Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.04.2005Der dritte Weg
Ästhetische Erziehung: Friedrich Schiller und die Kritik der Gegenwart
Seine Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen” hielt Friedrich Schiller „für das Beste, was ich in meinem Leben gemacht habe”. Und zweifellos ist dieser Text das Glanzvollste, was Schiller als Theoretiker vorgelegt hat, darüber hinaus auch das Folgenreichste. Mitreißend ist der Schwung seiner Beredsamkeit noch im abstraktesten Ideenflug. Grundform dieser Beredsamkeit ist die begriffliche Antithese, der Aufbau gewissermaßen elektrisch aufgeladener Polaritäten, zwischen denen die Gedanken nur so hin- und herflitzen.
Zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, Stoff und Form sieht Schiller die menschliche Existenz ausgespannt. Hier der Trieb, der natürliche Überlebenskampf, da das Gesetz, Tugend, Pflicht, und dazwischen der Mensch: „Hieraus fließen nun zwei entgegengesetzte Anforderungen an den Menschen, die zwei Fundamentalgesetze der sinnlich-vernünftigen Natur. Das erste dringt auf absolute Realität: er soll alles zur Welt machen, was bloß Form ist, und alle seine Anlagen zur Erscheinung bringen; das zweite dringt auf absolute Formalität: Er soll alles in sich vertilgen, was bloß Welt ist, und Übereinstimmung in alle seine Veränderungen bringen; mit anderen Worten: er soll alles Innere veräußern und alles Äußere formen.”
Wie schafft er das? Durch die Schönheit, also „lebende Gestalt”, freie Notwendigkeit, durch das Spiel, die immer neue, aber immer vernünftige Anordnung des Empirischen - durch Kunst. Schiller weiß, dass das sehr abstrakt ist, und so macht er aus den transzendentalen Bestimmungen sogleich eine anschauliche Kulturtheorie: Der Vorschein moralischer Selbstbestimmung zeigt sich schon da, wo Gegenstände des Gebrauchs, der physischen Notwendigkeit, verziert werden, also schon in der Putzsucht, im Ornament, in der zweckfreien Freude am Gefälligen, eben im Spiel - hier ist, lange bevor eine Moral ausformuliert werden muss, der erste Schritt weg vom nur physisch Notwendigen hin zur Freiheit getan, auf allen Gebieten.
Wer eine Frau nicht nur begehrenswert, sondern einfach schön anzuschauen findet, hat diesen Schritt zu höherer Sittlichkeit schon getan. Schillers Schrift mündet in eine für die deutsche Kultur gar nicht so repräsentative Eloge von guter Umgangsform, äußerlichem Anstand und feinem Geschmack. Und von da aus geht es dann fast schon von selbst weiter zur autonomen Kunst, dem zweckfreien Spiel, in dem der Mensch sich erst als freier, also wahrer Mensch beweist, jenseits des Naturzwangs der Triebe und diesseits vom Pflichtzwang des Sittengesetzes.
Lebensart in äußeren Dingen
Die „ästhetische Erziehung” des Titels darf man also im Kern durchaus handfest verstehen, als Weg zu einer höheren Lebensart schon in äußeren Dingen. In der frühen Fassung der so genannten „Augustenburger Briefe” hatte Schiller sogar Geschmackskultur und Religion unmittelbar nebeneinander gestellt, „weil sie beide das Verdienst gemein haben, zu einem Surrogat der wahren Tugend zu dienen, und die Gesetzmäßigkeit der Handlungen da zu sichern, wo die Pflichtmäßigkeit der Gesinnungen nicht zu hoffen ist”. Gibt es eine nüchternere Rechtfertigung von Höflichkeit? Nicht ohne Ironie ergänzte Schiller: Religion ist das Tugendsurrogat für Menschen ohne Schönheitssinn, Geschmack aber der entsprechende Ersatzstoff für Menschen mit solchem Sinn.
Diese weit gespannten Spekulationen werden erst in der zweiten Hälfte der „Briefe” entwickelt, in durchaus fachphilosophischer Manier, für die sich der Verfasser bei seinem idealen Leser immer wieder entschuldigt. Dieser ideale Leser hatte ursprünglich eine ganz reale Gestalt: Es war der Prinz Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, ein kunstbegeisterter Aristokrat, der dem gesundheitlich angeschlagenen Dichter 1791 ein dreijähriges Stipendium verliehen hatte, um ihn von der Fron publizistischer Lohnarbeit zu befreien. Schillers „Briefe zur ästhetischen Erziehung” gingen hervor aus Lehrschreiben, die er als Dank an seinen Gönner gerichtet hatte.
