Ende der 1980er Jahre schloss nördlich von Philadelphia das Stahlwerk seine Tore, in dem Raymond Geuss' Vater lange Zeit gearbeitet hatte. Sein Onkel, ein Landwirt in Indiana, brauchte bald einen zweiten Job, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Auch anhand seiner Familiengeschichte zeigt der Philosoph in seinem neuen Buch, dass Arbeit, wie wir sie in westlichen Gesellschaften kannten, verschwindet. Automatisierung und Outsourcing haben einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel in Gang gesetzt, und Geuss führt seine Leserinnen und Leser durch diese Umbrüche bis zur die Gegenwart dominierenden Amazonisierung. Was ist Arbeit? Wie ist sie organisiert? Und wie wird Arbeit in Zukunft aussehen? In seinem hellsichtigen Essay verbindet Raymond Geuss philosophische Überlegungen mit ökonomischen und historischen Reflexionen. Auch mit der Arbeitsethik und dem Unbehagen an der Arbeit befasst er sich, das so alt ist wie die Arbeit selbst. Wir sollten uns, so Geuss, von den Pathologien unendlichen Wachstums befreien. Das bedeutet auch, Arbeit endlich nicht mehr als Konzept stetig steigender menschlicher Produktivkraft und Anstrengung zu begreifen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.08.2023Illusionen locken überall
Statt Liberalismus: Der Philosoph Raymond Geuss im Clinch mit Weltanschauungen
Menschen sind orientierungsbedürftig, sie suchen ihren Kompass nicht selten in Weltanschauungen, in "allumfassenden" Lehren, Überzeugungen, Meinungsgebilden oder Glaubenssystemen, die es erleichtern, sich zurechtzufinden - oder dies zumindest versprechen. Solche Orientierungsrahmen seien "sowohl unentbehrlich als auch unhaltbar", schreibt Raymond Geuss in seinem neuesten Buch, das davon handelt, wie man es anstellt, "nicht wie ein Liberaler" zu denken. Mit den grundsätzlichen Überlegungen zum Phänomen der Weltanschauungen knüpft er an seine vor drei Jahren veröffentlichte Essaysammlung an, die den Titel "Who Needs a World View?" trägt.
Der amerikanisch-britische Philosoph, der eine fein geschliffene Feder führt, hat sich als skeptischer Freigeist einen Namen gemacht hat. Darum mag es verwundern, dass die Antwort auf die Titelfrage beinahe so etwas wie eine anthropologische Wesensaussage einschließt. Das menschliche Leben, so lässt sich dem älteren Buch entnehmen, sei durch das stets wiederkehrende Bedürfnis charakterisiert, in einer "imaginären Einheit" aufgehoben zu sein, und durch das ebenso immer wiederkehrende Scheitern aller Bemühungen, dieses Bedürfnis zu befriedigen.
Der Liberalismus als die totale Ideologie unserer Ära
Die Versuche, in einer sinn- und identitätsstiftenden Weltanschauung Halt zu finden, scheiterten nicht zuletzt deswegen, deutet Geuss an, weil eine solche allumfassende Einheit nur "konstruiert" sein könne, menschengemacht. So sieht er uns Orientierungswaisen in einem Zirkel gefangen, der zwar durchschaut werden könne, den zu durchschauen jedoch "die Wiederkehr der Illusion" ebenso wenig verhindere wie das Essen die Wiederkehr des Hungers. Der Mensch - ein Eichhörnchen im Laufrad der Sinnbedürfnisse und Illusionen.
