Die Rêveries sind das schönste und das gewagteste Buch von Jean- Jacques Rousseau. Sie zeigen das Feuer der Philosophie im Widerschein des Wassers, in den Spiegelungen des Unbegrenzten, das näherer Bestimmung, des Unauffälligen, das sorgfältiger Betrachtung, der Oberfläche, die eingehender Auslegung bedarf. Sie gipfeln in einer poetischen Darstellung des Glücks, das das philosophische Leben eröffnet. Heinrich Meiers eindringliche Auseinandersetzung mit der letzten und am wenigsten verstandenen Schrift Rousseaus besteht aus zwei Büchern, die sich gegenseitig erhellen. Das erste unternimmt es, in ständiger Rücksicht auf die Rêveries das philosophische Leben zu denken. Seine sieben Kapitel sind überschrieben: Der Philosoph unter Nichtphilosophen, Glaube, Natur, Beisichselbstsein, Politik, Liebe, Selbsterkenntnis. Das zweite gibt eine neue Auslegung des umstrittensten Werkes von Rousseau, des Glaubensbekenntnisses des Savoyischen Vikars, das ein gelungenes nichtphilosophisches Leben grundzulegen sucht. Die Rêveries verweisen den Leser nachdrücklich auf das Glaubensbekenntnis, das 1762 als Teil des Emile erschienen war und Rousseau die politische Verfolgung durch die kirchlichen und weltlichen Autoritäten seiner Zeit eintrug.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.10.2011Gesellschaftlich unbrauchbar und absolut glücklich
Zurück zu Rousseau? Heinrich Meier liest die „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“ und feiert das philosophische Leben
Einen Jux wollte er sich machen. Anders war die Rede über „Streß und Freiheit“ nicht zu verstehen, die Peter Sloterdijk im April dieses Jahres auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) gehalten hat, die der FDP nahe steht. Mit seiner eigenwilligen Komödientechnik verstrickte er das Publikum in eine „Verwunderungsübung“, um den Liberalen zu demonstrieren, was wahre Freiheit ist, die sich den Zwängen eines „selbst-stressierenden, permanent nach vorne stürzenden Sorgen-Systems“ entzieht. Als seinen Kronzeugen rief er Jean-Jacques Rousseau auf, der im Herbst 1765 auf dem Bieler See „die Urszene in der Entfaltung des europäischen Freiheitsbegriffs“ erlebt haben soll. Stundenlang ließ er sich in einem Kahn, die Augen zum Himmel gerichtet, von der langsamen Bewegung des Wassers treiben, wobei er sich in tausend verworrene, aber wonnige Träumereien versenkte, Zeit und Raum vergaß und von allem losgelöst ganz bei sich selbst war.
Im fünften Buch seines letzten Werkes, den „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“, hat der 65-jährige Rousseau diesen mystischen Augenblick geschildert. Im reinen subjektiven Gefühl der bloßen Existenz will er total stressfrei gewesen sein, gesellschaftlich unbrauchbar und absolut glücklich. Die Gäste der FNF werden diese „Ekstase des Bei-sich-Seins“ verwundert zur Kenntnis genommen haben. Ach, diese verrückten Philosophen.
Nun hat Heinrich Meier, Professor für Politische Philosophie und Leiter der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung, eine ernsthafte Kommentierung dieses schönsten und gewagtesten Textes Rousseaus vorgelegt, dem er sich seit mehr als 35 Jahren freundschaftlich verbunden fühlt. 1984 war die maßgebende kritische „Edition Meier“ von Rousseaus „Diskurs über die Ungleichheit“ erschienen, dessen Rhetorik und Intention Meier in einem langen einführenden Essay freigelegt hatte. Sein neuestes Werk geht ausführlich den kommentierenden Weg weiter, auf dem er schon damals Rousseaus „Kunst des sorgfältigen Schreibens“ gefolgt ist. Schritt für Schritt zeichnet er äußerst sensibel die „Rêveries du Promeneur Solitaire“ nach, die Rousseau für sich geschrieben hat, um nichts als sich selbst und sein eigenes Dasein begreifen zu können. Er soll sie zugleich als „ein Geschenk für seinesgleichen“ zu Papier gebracht haben. So jedenfalls hat sie Heinrich Meier gelesen, der keinen Zweifel daran lässt, dass er sich zu diesen befreundeten Mitmenschen und Nachfolgern zählt. Was bei Sloterdijk eine subversive Attacke gegen Parteigänger des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus gewesen ist, meint Meier mit vollem Ernst.
Dabei ist auch für ihn der Fünfte Spaziergang die Schlüssel-Situation, in der das zentrale Thema der Selbsterkenntnis anklingt, um das alle anderen Themen – Gott und Glaube, Natur und botanische Forschung, Politik und Moral, Liebe und Glück, Wahrhaftigkeit und Lüge – wie Variationen kreisen. Alle rhetorischen Mittel und lebensphilosophischen Intentionen Rousseaus, der auf der Petersinsel im Bieler See die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht haben will, kommen hier verdichtet zum Einsatz und entfalten für Meier einen Zauber eigener Art. Allerdings ist es für ihn nicht die dahintreibende Bootsfahrt, die ihn zutiefst berührt. Es ist die folgende abendliche Szene, als sich Rousseau an das sandige Ufer des Sees niedersetzt und in das hin und her fließende Wassers versenkt, als sei er hypnotisiert worden.