Nicht ohne Grund also endet die Druckfassung der „Briefe” in der Vision eines ästhetischen Staats, in dem die Schönheit dem herben Sittengesetz gesellige Züge verleiht. Den „schönen Ton in der Nähe des Thrones” begreift Schiller als die irdisch am ehesten mögliche Realisierung einer Gleichheit zwischen Menschen, die nur Schwärmer dem Wesen nach realisiert sehen möchten. Höflichkeit ist die immerhin mögliche Gestalt befreiter Humanität, ohne den Zwang einer Tugenddiktatur. Diesen „Staat des schönen Scheins”, unterstellt Schiller dem Bedürfnis nach in jeder fein gestimmten Seele; „der Tat nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden”.
Erst mit diesem Abschluss, dem Traum humaner Vornehmheit in Lebensformen auf Sichtweite, kehrt Schillers Schrift zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Der aber war ein politisches Bekenntnis. „Ich habe über politischen Jammer noch nie eine Feder angesetzt”, schrieb er am 20. Oktober 1794 an seinen neugewonnenen Freund Goethe, „und was ich in diesen Briefen davon sagte, geschah bloß, um in alle Ewigkeit nichts mehr davon zu sagen.” Schillers „Briefe” wollen nämlich nicht nur Kunst und Schönheit anthropologisch begründen; zunächst und vor allem reagieren sie auf die Französische Revolution und die Kultur der Aufklärung, beginnen also mit einem „Gemälde der Gegenwart”. Dieses Gemälde hat in den folgenden Generationen nicht aufgehört, seine Leser zu faszinieren.
In der Revolution und ihren Gewaltexzessen bricht die naturhafte Wildheit der Triebe hervor; der Umsturz aber trifft auf eine Kultur, die ihrerseits barbarische Züge trägt, denn sie hat die menschliche Mitte verloren. Die Zivilisation der Gegenwart ist zerrüttet durch Spezialisierungen, die man heute „funktionale Differenzierungen” nennen würde, also die Trennung von Kunst und Gelehrsamkeit, Spekulation und Praxis, Staat und Kirche, Gesetze und Sitten. All das wirkt nicht mehr organisch, sondern nur uhrwerkhaft zusammen. „Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus”. Mag solche Einseitigkeit in der Übung der Kräfte die Gattung zur Wahrheit führen, das Individuum führt sie zum Irrtum, weil es unter dem „Fluch des Weltzweckes” leidet.
Schiller diagnostiziert in den zivilisierten Klassen eine Depravation des Charakters, „die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist”. Unendlich folgenreich wurde diese Diagnose. Von Hölderlins „Hyperion” über den frühen Marx bis zu Max Weber reichen ihre Wirkungen. Noch Webers berühmte Formel, wir Modernen seien „Genussmenschen ohne Herz und Fachmenschen ohne Geist” ist ein Nachhall Schillers. Ob man es „Entfremdung” oder „Verlust der Mitte” nannte, kaum je wurde die Differenziertheit moderner Gesellschaften positiv gewertet oder wenigstens in ihrer Unausweichlichkeit hingenommen.
Nicht nur für den anthropologischen Gegensatz von Sinnlichkeit und Vernunft, sondern auch für den aktuellen kulturellen Zwiespalt zwischen der „Wildheit” der Volksmassen und der „Barbarei” einer zerfallenen Zivilisation wollte Schiller die Heilung in der Kunst, im ästhetischen Schein finden. Der „ästhetische Staat” erweist sich vor dem Hintergrund dieser Zeitdiagnose als Versuch, einen dritten Weg zu finden, auf dem der Fortschritt der Menschheit statt durch politische Reformen oder zivilisatorische Verbesserungen durch kulturelle Veredelung erreicht werden soll.
