Pinienduft, Espresso und die Geister der Vergangenheit: Ein deutscher Ex-Polizist gerät am Lago Maggiore in seinen persönlichsten Fall. Eigentlich hat Lukas Albano Geier sein Leben als Zeugenschützer in München hinter sich gelassen. An seinem geliebten Lago Maggiore widmet er sich der Musik. Im Hafen schaukeln die Boote, hinter den mittelalterlichen Dächern leuchtet himmelblau der See - doch hoch über dem Lago braut sich etwas Düsteres zusammen. Im Städtchen Luino wird eine Tote aufgefunden. Auf den Arm der Frau ist eine Telefonnummer geschrieben: die von Lukas Albano Geier.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2020Wann ist ein Fall ein Fall?
Krimis in Kürze: Wittekindt, Henning und Di Stefano
Was einen Krimi ausmacht, scheint so klar wie die Standardsituationen im Fußball: ein Verbrechen, ein Tatort, ein Ermittler, männlich oder weiblich, und eine Lösung, weil das Genre seine Teleologie hat. Alles ganz einfach. Doch damit fangen die Probleme erst an. Matthias Wittekindt zum Beispiel nennt seine Bücher gerne Kriminalromane, um dann zu zeigen, wie kompliziert die Konstellation von Täter und Opfer sein kann, wie vertrackt die Frage nach der Kausalität, wie fließend etwa die Grenzen zwischen elterlicher Verantwortung und Erziehung zur Selbständigkeit.
In "Die Brüder Fournier" (Edition Nautilus, 272 S., br., 18,- [Euro]) entsteht ein Areal der Unsicherheit, wenn es um Taten, Zuschreibungen und Kausalitäten geht. Die Brüder Iason und Vincent wachsen in den sechziger Jahren als Söhne wohlhabender Eltern in einem Vorort von Brüssel auf. Vincent ist zierlich, still und liest viel, Iason kräftig, keiner Rauferei abgeneigt und beim Jugendamt aktenkundig. Es ist eine klassische Coming-of-age-Geschichte mit ersten Mädchen, ersten Drogen, erstem Sex und erstem Leid.
Dann werden zwei Jugendliche erfroren aufgefunden; vieles deutet auf Suizid, manches auf unglückliche Verkettung von Umständen, wenig auf Iason. Wittekindt, der gerne auktoriale Erzähler beschäftigt, nutzt diese Perspektive nicht zu allwissenden Einblicken. Er demonstriert mit genuin literarischen Mitteln, dass es dort, wo kein strafrechtlich definierbarer Fall vorliegt, oft einfach nicht möglich ist, von Schuld und Ursachen zu reden.
Mehr als nur einen Ermittlungserfolg möchte auch Peter Henning erzielen, der sein Buch nicht Kriminalroman nennt, aber dafür eine Tat - den islamistischen Anschlag auf eine U-Bahn-Station in Barcelona - und eine Ermittlung hat. Nur dass die Hauptfigur in "Die Tote von Sant Andreu" (Transit, 176 S., geb., 20,- [Euro]) nicht ein Ermittler ist, sondern der Zwillingsbruder eines der Opfer. Dieser Lennart hat sich bei Henning einige Eigenschaften geborgt - Dozent für kreatives Schreiben in Köln, Schmetterlingsfreund; aber ob die Anleihe bei Martin Walser, Lennart heißt mit Nachnamen Halm, so eine brillante Idee ist, kann man bezweifeln. Wie man sich überhaupt fragen muss, ob Henning, der sein Alter Ego sagen lässt, Gefühle müsse man "beschreiben, statt sie bloß zu benennen", sich nicht selbst im Wege steht.
Vor allem die Dialoge rascheln oft sehr papieren, zwischendurch floskelt es auch immer mal wieder. Was schade ist, denn so geht fast verloren, dass diese Geschichte eines alleingelassenen Zwillings, der lange in Symbiose mit seiner Schwester Luise lebte, bevor diese mit fünfzehn Jahren zu Hause abhaute und mehr und mehr aus seiner Welt verschwand, sehr gut einen schmalen Roman tragen kann. Auch weil Halm sich schließlich angesichts der genaueren Umstände von Luises Tod fragen muss, was er überhaupt von ihr gewusst hat.
Aber offenbar war Henning mit diesem Bildausschnitt nicht zufrieden, weshalb eine halbe Liebesgeschichte und ein paar seltsame Zufälle noch untergebracht werden mussten. Und nebenbei wüsste man gerne, wie es zu dem Blurb von T. C. Boyle auf dem Buchrücken kam: "Er ist einer der besten seiner Generation."
Einen ordentlichen Handlungsrahmen haben die Journalisten-Brüder Andreas und Stephan Lebert gewählt, die unter dem Namen Andrea Di Stefano Opfer, Täter und Ermittler am Lago Maggiore plazieren. "Tutto Bene" (Fischer Scherz, 288 S., br., 14,99 [Euro]) klingt verdächtig nach dem bekannten Muster, aus dem liebsten Ferienort eine bunte Krimikulisse zu machen. Aber Di Stefano wird weder pittoresk, noch übertreibt er es mit dem Kolorit. Der Held Lukas Albano Geier, früher Zeugenschützer in München, nun erfolgreicher Musiker in Maccagno, gerät in einen Mordfall, der ihn zurückzieht in die Zeit, als er für andere Identitäten und Lebensversionen entwarf, die vor der Realität Bestand haben mussten. Vor allem diese Facette der Figur hat Potential, und gäbe es in der Literatur so was wie Gerechtigkeit, hätte das Buch deshalb einen Blurb von Friedrich Ani verdient, an dessen Helden Geier wachsen könnte.