Nicht im schwankenden Boot, sondern „auf dem festen Boden der Insel und in der konzentrierten Gelassenheit der Kontemplation“ habe dieser große Einsame, losgelöst von allen Menschen, die ihm fremd, unbekannt und gleichgültig geworden waren, zu sich selbst gefunden. In seiner inneren Seelenbewegung soll Rousseau das vollkommene und überschwängliche Glück eines gleichsam göttlichen „Beisichselbstseins“ in der Unstetigkeit alles Irdischen genossen haben. Nun ist es auch Meier nicht entgangen, dass Rousseaus kurzer Aufenthalt auf der Petersinsel eine vergebliche Fluchtbewegung gewesen ist. Er hat sich vor seinen Verfolgern, die ihn seit 1762, dem Jahr der Veröffentlichung seines politischen Hauptwerks „Gesellschaftsvertrag“ und seines Erziehungsromans „Emile“, ins Reich der Finsternis verbannt und in einen Abgrund des Unglücks gestürzt haben, auf diese Insel gerettet, wo er die unschuldige Natur als einen Ort des stillen Glücks zu finden hoffte. Zwei Monate später wurde er von dort wieder vertrieben. „Das Beisichselbstsein des Promeneur Solitaire ist von Politik umspült.“ Meier kommt nicht umhin, dieser externen Bewegung zu folgen. Er zeichnet die Spannung nach, die zwischen dem politischen Gemeinwesen und dem einsamen Einzelgänger bestand. Aber er ist dabei doch wieder ganz auf Seiten dieses Solitären, dem er sich freundschaftlich verbunden fühlt. „Er war nicht dafür geschaffen, im politischen Leben zur Glückseligkeit zu gelangen.“
Heinrich Meiers Reflexionen zu Rousseaus „Träumereien“ sind wundervolle mimetische Text-Annäherungen, die wie Interlinear-Kommentare einer Heiligen Schrift folgen, um schließlich das noch einmal zu sagen, was im Primärtext schon artikuliert worden ist, und um dabei auch das zu wiederholen, was dort nur verschwiegen zwischen den Zeilen mitgeteilt worden ist. Sie folgen akribisch den Bewegungen von Rousseaus letzten Selbstvergewisserungen, spüren seinen thematischen Anspielungen nach, zeigen seine rhetorische Raffinesse und legen seine Intention frei. Sie bieten einen hochgradig sensibilisierten Sekundärkommentar, dessen Umfang den Primärtext um ein Dreifaches übersteigt.
Dagegen lassen sie weitestgehend die Hintergründe und Kontexte außer acht, die Rousseau zu seinen manischen Selbstreflexionen getrieben haben. Sie beschwören das Glück und vernachlässigen das Unglück. Sie feiern das philosophische Leben gedanklicher und existenzieller Einsamkeit und entschärfen die Verfolgung, unter der Rousseau paranoid gelitten hat und die ihm, Sloterdijks humoristischer Dialektik zufolge, einen Ehrenplatz in der Geschichte der Psychologie verschafft hat: „Er war der Kronzeuge der Erkenntnis, dass es Paranoiker gibt, die wirklich verfolgt werden.“ MANFRED GEIER
HEINRICH MEIER: Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries. Verlag C. H. Beck, München 2011. 443 Seiten, 29,95 Euro.
„Der geselligste,
der liebevollste der Menschen
ward einmütig verbannt.“
Fluchtort Idylle: Auf der St. Petersinsel im Bieler See fand Jean Jacques Rousseau stilles Glück für kurze Zeit. Abb.: picture-alliance/ dpa
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Zurück zu Rousseau? Heinrich Meier liest die „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“ und feiert das philosophische Leben
Einen Jux wollte er sich machen. Anders war die Rede über „Streß und Freiheit“ nicht zu verstehen, die Peter Sloterdijk im April dieses Jahres auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) gehalten hat, die der FDP nahe steht. Mit seiner eigenwilligen Komödientechnik verstrickte er das Publikum in eine „Verwunderungsübung“, um den Liberalen zu demonstrieren, was wahre Freiheit ist, die sich den Zwängen eines „selbst-stressierenden, permanent nach vorne stürzenden Sorgen-Systems“ entzieht. Als seinen Kronzeugen rief er Jean-Jacques Rousseau auf, der im Herbst 1765 auf dem Bieler See „die Urszene in der Entfaltung des europäischen Freiheitsbegriffs“ erlebt haben soll. Stundenlang ließ er sich in einem Kahn, die Augen zum Himmel gerichtet, von der langsamen Bewegung des Wassers treiben, wobei er sich in tausend verworrene, aber wonnige Träumereien versenkte, Zeit und Raum vergaß und von allem losgelöst ganz bei sich selbst war.
