schlechte Genosse, der es nie zum Mitglied gebracht hat, egal, ob es um den SDS, eine Wohngemeinschaft, eine Kommune, den Schriftstellerverband oder eine der zahlreichen kommunistischen Parteien ging. Auch auf den berühmten Fotos von Demonstrationen und Straßenschlachten bin ich nicht zu sehen. Lieber blieb ich in der Kulisse.“
Eindeutig zumindest ist, dass Enzensberger ein begnadeter Kulissenschieber war. Das Geheimnis, warum er ständig exklusive Einladungen bekam und genussvoll das Leben der Bohème zitieren konnte, wird nie enthüllt. So bei der Schriftstellerreise in die Sowjetunion 1963, die von einem gut vernetzten italienischen Kulturfunktionär organisiert wurde: „Wie ich auf Vigorellis Liste geraten bin, war mir nicht klar.“ Es folgt ein schelmischer Erklärungsversuch: „Ich galt in einem vagen Sinn als
‚links‘, was immer das bedeuten mochte.“
Neben ihm war Hans Werner Richter, der damals ungeheuer einflussreiche Chef der Gruppe 47, der einzige Teilnehmer aus der BRD. Richter hat nie verkraftet, dass Enzensberger und nicht er zu einem kleinen Kreis in Chruschtschows Villa am Schwarzen Meer geladen wurde. Und dass Enzensberger sogar eine Badehose von Chruschtschow geliehen bekam. Der so Geehrte unterläuft das jetzt ganz souverän: Nur drei Gäste wollten schwimmen, und sie fanden in einer Hütte, „für den Hausherrn bereitgelegt und ihm angemessen, drei Badehosen von eigentümlicher Schäbigkeit vor. Sie reichen uns bis ans Knie. Die meinige muss ich mit beiden Händen festhalten.“
Ein Höhepunkt dieses funkenschlagenden Buches ist der „russische Roman“. Die zweite Ehe des Autors mit einer um dreizehn Jahre jüngeren, 23-jährigen Sowjetrussin stellt sich als eine spektakuläre amour fou dar, die durch die jetzt lancierten Andeutungen Enzensbergers das Zeug zu einem wahren Polit- und Liebesthriller hat. Die Sechzigerjahre waren ja das Jahrzehnt von „Doktor Schiwago“, von Omar Sharifs dunklem Blick und Julie Christies sibirienblonder Sehnsucht: Enzensbergers Beziehung zu Mascha ist allemal in der Lage, das in den Schatten zu stellen. Das „tete-à-tete im Gras“ in der Dunkelheit neben einem säulengeschmückten Restaurant über Baku! Die Heirat 1966 im „Eheschließungspalast der Abteilung Standesamt der Stadt Moskau“! Die „Liebeswut“ und die „Tyrannei“! Die Trennungen und Wiedervereinigungen, die gemeinsame Zeit auf Kuba! Gäbe es noch einen Fassbinder, hier würde er alles finden, was sich an Melodram, exotischen Kulissen und großer Zeitgeschichte aufbieten lässt.
Zum Schluss, unter dem Titel „1970ff. Danach“, fügt Enzensberger noch einige poetische Kurzprosaskizzen an, die ihn auf der Höhe seiner Kunst zeigen, seiner Verbergungs- und Enthüllungskunst ebenso wie seiner Fähigkeit zum atmosphärischen Reiz. Martin Walser hat in seinem soeben erschienenen „Tagebuch 1979-1981“ festgehalten, wie ihm von einem Interview Enzensbergers mit der Titanic berichtet wurde. Es habe nicht erwähnt werden dürfen, dass es in des Autors zweitem Wohnsitz Venedig stattgefunden habe: „Er trat auf in schwarzem Seidenmantel mit weißem Schal, breitrandigem Panama und weißen Handschuhen, von denen er einen in der Hand trägt.“ Und jeder Satz habe gesessen. Genau so ist es.