Das neue Buch - eine Art intellektuelle Autobiographie - weist zwar keinen Ausweg aus der existenziellen Tretmühle, vielleicht aber gibt es Hinweise darauf, wie der Kreislauf sich verlangsamen ließe. Jedenfalls beschreibt es, wie der Autor es geschafft zu haben glaubt, sich von einer Weltanschauung nicht vereinnahmen zu lassen, deren Idiom in den westlichen Gesellschaften "praktisch alles" durchdringe. Im Verbund mit Kapitalismus und Demokratie bilde der Liberalismus "die wirklich totale Ideologie unserer Ära", mit der es die besondere Bewandtnis habe, dass sie vorgebe, "etwas anderes" zu sein als Ideologie - in ihren "raffiniertesten Formen" präsentiere sie sich als "Antiideologie schlechthin".
Das frontale Auftaktverdikt macht neugierig auf Begründungen und Erläuterungen. Doch Geuss geht es, wie er hervorhebt, nicht um "herauslösbare Argumente gegen den Liberalismus". Es fänden sich zwar einige, etwa die Kritik an der liberalen Idee des "souveränen Individuums". Der Autor hält aber, salopp gesagt, Argumente in der Philosophie überhaupt für überbewertet. Argumentierend Argumente anderer zu widerlegen - das erinnert ihn an Gladiatorenkämpfe; und in der unter Philosophen verbreiteten Vorstellung, das bessere Argument wirke wie ein - und sei es: zwangloser - Zwang auf das Gegenüber, macht er "sadomasochistische Elemente" aus. Was er mit seinem Rückblick auf die eigene Bildungsgeschichte - und deren zeitgeschichtliche Kontexte - vergegenwärtigt, stellt sich seinerseits allerdings gleichfalls als eine mentale Dynamik von Einflüssen und Auswirkungen dar, der etwas Unausweichliches - etwas wie ein zwangloser Zwang - anhaftet, auch wenn sie sich "zufälligen" Umständen verdankt.
Am Ende steht eine Aversion gegen die liberale Weltsicht, eine "tiefe, dauerhafte und im Laufe der Jahre reflektierte Aversion", wie Geuss resümiert. Die Abneigung hat der Sohn eines Stahlwerkarbeiters und Student der New Yorker Columbia University als Zögling einer katholischen Internatsschule in Pennsylvania erworben, in der aus Ungarn emigrierte Priester seine Lehrer waren. Unter den Theologen stand der Liberalismus in keinem hohen Ansehen, die Atmosphäre der Bildungsanstalt war gleichwohl keine "illiberale", sie war nicht autoritär oder gar totalitär, so betont der Autor. Die kritische Beurteilung des modernen Liberalismus hat der Schüler verinnerlicht, gläubiger Anhänger einer katholischen Weltanschauung ist er dabei aber nicht geworden.
Aus dieser Konstellation gewinnt Geuss, was er den "Kerngedanken" des Buches nennt. Obgleich er es mit Adorno hält, der die Annahme einer "allgemeinen Kommunizierbarkeit eines jeden Gedankens" als "liberale Fiktion" einstufte, teilt er dem Leser eingangs die Quintessenz mit, auf die seine Schilderungen und Reflexionen hinausliefen: Wer in einem Milieu mit einer elaborierten Weltanschauung aufwachse, die allem und jedem einen Platz im "Ganzen" der Menschheitsgeschichte zuzuordnen beanspruche, könne in den Genuss eines "kognitiven Vorteils" kommen. Der Vorteil zeige sich in der Fähigkeit, "der Verlockung weit verbreiteter Illusionen zu widerstehen".
Soll damit gesagt sein, gegen eine allumfassende Weltanschauung helfe nur eine andere allumfassende (buchstäblich "katholische") Weltanschauung? Dann wäre der Vorteil, auf Distanz zu einer gesellschaftsweit tonangebenden Ideologie gehen zu können, mit dem Nachteil erkauft, lediglich einem anderen geschlossenen Weltbild anzuhängen, das seinerseits Illusionen erzeugt. Für Geuss, der zwischen "Ideologie" und "Weltanschauung" nicht explizit unterscheidet, wäre das gleichbedeutend damit, einer Gehirnwäsche unterzogen worden zu sein. Bei seiner Rückbesinnung legt er Wert darauf, dass er eben kein gläubiger Katholik geworden sei. Man gewinnt sogar den Eindruck, die Aversion gegen Religion und Gottesglauben sei noch ausgeprägter - allergischer? - als diejenige gegen den Liberalismus. Mit einer gewissen Vehemenz verkündet er apodiktisch - mithin unvorsichtig-: "Weder das Schicksal noch Gott existieren."