Im fünften Buch seines letzten Werkes, den „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“, hat der 65-jährige Rousseau diesen mystischen Augenblick geschildert. Im reinen subjektiven Gefühl der bloßen Existenz will er total stressfrei gewesen sein, gesellschaftlich unbrauchbar und absolut glücklich. Die Gäste der FNF werden diese „Ekstase des Bei-sich-Seins“ verwundert zur Kenntnis genommen haben. Ach, diese verrückten Philosophen.
Nun hat Heinrich Meier, Professor für Politische Philosophie und Leiter der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung, eine ernsthafte Kommentierung dieses schönsten und gewagtesten Textes Rousseaus vorgelegt, dem er sich seit mehr als 35 Jahren freundschaftlich verbunden fühlt. 1984 war die maßgebende kritische „Edition Meier“ von Rousseaus „Diskurs über die Ungleichheit“ erschienen, dessen Rhetorik und Intention Meier in einem langen einführenden Essay freigelegt hatte. Sein neuestes Werk geht ausführlich den kommentierenden Weg weiter, auf dem er schon damals Rousseaus „Kunst des sorgfältigen Schreibens“ gefolgt ist. Schritt für Schritt zeichnet er äußerst sensibel die „Rêveries du Promeneur Solitaire“ nach, die Rousseau für sich geschrieben hat, um nichts als sich selbst und sein eigenes Dasein begreifen zu können. Er soll sie zugleich als „ein Geschenk für seinesgleichen“ zu Papier gebracht haben. So jedenfalls hat sie Heinrich Meier gelesen, der keinen Zweifel daran lässt, dass er sich zu diesen befreundeten Mitmenschen und Nachfolgern zählt. Was bei Sloterdijk eine subversive Attacke gegen Parteigänger des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus gewesen ist, meint Meier mit vollem Ernst.
Dabei ist auch für ihn der Fünfte Spaziergang die Schlüssel-Situation, in der das zentrale Thema der Selbsterkenntnis anklingt, um das alle anderen Themen – Gott und Glaube, Natur und botanische Forschung, Politik und Moral, Liebe und Glück, Wahrhaftigkeit und Lüge – wie Variationen kreisen. Alle rhetorischen Mittel und lebensphilosophischen Intentionen Rousseaus, der auf der Petersinsel im Bieler See die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht haben will, kommen hier verdichtet zum Einsatz und entfalten für Meier einen Zauber eigener Art. Allerdings ist es für ihn nicht die dahintreibende Bootsfahrt, die ihn zutiefst berührt. Es ist die folgende abendliche Szene, als sich Rousseau an das sandige Ufer des Sees niedersetzt und in das hin und her fließende Wassers versenkt, als sei er hypnotisiert worden.
Nicht im schwankenden Boot, sondern „auf dem festen Boden der Insel und in der konzentrierten Gelassenheit der Kontemplation“ habe dieser große Einsame, losgelöst von allen Menschen, die ihm fremd, unbekannt und gleichgültig geworden waren, zu sich selbst gefunden. In seiner inneren Seelenbewegung soll Rousseau das vollkommene und überschwängliche Glück eines gleichsam göttlichen „Beisichselbstseins“ in der Unstetigkeit alles Irdischen genossen haben. Nun ist es auch Meier nicht entgangen, dass Rousseaus kurzer Aufenthalt auf der Petersinsel eine vergebliche Fluchtbewegung gewesen ist. Er hat sich vor seinen Verfolgern, die ihn seit 1762, dem Jahr der Veröffentlichung seines politischen Hauptwerks „Gesellschaftsvertrag“ und seines Erziehungsromans „Emile“, ins Reich der Finsternis verbannt und in einen Abgrund des Unglücks gestürzt haben, auf diese Insel gerettet, wo er die unschuldige Natur als einen Ort des stillen Glücks zu finden hoffte. Zwei Monate später wurde er von dort wieder vertrieben. „Das Beisichselbstsein des Promeneur Solitaire ist von Politik umspült.“ Meier kommt nicht umhin, dieser externen Bewegung zu folgen. Er zeichnet die Spannung nach, die zwischen dem politischen Gemeinwesen und dem einsamen Einzelgänger bestand. Aber er ist dabei doch wieder ganz auf Seiten dieses Solitären, dem er sich freundschaftlich verbunden fühlt. „Er war nicht dafür geschaffen, im politischen Leben zur Glückseligkeit zu gelangen.“
Heinrich Meiers Reflexionen zu Rousseaus „Träumereien“ sind wundervolle mimetische Text-Annäherungen, die wie Interlinear-Kommentare einer Heiligen Schrift folgen, um schließlich das noch einmal zu sagen, was im Primärtext schon artikuliert worden ist, und um dabei auch das zu wiederholen, was dort nur verschwiegen zwischen den Zeilen mitgeteilt worden ist. Sie folgen akribisch den Bewegungen von Rousseaus letzten Selbstvergewisserungen, spüren seinen thematischen Anspielungen nach, zeigen seine rhetorische Raffinesse und legen seine Intention frei. Sie bieten einen hochgradig sensibilisierten Sekundärkommentar, dessen Umfang den Primärtext um ein Dreifaches übersteigt.