Wenn schon kein Protagonist
von ’68 so war Enzensberger
eine Art linker Felix Krull
Die Aufnahme dieser Tigerhai-Dame aus den Gewässern der Bahamas machte Ghislain, indem er sich selber flach auf den Meeresgrund legte.
Hans Magnus
Enzensberger: Tumult. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 287 Seiten,
21,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Dienstag, 7. Oktober 2014, Nr. 230 SüddeutscheZeitung
Begnadeter Kulissenschieber
Exotik, Melodram und große Zeitgeschichte: Wenn Hans Magnus Enzensberger seine
Erinnerungen aufschreibt, ist das Ergebnis keine Autobiografie, eher ein „Tumult“
VON HELMUT BÖTTIGER
Hans Magnus Enzensberger war schon immer so. Kaum aufgetaucht, galt er schon als Chefideologe der Gruppe 47. Darauf angesprochen, wollte er indigniert mit solch einem „verschwommenen Gebilde“ nicht in Verbindung gebracht werden. Auch die 68er-Bewegung haftete ihm sofort an: der „Tod der Literatur“ wurde mit ihm verbunden und eine besonders militant wirkende Fähigkeit der Agitation (einige Tondokumente scheinen dies zu belegen). Aber das hat er ebenfalls immer weit von sich gewiesen. Wenn Enzensberger, die Sphinx, die den Hase- und Igel-Sport ständig neu definiert und stets vorn dran ist, eine Autobiografie schreibt, muss man auf allerhand gefasst sein.
Natürlich wird sie nicht „Autobiografie“ genannt, sondern „Tumult“ – das fungiert als Titel und Gattungsbezeichnung zugleich. Auslöser dieser Aufzeichnungen sei ein Zufallsfund im Keller gewesen, teilt der Autor mit, längst vergessene „Sudelhefte und Mappen“ aus den tumultuösen frühen Jahren. Mit dieser Rahmenerzählung knüpft Enzensberger augenzwinkernd an frühere Gepflogenheiten an, einen unschuldigen Erzähler auf Schriften eines geheimnisvollen Unbekannten stoßen und diese dann herausgeben zu lassen. „Standards der Dokumentation oder gar der Philologie“, so der Autor, habe er nicht im Auge gehabt. Wir sind also mitten im flirrenden Feld zwischen Realität und Fiktion, Ästhetik und Leben, Regeln und Spiel, und da fühlt sich dieser Protagonist seit jeher am wohlsten.
Das zentrale Kapitel kommt in Gestalt eines Dialogs daher, einer vor allem in der bürgerlichen Aufklärung beliebten, mittlerweile fast ausgestorbenen Form von Prosa. In Rede und Gegenrede stehen sich der junge und der alte Enzensberger gegenüber. Der mittlerweile 85-Jährige befragt den ihm fremd gewordenen Sudelheft- und Mappenkritzler aus den Sechzigerjahren was dieser sich dabei gedacht hat. Das verspricht ein gewaltiges Hakenschlagen!