Was Raymond Geuss über Raymond Geuss berichtet, ergibt keine große, es ergibt eine kleine Erzählung, die Erzählung einer individuellen Lebensgeschichte, deren Protagonist Abstand zu allen "Großen Erzählungen" wahrt oder sucht, mit denen er in Kontakt kommt. (Der Sozialismus spielt als Idee und weltanschauliche Bewegung ebenfalls eine Rolle.) Ist es die Geschichte einer freischwebenden Intelligenz - oder eines Intellektuellen, der das freie Schweben als Sehnsucht kennt? Der Autor spricht von einer "Nische", in der er der wurde, der er ist. Bringt eine Nischenexistenz, die sich im Handgemenge konkurrierender Weltanschauungen behauptet, eine eigene Weltanschauung hervor, die Weltanschauung der allseitigen Weltanschauungskritik? Oder benötigt sie keine, weil die Kraft des Neinsagens zu totalisierenden Weltentwürfen sich selbst genug ist?
Selbstkritik, die auf Selbsterkenntnis zielt
Der "Kerngedanke", den die Erzählung vermitteln soll, ist nicht leicht präzise zu fassen und noch weniger leicht zu einer Lebenslehre zu verallgemeinern - es sei denn zu der ebenso plausiblen wie trivialen Durchhalteparole, dass wir weiterhin "guten Grund" haben, "Kritik zu kultivieren", wie es auf der letzten Seite heißt. Farbig und gehaltvoll sind im Kontrast zu ihrer Quintessenz die erzählten Lebensgeschichten. Die Kritik, die der Memoirenschreiber kultiviert, ist eine Selbstkritik, die auf Selbsterkenntnis zielt.
Dem philosophischen Projekt solcher Selbstbesinnung verdankt sich auch das Buch "A Philosopher Looks at Work", das gleichfalls in deutscher Übersetzung erschienen ist - eine (nicht minder lesenswerte) Einführung in die Philosophie der Arbeit, die an die Herkunftswelt des industriellen Philadelphia der Fünfziger- und Sechzigerjahre anknüpft. Raymond Geuss beherzigt, dass der sokratische Appell, Gründe zu geben, Rede und Antwort zu stehen, sich nicht nur auf Behauptungen und Urteile in einer Situation der Wechselrede bezieht, sondern ebenso sehr auf das eigene Leben, das Rechenschaft von dem verlangt, der es gelebt hat. Die philosophische Tugend, die dabei zum Zuge kommt, ist die der Redlichkeit. UWE JUSTUS WENZEL
Raymond Geuss: "Nicht wie ein Liberaler denken".
Aus dem Englischen von Karin Wördemann.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 268 S., geb. 28,- Euro.
Raymond Geuss; "Über die Arbeit". Ein Essay.
Aus dem Englischen von Martin Bauer. Hamburger Edition, Hamburg 2023. 198 S.,
br. 15,- Euro.
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Statt Liberalismus: Der Philosoph Raymond Geuss im Clinch mit Weltanschauungen
Menschen sind orientierungsbedürftig, sie suchen ihren Kompass nicht selten in Weltanschauungen, in "allumfassenden" Lehren, Überzeugungen, Meinungsgebilden oder Glaubenssystemen, die es erleichtern, sich zurechtzufinden - oder dies zumindest versprechen. Solche Orientierungsrahmen seien "sowohl unentbehrlich als auch unhaltbar", schreibt Raymond Geuss in seinem neuesten Buch, das davon handelt, wie man es anstellt, "nicht wie ein Liberaler" zu denken. Mit den grundsätzlichen Überlegungen zum Phänomen der Weltanschauungen knüpft er an seine vor drei Jahren veröffentlichte Essaysammlung an, die den Titel "Who Needs a World View?" trägt.