Dagegen lassen sie weitestgehend die Hintergründe und Kontexte außer acht, die Rousseau zu seinen manischen Selbstreflexionen getrieben haben. Sie beschwören das Glück und vernachlässigen das Unglück. Sie feiern das philosophische Leben gedanklicher und existenzieller Einsamkeit und entschärfen die Verfolgung, unter der Rousseau paranoid gelitten hat und die ihm, Sloterdijks humoristischer Dialektik zufolge, einen Ehrenplatz in der Geschichte der Psychologie verschafft hat: „Er war der Kronzeuge der Erkenntnis, dass es Paranoiker gibt, die wirklich verfolgt werden.“ MANFRED GEIER
HEINRICH MEIER: Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries. Verlag C. H. Beck, München 2011. 443 Seiten, 29,95 Euro.
„Der geselligste,
der liebevollste der Menschen
ward einmütig verbannt.“
Fluchtort Idylle: Auf der St. Petersinsel im Bieler See fand Jean Jacques Rousseau stilles Glück für kurze Zeit. Abb.: picture-alliance/ dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.02.2012Das Inselglück des Philosophen
Wovon träumt Jean-Jacques Rousseau eigentlich in seinen berühmten "Rêveries"? Von einem philosophischen Leben, meint Heinrich Meier und verficht seine Antwort mit einer detailreichen und brillanten Interpretation.
Er war der schrägste Vogel eines an Sonderlingen reichen Jahrhunderts und doch der eindrucksvollste Repräsentant seiner Epoche. Er nannte gute Gründe für den großen Umbruch, der ins Haus stand, und stieg hinab in die Abgründe, die bei dieser Umwälzung aufbrachen. Er war Republikaner, bevor die Republik ausgerufen wurde, und Romantiker, bevor es die Romantik gab. Er analysierte die Dialektik der Aufklärung, während diese noch um ihren Sieg bangte. Er stritt mit denen, die seine Bücher verbrannten, und überwarf sich mit denen, die ihn schätzten. Er wollte, wie er 1762 schrieb, einfach nur "Mensch" sein und nicht "der Gott des Pöbels" oder der "Dalai Lama".
Was hieß das für Jean-Jacques Rousseau: ein "Mensch" zu sein? "Wenn man mir nur, zusammen mit dem Gebrauch einiger Bücher, die Freiheit lässt, zuweilen in einem Garten zu spazieren, dann bin ich zufrieden", schrieb er. Dieses Menschsein war ihm nur in kostbaren Zwischenzeiten vergönnt. Anfeindung, Verfolgung, aber auch der blanke Hunger kamen ihm immer wieder in die Quere.
Im Herbst 1765 war es mal wieder so weit. Rousseau war auf der Flucht. Vor ihm lag das Exil in England, hinter ihm lagen die schönste Zeit und der schönste Ort seines Lebens: sechs Wochen auf der St. Petersinsel im Bieler See. Diese Zeit und dieser Ort bilden den Rahmen für "Die Träumereien des einsamen Spaziergängers", Rousseaus am meisten unterschätzte, am häufigsten missverstandene Schrift. Die "Träumereien" sind als Dokument des Eskapismus, als Zeugnis eines autistischen oder narzisstischen Selbst sowie als Hymne auf die Botanisiertrommel interpretiert worden. Heinrich Meier, der vor Jahrzehnten die bis heute gültige Standardausgabe von Rousseaus "Abhandlung über die Ungleichheit" herausgegeben hat, versucht nun in seinem Buch, diesen Text aus der Nische der Geistesgeschichte herauszuziehen.
Genaugenommen stellt Meier die "Träumereien" nicht nur als wichtiges philosophisches Werk neben andere, sondern liest sie als einen Text, in dem die Philosophie selbst aufs Spiel gesetzt wird. Deshalb rückt er Rousseaus Spätschrift - in einer ein wenig künstlich wirkenden Abgrenzung - vom sogenannten "OEuvre", also den anderen Schriften, ab. Für Meier sind die "Träumereien" weder ein philosophisches Werk unter anderen noch ein letztlich antiphilosophisches Symptom des Rückzugs oder gar der Regression, sondern die "verwegene" und "kühne" Geschichte eines Übergangs von der Philosophie ins philosophische Leben.