Schiller begründete also nicht so sehr, wie oft behauptet wird, die Kulturkritik - sie ist ein aufklärerisches Erbe, das von Rousseau und vielen anderen herrührt - sondern eine spezifisch deutsche Tradition: die der Kritik am Weltlauf aus der Kultur heraus, also von einem höheren Gesichtspunkt, vorgeblich jenseits materieller Interessen, jenseits auch fachmännischer Kompetenz. Mit den „Briefen zur ästhetischen Erziehung” beginnt, mit einem Wort, die Karriere des teils feintuerischen, teils moralisierenden Literaten in Deutschland. Geadelt wurde die Rolle des allzuständigen, dilettantischen, mit seinem Dilettantismus zufriedenen und selbstgerechten, gern unpolitischen Moralisten jeglicher Couleur.
Seine Plattform ist die ästhetische Kultur als höhere Ebene, aber auch als unbelangbarer Ort jenseits realer Verantwortung. Noch als Peter Handke den moralischen Rang der jugoslawischen Politik in den neunziger Jahren aus der Form der Belgrader Türklinken und der Schönheit „andersgelber Nudeln” der Serben ablesen wollte, agierte er in dem von Schiller eröffneten Raum. Handke aber war darin nur ein später Nachfolger etwa jener Legionen deutscher Professoren, die im Ersten Weltkrieg den deutschen Geist gegen Demokratie und Zivilisation des Westens in Stellung brachten.
In einer von Schillers „Briefen” geprägten Sicht kann die interessengeleitete Massendemokratie nur als Ausdruck triebhafter „Wildheit”, die moderne Zivilisation mit ihren professionellen Spezialisierungen nur als „Barbarei” erscheinen. Wohin aber führte der dritte Weg der höheren Kultur? Doch am ehesten in jene Zwischenwelt des Unpolitischen, wo Freiheit so leicht mit Innerlichkeit verwechselt werden kann und nicht wohlinformierte Intellektuelle, sondern vom Weltlauf angewiderte, verantwortungslose Literaten das Sagen haben. Friedrich Schiller, dieser reine Geist hat das nicht verschuldet; seine Größe zeigt sich darin, dass er eine Konstellation auf Begriffe gebracht hat, die seit zweihundert Jahren unter wechselnden Verkleidungen andauert. Vielleicht ehrt man diesen großen Denker am besten, wenn man ihn immer noch zur Kritik der Gegenwart heranzieht.
GUSTAV SEIBT
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Ästhetische Erziehung: Friedrich Schiller und die Kritik der Gegenwart
Seine Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen” hielt Friedrich Schiller „für das Beste, was ich in meinem Leben gemacht habe”. Und zweifellos ist dieser Text das Glanzvollste, was Schiller als Theoretiker vorgelegt hat, darüber hinaus auch das Folgenreichste. Mitreißend ist der Schwung seiner Beredsamkeit noch im abstraktesten Ideenflug. Grundform dieser Beredsamkeit ist die begriffliche Antithese, der Aufbau gewissermaßen elektrisch aufgeladener Polaritäten, zwischen denen die Gedanken nur so hin- und herflitzen.
Zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, Stoff und Form sieht Schiller die menschliche Existenz ausgespannt. Hier der Trieb, der natürliche Überlebenskampf, da das Gesetz, Tugend, Pflicht, und dazwischen der Mensch: „Hieraus fließen nun zwei entgegengesetzte Anforderungen an den Menschen, die zwei Fundamentalgesetze der sinnlich-vernünftigen Natur. Das erste dringt auf absolute Realität: er soll alles zur Welt machen, was bloß Form ist, und alle seine Anlagen zur Erscheinung bringen; das zweite dringt auf absolute Formalität: Er soll alles in sich vertilgen, was bloß Welt ist, und Übereinstimmung in alle seine Veränderungen bringen; mit anderen Worten: er soll alles Innere veräußern und alles Äußere formen.”
Wie schafft er das? Durch die Schönheit, also „lebende Gestalt”, freie Notwendigkeit, durch das Spiel, die immer neue, aber immer vernünftige Anordnung des Empirischen - durch Kunst. Schiller weiß, dass das sehr abstrakt ist, und so macht er aus den transzendentalen Bestimmungen sogleich eine anschauliche Kulturtheorie: Der Vorschein moralischer Selbstbestimmung zeigt sich schon da, wo Gegenstände des Gebrauchs, der physischen Notwendigkeit, verziert werden, also schon in der Putzsucht, im Ornament, in der zweckfreien Freude am Gefälligen, eben im Spiel - hier ist, lange bevor eine Moral ausformuliert werden muss, der erste Schritt weg vom nur physisch Notwendigen hin zur Freiheit getan, auf allen Gebieten.