PETER KÖRTE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Krimis in Kürze: Wittekindt, Henning und Di Stefano
Was einen Krimi ausmacht, scheint so klar wie die Standardsituationen im Fußball: ein Verbrechen, ein Tatort, ein Ermittler, männlich oder weiblich, und eine Lösung, weil das Genre seine Teleologie hat. Alles ganz einfach. Doch damit fangen die Probleme erst an. Matthias Wittekindt zum Beispiel nennt seine Bücher gerne Kriminalromane, um dann zu zeigen, wie kompliziert die Konstellation von Täter und Opfer sein kann, wie vertrackt die Frage nach der Kausalität, wie fließend etwa die Grenzen zwischen elterlicher Verantwortung und Erziehung zur Selbständigkeit.
In "Die Brüder Fournier" (Edition Nautilus, 272 S., br., 18,- [Euro]) entsteht ein Areal der Unsicherheit, wenn es um Taten, Zuschreibungen und Kausalitäten geht. Die Brüder Iason und Vincent wachsen in den sechziger Jahren als Söhne wohlhabender Eltern in einem Vorort von Brüssel auf. Vincent ist zierlich, still und liest viel, Iason kräftig, keiner Rauferei abgeneigt und beim Jugendamt aktenkundig. Es ist eine klassische Coming-of-age-Geschichte mit ersten Mädchen, ersten Drogen, erstem Sex und erstem Leid.
Dann werden zwei Jugendliche erfroren aufgefunden; vieles deutet auf Suizid, manches auf unglückliche Verkettung von Umständen, wenig auf Iason. Wittekindt, der gerne auktoriale Erzähler beschäftigt, nutzt diese Perspektive nicht zu allwissenden Einblicken. Er demonstriert mit genuin literarischen Mitteln, dass es dort, wo kein strafrechtlich definierbarer Fall vorliegt, oft einfach nicht möglich ist, von Schuld und Ursachen zu reden.
Mehr als nur einen Ermittlungserfolg möchte auch Peter Henning erzielen, der sein Buch nicht Kriminalroman nennt, aber dafür eine Tat - den islamistischen Anschlag auf eine U-Bahn-Station in Barcelona - und eine Ermittlung hat. Nur dass die Hauptfigur in "Die Tote von Sant Andreu" (Transit, 176 S., geb., 20,- [Euro]) nicht ein Ermittler ist, sondern der Zwillingsbruder eines der Opfer. Dieser Lennart hat sich bei Henning einige Eigenschaften geborgt - Dozent für kreatives Schreiben in Köln, Schmetterlingsfreund; aber ob die Anleihe bei Martin Walser, Lennart heißt mit Nachnamen Halm, so eine brillante Idee ist, kann man bezweifeln. Wie man sich überhaupt fragen muss, ob Henning, der sein Alter Ego sagen lässt, Gefühle müsse man "beschreiben, statt sie bloß zu benennen", sich nicht selbst im Wege steht.
Vor allem die Dialoge rascheln oft sehr papieren, zwischendurch floskelt es auch immer mal wieder. Was schade ist, denn so geht fast verloren, dass diese Geschichte eines alleingelassenen Zwillings, der lange in Symbiose mit seiner Schwester Luise lebte, bevor diese mit fünfzehn Jahren zu Hause abhaute und mehr und mehr aus seiner Welt verschwand, sehr gut einen schmalen Roman tragen kann. Auch weil Halm sich schließlich angesichts der genaueren Umstände von Luises Tod fragen muss, was er überhaupt von ihr gewusst hat.
Aber offenbar war Henning mit diesem Bildausschnitt nicht zufrieden, weshalb eine halbe Liebesgeschichte und ein paar seltsame Zufälle noch untergebracht werden mussten. Und nebenbei wüsste man gerne, wie es zu dem Blurb von T. C. Boyle auf dem Buchrücken kam: "Er ist einer der besten seiner Generation."
Einen ordentlichen Handlungsrahmen haben die Journalisten-Brüder Andreas und Stephan Lebert gewählt, die unter dem Namen Andrea Di Stefano Opfer, Täter und Ermittler am Lago Maggiore plazieren. "Tutto Bene" (Fischer Scherz, 288 S., br., 14,99 [Euro]) klingt verdächtig nach dem bekannten Muster, aus dem liebsten Ferienort eine bunte Krimikulisse zu machen. Aber Di Stefano wird weder pittoresk, noch übertreibt er es mit dem Kolorit. Der Held Lukas Albano Geier, früher Zeugenschützer in München, nun erfolgreicher Musiker in Maccagno, gerät in einen Mordfall, der ihn zurückzieht in die Zeit, als er für andere Identitäten und Lebensversionen entwarf, die vor der Realität Bestand haben mussten. Vor allem diese Facette der Figur hat Potential, und gäbe es in der Literatur so was wie Gerechtigkeit, hätte das Buch deshalb einen Blurb von Friedrich Ani verdient, an dessen Helden Geier wachsen könnte.
PETER KÖRTE
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