"Ich bin jetzt also allein auf dieser Erde und habe keinen Bruder, keinen Nächsten, keinen Freund, keine Gesellschaft mehr außer mir selbst." Schon dieser erste Satz der "Träumereien" gleitet von Bedrückung in Befreiung hinüber. Revolutionen gibt es nicht nur im Staat, sondern auch in der Seele, und nichts weniger als eine "große Revolution" ist es, die Rousseau ausruft. Aber für wen? Nur von einer privaten Revolution, einer Selbstverwandlung scheint Rousseau zu berichten. Denn was haben die anderen damit zu tun, dass er von einer Dänischen Dogge angefallen wird, Kaninchen auswildert und seinen "inneren Frieden" dabei findet, sich "einen Weg zwischen Salweiden, Faulbäumen, Knöterich und vielerlei Gesträuch" zu bahnen?
Heinrich Meier weist auf einen ganz einfachen Punkt hin, der diese autobiographische Lesart in ihre Grenzen weist: dass im Titel dieses Textes von "den" Träumereien "des" einsamen Spaziergängers die Rede ist, nicht von nur "einem" Menschen und dessen Stimmungs- und Lebenswandel. Um ein "Ich" geht es, aber irgendwie doch um unser aller "Ich", um uns alle. Rousseau fragt: "Aber ich, von allem losgelöst, was bin ich selbst? Das ist es, was mir zu untersuchen bleibt." Zur unbedingten Konzentration auf sich selbst gehört der Rückzug in die Einsamkeit, die Rousseau den Genuss gewährt, "ganz ich" selbst und "ganz bei mir" zu sein.
In einer minutiösen Interpretation zeigt Heinrich Meier nun, dass es sich beim "Bei-sich-selbst-sein" nicht um einen Zustand handelt, in dem die Welt das Ich gleichgültig lässt. Rousseaus Zurückgezogenheit ist keine gedankliche Abschottung, die neue Freiheit auf der Insel setzt ihn in den Stand, alles, was ihn sein Leben lang umgetrieben hatte, Revue passieren zu lassen. Die "Träumereien" sind auch ein Buch der Erinnerung - der Erinnerung an ein Leben und ein Denken. Meier schreibt: "Die Politik und den Glauben, die Natur und die Liebe hatte Rousseau zu großen Themen des OEuvres gemacht. Als Gegenstände seiner Selbsterkenntnis kehren sie in den Rêveries wieder" - und all diese "Gegenstände", diese großen Worte tauchen auch in den Überschriften der Kapitel von Meiers Buch auf, die lakonisch "Glaube", "Natur", "Politik", Liebe" oder "Selbsterkenntnis" überschrieben sind.
Auf der St. Petersinsel schlägt nach Meier die Stunde des "Beginns eines philosophischen Lebens", das zwar keinen neuen Zugriff, aber einen neuen Blick auf die Welt eröffnet. "Rousseaus Beteiligung" werde nun "wesentlich Betrachtung". Was ergibt sich bei dieser Betrachtung zum Beispiel im Feld der Politik, also bei Rousseaus Rückblick auf seine epochale Schrift über den "Gesellschaftsvertrag"? Zweierlei. Zum einen stellt Rousseau neben den republikanischen Gesellschaftsvertrag, der von den Pflichten und Rechten der Staatsbürger handelt, noch eine andere Art von Sozialität: die "Gesellschaft zwischen dem Wohltäter und dem, der sich ihm mit dem Empfang der Wohltat verbunden hat". Diese Verbindung gilt Rousseau nun gar als die "heiligste von allen", denn jeder Zwang ist hier gebrochen. Zum anderen erscheint das philosophische Ich der "Träumereien" bei Meier als Wiedergänger einer besonderen Figur, die im "Contrat social" bereits einen Auftritt hatte: des "législateur", des weisen Gesetzgebers, der den Menschen, die in ihren Interessen befangen sind, zur Seite steht. Dessen "Klugheit" kehrt nun wieder als Tugend des "Philosophen". Ihm gelingt die Läuterung, die Unabhängigkeit vom "Tumult" und vom "Chaos" der Welt.
Meier schildert den Rousseau der "Träumereien" als einen Autor, der "seinem Zeitalter nicht untertan" und "im Wichtigsten nicht historisch gebunden" ist. Aus dieser Distanz heraus stellt er die Welt auf die "Probe der Reflexion". Niemand vor Meier hat diese philosophische "Revolution" plausibler und subtiler beschrieben; sein Buch setzt einen auf lange Sicht kaum überbietbaren Standard. Gleichwohl bleiben Zweifel, ob Meier - wie er behauptet - den "harten Kern" der "Träumereien" getroffen hat.