Die Jahre 1967 bis 1970 erlebt der jüngere Enzensberger wie einen an rauschenden Kamerafahrten und extremen Einstellungen überreichen Film. Minimalistisches Schwarzweiß wechselt ab mit sattem Breitwand-Color. Chronologie oder eine Entwicklung spielen keine Rolle, und in seinen formalen Überlegungen begründet der Autor das auch stringent. Der jüngere erklärt dem älteren Enzensberger programmatisch: „Wie oft soll ich dir noch einbleuen, was ein Tumult ist? Als Buchhalter unserer Vergangenheit bin ich eine Fehlbesetzung.“
Schauplätze, die in einzelnen Traumsequenzen angeflogen und rasch wieder überblendet werden, sind der Oslofjord in Norwegen, wo Enzensberger jahrelang mit seiner ersten Frau Dagrun lebte, Moskau, wo er 1966 seine zweite Frau Mascha kennenlernte, das Berlin der antiautoritären Bewegung, aber auch Indien, Kuba, Tahiti, Australien, Kambodscha und diverse europäische Hauptstädte. Es entsteht ein Sog, von dem der Leser unweigerlich mitgerissen wird und in dem zum Beispiel Salvador Allende, der spätere chilenische Präsident, plötzlich in einer entlegenen Südseekulisse auftaucht, zusammen mit den wenigen Überlebenden von Che Guevaras Bolivien-Expedition – ein Vexierbild, das in einer surreal anmutenden Montage neben Besäufnissen in der sowjetischen Schriftstellersiedlung Peredelkino steht oder Schnappschüssen aus der römischen Via Veneto, wo vor der amerikanischen Botschaft Steine fliegen: „Das Tränengas wehte bis zu uns herüber. Dann gingen wir tanzen, mit Ingeborg Bachmann, die ein glitzerndes Paillettenkleid trug, Arm in Arm mit Ungaretti.“
Dass der „fliegende Robert“ aus dem „Struwwelpeter“ Enzensbergers Lieblingsfigur ist, leuchtet angesichts dieser rasanten Szenenfolge ein. In vielen Momenten stecken ganze Erzählungen, kleine Romane, verwickelte Theateraufführungen. Sie werden nie ausgeführt und strahlen gerade dadurch so verheißungsvoll und enigmatisch. Enzensberger scheint nicht selbst zu agieren, sondern lässt sich treiben – er habe es sich „angewöhnt, meine Probleme mit Hilfe der Geographie zu lösen“, also durch Ortswechsel. Nach vier Monaten an der US-Universität Wesleyan schafft es sein kleiner Brief „Warum ich die USA verlasse“ sogar bis auf die Titelseite der New York Times ; Anlass ist eine Einladung ins revolutionäre Kuba. Wie Enzensberger, der sich irgendwelche herausgehobene Bildungstätigkeiten vorgestellt hatte, dann ziemlich frustiert – und vom mehr oder weniger freiwilligen Einsatz bei der Zuckerrohrernte gezeichnet – nach Deutschland zurückkehrte, ist damals Anlass für viel Häme und Spott gewesen. Man hört das Gelächter und Schenkelklopfen in diesbezüglichen Anmerkungen von Uwe Johnson, Günter Grass oder Hans Werner Richter noch heute. In der Darstellung, die jetzt der ältere dem jüngeren Enzensberger abverlangt, geht es aber mehr um Neugier. So etwas wie eine kommunistische Euphorie lässt sich der junge Enzensberger nie anmerken. Seine Schilderungen des kubanischen Alltags und seiner privilegierten Situation als sympathisierender Ausländer sind jedoch phantastisch.
Enzensberger zeigt sich als eine Art linker Felix Krull, der ganz selbstverständlich die Suiten der Mächtigen bewohnt und als literarische Figur an den aberwitzigen Wendungen der Geschichte teilhat. Und er legt großen Wert auf die Distanz zu den deutschen 68ern: „Ich war der schlechte Genosse, der es nie zum Mitglied gebracht hat, egal, ob es um den SDS, eine Wohngemeinschaft, eine Kommune, den Schriftstellerverband oder eine der zahlreichen kommunistischen Parteien ging. Auch auf den berühmten Fotos von Demonstrationen und Straßenschlachten bin ich nicht zu sehen. Lieber blieb ich in der Kulisse.“