Wer eine Frau nicht nur begehrenswert, sondern einfach schön anzuschauen findet, hat diesen Schritt zu höherer Sittlichkeit schon getan. Schillers Schrift mündet in eine für die deutsche Kultur gar nicht so repräsentative Eloge von guter Umgangsform, äußerlichem Anstand und feinem Geschmack. Und von da aus geht es dann fast schon von selbst weiter zur autonomen Kunst, dem zweckfreien Spiel, in dem der Mensch sich erst als freier, also wahrer Mensch beweist, jenseits des Naturzwangs der Triebe und diesseits vom Pflichtzwang des Sittengesetzes.
Lebensart in äußeren Dingen
Die „ästhetische Erziehung” des Titels darf man also im Kern durchaus handfest verstehen, als Weg zu einer höheren Lebensart schon in äußeren Dingen. In der frühen Fassung der so genannten „Augustenburger Briefe” hatte Schiller sogar Geschmackskultur und Religion unmittelbar nebeneinander gestellt, „weil sie beide das Verdienst gemein haben, zu einem Surrogat der wahren Tugend zu dienen, und die Gesetzmäßigkeit der Handlungen da zu sichern, wo die Pflichtmäßigkeit der Gesinnungen nicht zu hoffen ist”. Gibt es eine nüchternere Rechtfertigung von Höflichkeit? Nicht ohne Ironie ergänzte Schiller: Religion ist das Tugendsurrogat für Menschen ohne Schönheitssinn, Geschmack aber der entsprechende Ersatzstoff für Menschen mit solchem Sinn.
Diese weit gespannten Spekulationen werden erst in der zweiten Hälfte der „Briefe” entwickelt, in durchaus fachphilosophischer Manier, für die sich der Verfasser bei seinem idealen Leser immer wieder entschuldigt. Dieser ideale Leser hatte ursprünglich eine ganz reale Gestalt: Es war der Prinz Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, ein kunstbegeisterter Aristokrat, der dem gesundheitlich angeschlagenen Dichter 1791 ein dreijähriges Stipendium verliehen hatte, um ihn von der Fron publizistischer Lohnarbeit zu befreien. Schillers „Briefe zur ästhetischen Erziehung” gingen hervor aus Lehrschreiben, die er als Dank an seinen Gönner gerichtet hatte.
Nicht ohne Grund also endet die Druckfassung der „Briefe” in der Vision eines ästhetischen Staats, in dem die Schönheit dem herben Sittengesetz gesellige Züge verleiht. Den „schönen Ton in der Nähe des Thrones” begreift Schiller als die irdisch am ehesten mögliche Realisierung einer Gleichheit zwischen Menschen, die nur Schwärmer dem Wesen nach realisiert sehen möchten. Höflichkeit ist die immerhin mögliche Gestalt befreiter Humanität, ohne den Zwang einer Tugenddiktatur. Diesen „Staat des schönen Scheins”, unterstellt Schiller dem Bedürfnis nach in jeder fein gestimmten Seele; „der Tat nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden”.
Erst mit diesem Abschluss, dem Traum humaner Vornehmheit in Lebensformen auf Sichtweite, kehrt Schillers Schrift zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Der aber war ein politisches Bekenntnis. „Ich habe über politischen Jammer noch nie eine Feder angesetzt”, schrieb er am 20. Oktober 1794 an seinen neugewonnenen Freund Goethe, „und was ich in diesen Briefen davon sagte, geschah bloß, um in alle Ewigkeit nichts mehr davon zu sagen.” Schillers „Briefe” wollen nämlich nicht nur Kunst und Schönheit anthropologisch begründen; zunächst und vor allem reagieren sie auf die Französische Revolution und die Kultur der Aufklärung, beginnen also mit einem „Gemälde der Gegenwart”. Dieses Gemälde hat in den folgenden Generationen nicht aufgehört, seine Leser zu faszinieren.