Wird in den "Träumereien" wirklich der Traum von einem philosophischen Leben geträumt, der die menschliche Existenz am Maßstab vollständiger geistiger Unabhängigkeit misst? Es gibt im fünften "Spaziergang" eine berühmte Stelle, in der Rousseau schildert, wie er sich am "sandigen Ufer des Sees" niederlegt: "Das Geräusch der Wellen dort und die Bewegung des Wassers fesselten meine Sinne, brachten jede andere Bewegung in meiner Seele zum Erliegen und ließen sie in eine angenehme Träumerei eintauchen . . ., und sie genügten, um mich meine Existenz mit Vergnügen fühlen zu lassen, ohne die Mühe des Denkens zu haben." Welt- und Seelenbewegung spielen in einer Korrespondenz von "Stimmungen" ineinander, das Gefühl der Freiheit, das Rousseau genießt, verdankt sich der Hingabe. Hier wird ein Augenblick des Glücks, des guten Lebens geschildert, nicht aber - wie man gegen Meier einwenden muss - die Zeitlosigkeit philosophischen Lebens.
Man mag beim Streit um die Frage, welche Lebensart Rousseau in den "Träumereien" nun wirklich entwirft, einwerfen, die Menschheit habe Wichtigeres zu tun, als sich mit der Deutung subtiler Wasserfreuden abzugeben. Und doch hängt an diesem Streit ums wahre Leben mehr, als er auf den ersten Blick erkennen lässt. Die eine Seite meint, dass mit Rousseaus Hilfe Formen der Einbettung, Abhängigkeit, Verbundenheit und Hingabe erkundet werden können, von denen der um Freiheit ringende Mensch in Gesellschaft und Einsamkeit, im Staat und in der Natur bestimmt bleibt. Auf der anderen Seite - und für sie ergreift Meier Partei - wird Rousseau ein "Ausnahme-Dasein" zugeschrieben, das letzten Endes in der idealen Unabhängigkeit des philosophischen Lebens gipfelt. Aber bleibt man nicht auch als Philosoph abhängig von der Sprache, die die anderen sprechen?
Eigentlich handelt es sich bei Heinrich Meiers Buch um zwei Bücher. Angehängt an seine Erörterung der "Träumereien" ist ein "zweites Buch" über "Rousseau und das Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars", also über ein berühmtes Kapitel aus Rousseaus "Émile". Natürlich kehren die großen Themen der "Träumereien" - zuvörderst die Frage des Glaubens - hier wieder. Und doch hat diese Kombination etwas von einer Behelfslösung. Dies tut der Tatsache keinen Abbruch, dass hier ein alles andere als unbeholfenes Buch vorliegt, vor dem auch diejenigen den Hut ziehen werden, die Rousseau gegen Meiers Eloge verteidigen wollen.
DIETER THOMÄ.
Heinrich Meier: "Über das Glück des philosophischen Lebens". Reflexionen zu Rousseaus Rêveries.
Verlag C. H. Beck, München 2011. 442 S., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wovon träumt Jean-Jacques Rousseau eigentlich in seinen berühmten "Rêveries"? Von einem philosophischen Leben, meint Heinrich Meier und verficht seine Antwort mit einer detailreichen und brillanten Interpretation.
Er war der schrägste Vogel eines an Sonderlingen reichen Jahrhunderts und doch der eindrucksvollste Repräsentant seiner Epoche. Er nannte gute Gründe für den großen Umbruch, der ins Haus stand, und stieg hinab in die Abgründe, die bei dieser Umwälzung aufbrachen. Er war Republikaner, bevor die Republik ausgerufen wurde, und Romantiker, bevor es die Romantik gab. Er analysierte die Dialektik der Aufklärung, während diese noch um ihren Sieg bangte. Er stritt mit denen, die seine Bücher verbrannten, und überwarf sich mit denen, die ihn schätzten. Er wollte, wie er 1762 schrieb, einfach nur "Mensch" sein und nicht "der Gott des Pöbels" oder der "Dalai Lama".
Was hieß das für Jean-Jacques Rousseau: ein "Mensch" zu sein? "Wenn man mir nur, zusammen mit dem Gebrauch einiger Bücher, die Freiheit lässt, zuweilen in einem Garten zu spazieren, dann bin ich zufrieden", schrieb er. Dieses Menschsein war ihm nur in kostbaren Zwischenzeiten vergönnt. Anfeindung, Verfolgung, aber auch der blanke Hunger kamen ihm immer wieder in die Quere.
Im Herbst 1765 war es mal wieder so weit. Rousseau war auf der Flucht. Vor ihm lag das Exil in England, hinter ihm lagen die schönste Zeit und der schönste Ort seines Lebens: sechs Wochen auf der St. Petersinsel im Bieler See. Diese Zeit und dieser Ort bilden den Rahmen für "Die Träumereien des einsamen Spaziergängers", Rousseaus am meisten unterschätzte, am häufigsten missverstandene Schrift. Die "Träumereien" sind als Dokument des Eskapismus, als Zeugnis eines autistischen oder narzisstischen Selbst sowie als Hymne auf die Botanisiertrommel interpretiert worden. Heinrich Meier, der vor Jahrzehnten die bis heute gültige Standardausgabe von Rousseaus "Abhandlung über die Ungleichheit" herausgegeben hat, versucht nun in seinem Buch, diesen Text aus der Nische der Geistesgeschichte herauszuziehen.