Der amerikanisch-britische Philosoph, der eine fein geschliffene Feder führt, hat sich als skeptischer Freigeist einen Namen gemacht hat. Darum mag es verwundern, dass die Antwort auf die Titelfrage beinahe so etwas wie eine anthropologische Wesensaussage einschließt. Das menschliche Leben, so lässt sich dem älteren Buch entnehmen, sei durch das stets wiederkehrende Bedürfnis charakterisiert, in einer "imaginären Einheit" aufgehoben zu sein, und durch das ebenso immer wiederkehrende Scheitern aller Bemühungen, dieses Bedürfnis zu befriedigen.
Der Liberalismus als die totale Ideologie unserer Ära
Die Versuche, in einer sinn- und identitätsstiftenden Weltanschauung Halt zu finden, scheiterten nicht zuletzt deswegen, deutet Geuss an, weil eine solche allumfassende Einheit nur "konstruiert" sein könne, menschengemacht. So sieht er uns Orientierungswaisen in einem Zirkel gefangen, der zwar durchschaut werden könne, den zu durchschauen jedoch "die Wiederkehr der Illusion" ebenso wenig verhindere wie das Essen die Wiederkehr des Hungers. Der Mensch - ein Eichhörnchen im Laufrad der Sinnbedürfnisse und Illusionen.
Das neue Buch - eine Art intellektuelle Autobiographie - weist zwar keinen Ausweg aus der existenziellen Tretmühle, vielleicht aber gibt es Hinweise darauf, wie der Kreislauf sich verlangsamen ließe. Jedenfalls beschreibt es, wie der Autor es geschafft zu haben glaubt, sich von einer Weltanschauung nicht vereinnahmen zu lassen, deren Idiom in den westlichen Gesellschaften "praktisch alles" durchdringe. Im Verbund mit Kapitalismus und Demokratie bilde der Liberalismus "die wirklich totale Ideologie unserer Ära", mit der es die besondere Bewandtnis habe, dass sie vorgebe, "etwas anderes" zu sein als Ideologie - in ihren "raffiniertesten Formen" präsentiere sie sich als "Antiideologie schlechthin".
Das frontale Auftaktverdikt macht neugierig auf Begründungen und Erläuterungen. Doch Geuss geht es, wie er hervorhebt, nicht um "herauslösbare Argumente gegen den Liberalismus". Es fänden sich zwar einige, etwa die Kritik an der liberalen Idee des "souveränen Individuums". Der Autor hält aber, salopp gesagt, Argumente in der Philosophie überhaupt für überbewertet. Argumentierend Argumente anderer zu widerlegen - das erinnert ihn an Gladiatorenkämpfe; und in der unter Philosophen verbreiteten Vorstellung, das bessere Argument wirke wie ein - und sei es: zwangloser - Zwang auf das Gegenüber, macht er "sadomasochistische Elemente" aus. Was er mit seinem Rückblick auf die eigene Bildungsgeschichte - und deren zeitgeschichtliche Kontexte - vergegenwärtigt, stellt sich seinerseits allerdings gleichfalls als eine mentale Dynamik von Einflüssen und Auswirkungen dar, der etwas Unausweichliches - etwas wie ein zwangloser Zwang - anhaftet, auch wenn sie sich "zufälligen" Umständen verdankt.