Eindeutig zumindest ist, dass Enzensberger ein begnadeter Kulissenschieber war. Das Geheimnis, warum er ständig exklusive Einladungen bekam und genussvoll das Leben der Bohème zitieren konnte, wird nie enthüllt. So bei der Schriftstellerreise in die Sowjetunion 1963, die von einem gut vernetzten italienischen Kulturfunktionär organisiert wurde: „Wie ich auf Vigorellis Liste geraten bin, war mir nicht klar.“ Es folgt ein schelmischer Erklärungsversuch: „Ich galt in einem vagen Sinn als
‚links‘, was immer das bedeuten mochte.“
Neben ihm war Hans Werner Richter, der damals ungeheuer einflussreiche Chef der Gruppe 47, der einzige Teilnehmer aus der BRD. Richter hat nie verkraftet, dass Enzensberger und nicht er zu einem kleinen Kreis in Chruschtschows Villa am Schwarzen Meer geladen wurde. Und dass Enzensberger sogar eine Badehose von Chruschtschow geliehen bekam. Der so Geehrte unterläuft das jetzt ganz souverän: Nur drei Gäste wollten schwimmen, und sie fanden in einer Hütte, „für den Hausherrn bereitgelegt und ihm angemessen, drei Badehosen von eigentümlicher Schäbigkeit vor. Sie reichen uns bis ans Knie. Die meinige muss ich mit beiden Händen festhalten.“
Ein Höhepunkt dieses funkenschlagenden Buches ist der „russische Roman“. Die zweite Ehe des Autors mit einer um dreizehn Jahre jüngeren, 23-jährigen Sowjetrussin stellt sich als eine spektakuläre amour fou dar, die durch die jetzt lancierten Andeutungen Enzensbergers das Zeug zu einem wahren Polit- und Liebesthriller hat. Die Sechzigerjahre waren ja das Jahrzehnt von „Doktor Schiwago“, von Omar Sharifs dunklem Blick und Julie Christies sibirienblonder Sehnsucht: Enzensbergers Beziehung zu Mascha ist allemal in der Lage, das in den Schatten zu stellen. Das „tete-à-tete im Gras“ in der Dunkelheit neben einem säulengeschmückten Restaurant über Baku! Die Heirat 1966 im „Eheschließungspalast der Abteilung Standesamt der Stadt Moskau“! Die „Liebeswut“ und die „Tyrannei“! Die Trennungen und Wiedervereinigungen, die gemeinsame Zeit auf Kuba! Gäbe es noch einen Fassbinder, hier würde er alles finden, was sich an Melodram, exotischen Kulissen und großer Zeitgeschichte aufbieten lässt.
Zum Schluss, unter dem Titel „1970ff. Danach“, fügt Enzensberger noch einige poetische Kurzprosaskizzen an, die ihn auf der Höhe seiner Kunst zeigen, seiner Verbergungs- und Enthüllungskunst ebenso wie seiner Fähigkeit zum atmosphärischen Reiz. Martin Walser hat in seinem soeben erschienenen „Tagebuch 1979-1981“ festgehalten, wie ihm von einem Interview Enzensbergers mit der Titanic berichtet wurde. Es habe nicht erwähnt werden dürfen, dass es in des Autors zweitem Wohnsitz Venedig stattgefunden habe: „Er trat auf in schwarzem Seidenmantel mit weißem Schal, breitrandigem Panama und weißen Handschuhen, von denen er einen in der Hand trägt.“ Und jeder Satz habe gesessen. Genau so ist es.
Wenn schon kein Protagonist
von ’68 so war Enzensberger
eine Art linker Felix Krull
Die Aufnahme dieser Tigerhai-Dame aus den Gewässern der Bahamas machte Ghislain, indem er sich selber flach auf den Meeresgrund legte.
Hans Magnus
Enzensberger: Tumult. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 287 Seiten,
21,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Wie immer fühlt sich Martin Zingg bei Hans Magnus Enzensberger gut unterhalten mit selbstironischer und angenehm unzuverlässiger Selbst- und Fremdbeobachtung. Wenn der heute 85 Jahre alte Autor die tumultösen Jahre 1967 bis 1970 Revue passieren lässt und dafür in ein Selbstgespräch mit dem jungen Ich eintritt, staunt Zingg nicht übel, was dabei zum Vorschein kommt. Dass der junge Enzensberger umtriebig war, wusste er. Aber so? Von allerhand Reisen berichtet der Autor, von einer amour fou und seinem Leben in Norwegen, immer anregend, immer detailreich, freut sich der Rezensent. Dabei wird für Zingg die alte Bundesrepublik lebendig, doch mehr noch die "Rückseite" von Enzensbergers damaliger Existenz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Was für ein Buch!« Andreas Platthaus Frankfurter Allgemeine Zeitung 20141206