Genaugenommen stellt Meier die "Träumereien" nicht nur als wichtiges philosophisches Werk neben andere, sondern liest sie als einen Text, in dem die Philosophie selbst aufs Spiel gesetzt wird. Deshalb rückt er Rousseaus Spätschrift - in einer ein wenig künstlich wirkenden Abgrenzung - vom sogenannten "OEuvre", also den anderen Schriften, ab. Für Meier sind die "Träumereien" weder ein philosophisches Werk unter anderen noch ein letztlich antiphilosophisches Symptom des Rückzugs oder gar der Regression, sondern die "verwegene" und "kühne" Geschichte eines Übergangs von der Philosophie ins philosophische Leben.
"Ich bin jetzt also allein auf dieser Erde und habe keinen Bruder, keinen Nächsten, keinen Freund, keine Gesellschaft mehr außer mir selbst." Schon dieser erste Satz der "Träumereien" gleitet von Bedrückung in Befreiung hinüber. Revolutionen gibt es nicht nur im Staat, sondern auch in der Seele, und nichts weniger als eine "große Revolution" ist es, die Rousseau ausruft. Aber für wen? Nur von einer privaten Revolution, einer Selbstverwandlung scheint Rousseau zu berichten. Denn was haben die anderen damit zu tun, dass er von einer Dänischen Dogge angefallen wird, Kaninchen auswildert und seinen "inneren Frieden" dabei findet, sich "einen Weg zwischen Salweiden, Faulbäumen, Knöterich und vielerlei Gesträuch" zu bahnen?
Heinrich Meier weist auf einen ganz einfachen Punkt hin, der diese autobiographische Lesart in ihre Grenzen weist: dass im Titel dieses Textes von "den" Träumereien "des" einsamen Spaziergängers die Rede ist, nicht von nur "einem" Menschen und dessen Stimmungs- und Lebenswandel. Um ein "Ich" geht es, aber irgendwie doch um unser aller "Ich", um uns alle. Rousseau fragt: "Aber ich, von allem losgelöst, was bin ich selbst? Das ist es, was mir zu untersuchen bleibt." Zur unbedingten Konzentration auf sich selbst gehört der Rückzug in die Einsamkeit, die Rousseau den Genuss gewährt, "ganz ich" selbst und "ganz bei mir" zu sein.
In einer minutiösen Interpretation zeigt Heinrich Meier nun, dass es sich beim "Bei-sich-selbst-sein" nicht um einen Zustand handelt, in dem die Welt das Ich gleichgültig lässt. Rousseaus Zurückgezogenheit ist keine gedankliche Abschottung, die neue Freiheit auf der Insel setzt ihn in den Stand, alles, was ihn sein Leben lang umgetrieben hatte, Revue passieren zu lassen. Die "Träumereien" sind auch ein Buch der Erinnerung - der Erinnerung an ein Leben und ein Denken. Meier schreibt: "Die Politik und den Glauben, die Natur und die Liebe hatte Rousseau zu großen Themen des OEuvres gemacht. Als Gegenstände seiner Selbsterkenntnis kehren sie in den Rêveries wieder" - und all diese "Gegenstände", diese großen Worte tauchen auch in den Überschriften der Kapitel von Meiers Buch auf, die lakonisch "Glaube", "Natur", "Politik", Liebe" oder "Selbsterkenntnis" überschrieben sind.
Auf der St. Petersinsel schlägt nach Meier die Stunde des "Beginns eines philosophischen Lebens", das zwar keinen neuen Zugriff, aber einen neuen Blick auf die Welt eröffnet. "Rousseaus Beteiligung" werde nun "wesentlich Betrachtung". Was ergibt sich bei dieser Betrachtung zum Beispiel im Feld der Politik, also bei Rousseaus Rückblick auf seine epochale Schrift über den "Gesellschaftsvertrag"? Zweierlei. Zum einen stellt Rousseau neben den republikanischen Gesellschaftsvertrag, der von den Pflichten und Rechten der Staatsbürger handelt, noch eine andere Art von Sozialität: die "Gesellschaft zwischen dem Wohltäter und dem, der sich ihm mit dem Empfang der Wohltat verbunden hat". Diese Verbindung gilt Rousseau nun gar als die "heiligste von allen", denn jeder Zwang ist hier gebrochen. Zum anderen erscheint das philosophische Ich der "Träumereien" bei Meier als Wiedergänger einer besonderen Figur, die im "Contrat social" bereits einen Auftritt hatte: des "législateur", des weisen Gesetzgebers, der den Menschen, die in ihren Interessen befangen sind, zur Seite steht. Dessen "Klugheit" kehrt nun wieder als Tugend des "Philosophen". Ihm gelingt die Läuterung, die Unabhängigkeit vom "Tumult" und vom "Chaos" der Welt.