In der Revolution und ihren Gewaltexzessen bricht die naturhafte Wildheit der Triebe hervor; der Umsturz aber trifft auf eine Kultur, die ihrerseits barbarische Züge trägt, denn sie hat die menschliche Mitte verloren. Die Zivilisation der Gegenwart ist zerrüttet durch Spezialisierungen, die man heute „funktionale Differenzierungen” nennen würde, also die Trennung von Kunst und Gelehrsamkeit, Spekulation und Praxis, Staat und Kirche, Gesetze und Sitten. All das wirkt nicht mehr organisch, sondern nur uhrwerkhaft zusammen. „Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus”. Mag solche Einseitigkeit in der Übung der Kräfte die Gattung zur Wahrheit führen, das Individuum führt sie zum Irrtum, weil es unter dem „Fluch des Weltzweckes” leidet.
Schiller diagnostiziert in den zivilisierten Klassen eine Depravation des Charakters, „die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist”. Unendlich folgenreich wurde diese Diagnose. Von Hölderlins „Hyperion” über den frühen Marx bis zu Max Weber reichen ihre Wirkungen. Noch Webers berühmte Formel, wir Modernen seien „Genussmenschen ohne Herz und Fachmenschen ohne Geist” ist ein Nachhall Schillers. Ob man es „Entfremdung” oder „Verlust der Mitte” nannte, kaum je wurde die Differenziertheit moderner Gesellschaften positiv gewertet oder wenigstens in ihrer Unausweichlichkeit hingenommen.
Nicht nur für den anthropologischen Gegensatz von Sinnlichkeit und Vernunft, sondern auch für den aktuellen kulturellen Zwiespalt zwischen der „Wildheit” der Volksmassen und der „Barbarei” einer zerfallenen Zivilisation wollte Schiller die Heilung in der Kunst, im ästhetischen Schein finden. Der „ästhetische Staat” erweist sich vor dem Hintergrund dieser Zeitdiagnose als Versuch, einen dritten Weg zu finden, auf dem der Fortschritt der Menschheit statt durch politische Reformen oder zivilisatorische Verbesserungen durch kulturelle Veredelung erreicht werden soll.
Schiller begründete also nicht so sehr, wie oft behauptet wird, die Kulturkritik - sie ist ein aufklärerisches Erbe, das von Rousseau und vielen anderen herrührt - sondern eine spezifisch deutsche Tradition: die der Kritik am Weltlauf aus der Kultur heraus, also von einem höheren Gesichtspunkt, vorgeblich jenseits materieller Interessen, jenseits auch fachmännischer Kompetenz. Mit den „Briefen zur ästhetischen Erziehung” beginnt, mit einem Wort, die Karriere des teils feintuerischen, teils moralisierenden Literaten in Deutschland. Geadelt wurde die Rolle des allzuständigen, dilettantischen, mit seinem Dilettantismus zufriedenen und selbstgerechten, gern unpolitischen Moralisten jeglicher Couleur.
Seine Plattform ist die ästhetische Kultur als höhere Ebene, aber auch als unbelangbarer Ort jenseits realer Verantwortung. Noch als Peter Handke den moralischen Rang der jugoslawischen Politik in den neunziger Jahren aus der Form der Belgrader Türklinken und der Schönheit „andersgelber Nudeln” der Serben ablesen wollte, agierte er in dem von Schiller eröffneten Raum. Handke aber war darin nur ein später Nachfolger etwa jener Legionen deutscher Professoren, die im Ersten Weltkrieg den deutschen Geist gegen Demokratie und Zivilisation des Westens in Stellung brachten.
In einer von Schillers „Briefen” geprägten Sicht kann die interessengeleitete Massendemokratie nur als Ausdruck triebhafter „Wildheit”, die moderne Zivilisation mit ihren professionellen Spezialisierungen nur als „Barbarei” erscheinen. Wohin aber führte der dritte Weg der höheren Kultur? Doch am ehesten in jene Zwischenwelt des Unpolitischen, wo Freiheit so leicht mit Innerlichkeit verwechselt werden kann und nicht wohlinformierte Intellektuelle, sondern vom Weltlauf angewiderte, verantwortungslose Literaten das Sagen haben. Friedrich Schiller, dieser reine Geist hat das nicht verschuldet; seine Größe zeigt sich darin, dass er eine Konstellation auf Begriffe gebracht hat, die seit zweihundert Jahren unter wechselnden Verkleidungen andauert. Vielleicht ehrt man diesen großen Denker am besten, wenn man ihn immer noch zur Kritik der Gegenwart heranzieht.
GUSTAV SEIBT
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