Meier schildert den Rousseau der "Träumereien" als einen Autor, der "seinem Zeitalter nicht untertan" und "im Wichtigsten nicht historisch gebunden" ist. Aus dieser Distanz heraus stellt er die Welt auf die "Probe der Reflexion". Niemand vor Meier hat diese philosophische "Revolution" plausibler und subtiler beschrieben; sein Buch setzt einen auf lange Sicht kaum überbietbaren Standard. Gleichwohl bleiben Zweifel, ob Meier - wie er behauptet - den "harten Kern" der "Träumereien" getroffen hat.
Wird in den "Träumereien" wirklich der Traum von einem philosophischen Leben geträumt, der die menschliche Existenz am Maßstab vollständiger geistiger Unabhängigkeit misst? Es gibt im fünften "Spaziergang" eine berühmte Stelle, in der Rousseau schildert, wie er sich am "sandigen Ufer des Sees" niederlegt: "Das Geräusch der Wellen dort und die Bewegung des Wassers fesselten meine Sinne, brachten jede andere Bewegung in meiner Seele zum Erliegen und ließen sie in eine angenehme Träumerei eintauchen . . ., und sie genügten, um mich meine Existenz mit Vergnügen fühlen zu lassen, ohne die Mühe des Denkens zu haben." Welt- und Seelenbewegung spielen in einer Korrespondenz von "Stimmungen" ineinander, das Gefühl der Freiheit, das Rousseau genießt, verdankt sich der Hingabe. Hier wird ein Augenblick des Glücks, des guten Lebens geschildert, nicht aber - wie man gegen Meier einwenden muss - die Zeitlosigkeit philosophischen Lebens.
Man mag beim Streit um die Frage, welche Lebensart Rousseau in den "Träumereien" nun wirklich entwirft, einwerfen, die Menschheit habe Wichtigeres zu tun, als sich mit der Deutung subtiler Wasserfreuden abzugeben. Und doch hängt an diesem Streit ums wahre Leben mehr, als er auf den ersten Blick erkennen lässt. Die eine Seite meint, dass mit Rousseaus Hilfe Formen der Einbettung, Abhängigkeit, Verbundenheit und Hingabe erkundet werden können, von denen der um Freiheit ringende Mensch in Gesellschaft und Einsamkeit, im Staat und in der Natur bestimmt bleibt. Auf der anderen Seite - und für sie ergreift Meier Partei - wird Rousseau ein "Ausnahme-Dasein" zugeschrieben, das letzten Endes in der idealen Unabhängigkeit des philosophischen Lebens gipfelt. Aber bleibt man nicht auch als Philosoph abhängig von der Sprache, die die anderen sprechen?
Eigentlich handelt es sich bei Heinrich Meiers Buch um zwei Bücher. Angehängt an seine Erörterung der "Träumereien" ist ein "zweites Buch" über "Rousseau und das Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars", also über ein berühmtes Kapitel aus Rousseaus "Émile". Natürlich kehren die großen Themen der "Träumereien" - zuvörderst die Frage des Glaubens - hier wieder. Und doch hat diese Kombination etwas von einer Behelfslösung. Dies tut der Tatsache keinen Abbruch, dass hier ein alles andere als unbeholfenes Buch vorliegt, vor dem auch diejenigen den Hut ziehen werden, die Rousseau gegen Meiers Eloge verteidigen wollen.
DIETER THOMÄ.
Heinrich Meier: "Über das Glück des philosophischen Lebens". Reflexionen zu Rousseaus Rêveries.
Verlag C. H. Beck, München 2011. 442 S., geb., 29,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Dies ist, warnt Rezensent Martin Meyer sofort, kein einfach zu lesendes Buch. Und eben darum lohne es die Lektüre. Ins Zentrum seiner Untersuchung übers philosophische Leben stellt der Philosoph Heinrich Meier eines der sonst selten unter die wichtigsten Arbeiten Rousseaus gerechnetes Letztwerk: nämlich seine späten, schon nicht mehr an die Öffentlichkeit, sondern an Freunde und Eingeweihte gerichteten "Träumereien des einsamen Spaziergängers". Mit großer Genauigkeit werden diese in der umfangreichen Studie untersucht und einer Lektüre unterzogen, die der großen Frage nach dem Glück, das im philosophischen Leben liegt, nachgeht. Daran, dass dieses besondere Glück nur den wenigen gegeben ist, dass es in der Einsamkeit und im Rückzug zu finden ist, lässt Rousseau wenig Zweifel. Die Kämpfe, die sein Leben bestimmten, hat der Philosoph in diesem Alterswerk hinter sich. Zu den vielen Vorzügen von Meiers genauer, auf "Augenhöhe" des Gegenstands stehender Studie gehöre, so der Rezensent, auch der Verweis aufs Gegengewicht, nämlich die Lektüre von Rousseaus "Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars" (aus dem "Emile") als exemplarische Untersuchung zum nichtphilosophischen Leben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Niemand vor Meier hat [...] [Rousseaus] philosophische 'Revolution' plausibler und subtiler beschrieben; sein Buch setzt einen auf lange Sicht kaum überbietbaren Standard." Dieter Thomä, Frankfurter Allgemeine Zeitung