Am Ende steht eine Aversion gegen die liberale Weltsicht, eine "tiefe, dauerhafte und im Laufe der Jahre reflektierte Aversion", wie Geuss resümiert. Die Abneigung hat der Sohn eines Stahlwerkarbeiters und Student der New Yorker Columbia University als Zögling einer katholischen Internatsschule in Pennsylvania erworben, in der aus Ungarn emigrierte Priester seine Lehrer waren. Unter den Theologen stand der Liberalismus in keinem hohen Ansehen, die Atmosphäre der Bildungsanstalt war gleichwohl keine "illiberale", sie war nicht autoritär oder gar totalitär, so betont der Autor. Die kritische Beurteilung des modernen Liberalismus hat der Schüler verinnerlicht, gläubiger Anhänger einer katholischen Weltanschauung ist er dabei aber nicht geworden.
Aus dieser Konstellation gewinnt Geuss, was er den "Kerngedanken" des Buches nennt. Obgleich er es mit Adorno hält, der die Annahme einer "allgemeinen Kommunizierbarkeit eines jeden Gedankens" als "liberale Fiktion" einstufte, teilt er dem Leser eingangs die Quintessenz mit, auf die seine Schilderungen und Reflexionen hinausliefen: Wer in einem Milieu mit einer elaborierten Weltanschauung aufwachse, die allem und jedem einen Platz im "Ganzen" der Menschheitsgeschichte zuzuordnen beanspruche, könne in den Genuss eines "kognitiven Vorteils" kommen. Der Vorteil zeige sich in der Fähigkeit, "der Verlockung weit verbreiteter Illusionen zu widerstehen".
Soll damit gesagt sein, gegen eine allumfassende Weltanschauung helfe nur eine andere allumfassende (buchstäblich "katholische") Weltanschauung? Dann wäre der Vorteil, auf Distanz zu einer gesellschaftsweit tonangebenden Ideologie gehen zu können, mit dem Nachteil erkauft, lediglich einem anderen geschlossenen Weltbild anzuhängen, das seinerseits Illusionen erzeugt. Für Geuss, der zwischen "Ideologie" und "Weltanschauung" nicht explizit unterscheidet, wäre das gleichbedeutend damit, einer Gehirnwäsche unterzogen worden zu sein. Bei seiner Rückbesinnung legt er Wert darauf, dass er eben kein gläubiger Katholik geworden sei. Man gewinnt sogar den Eindruck, die Aversion gegen Religion und Gottesglauben sei noch ausgeprägter - allergischer? - als diejenige gegen den Liberalismus. Mit einer gewissen Vehemenz verkündet er apodiktisch - mithin unvorsichtig-: "Weder das Schicksal noch Gott existieren."
Was Raymond Geuss über Raymond Geuss berichtet, ergibt keine große, es ergibt eine kleine Erzählung, die Erzählung einer individuellen Lebensgeschichte, deren Protagonist Abstand zu allen "Großen Erzählungen" wahrt oder sucht, mit denen er in Kontakt kommt. (Der Sozialismus spielt als Idee und weltanschauliche Bewegung ebenfalls eine Rolle.) Ist es die Geschichte einer freischwebenden Intelligenz - oder eines Intellektuellen, der das freie Schweben als Sehnsucht kennt? Der Autor spricht von einer "Nische", in der er der wurde, der er ist. Bringt eine Nischenexistenz, die sich im Handgemenge konkurrierender Weltanschauungen behauptet, eine eigene Weltanschauung hervor, die Weltanschauung der allseitigen Weltanschauungskritik? Oder benötigt sie keine, weil die Kraft des Neinsagens zu totalisierenden Weltentwürfen sich selbst genug ist?
Selbstkritik, die auf Selbsterkenntnis zielt
Der "Kerngedanke", den die Erzählung vermitteln soll, ist nicht leicht präzise zu fassen und noch weniger leicht zu einer Lebenslehre zu verallgemeinern - es sei denn zu der ebenso plausiblen wie trivialen Durchhalteparole, dass wir weiterhin "guten Grund" haben, "Kritik zu kultivieren", wie es auf der letzten Seite heißt. Farbig und gehaltvoll sind im Kontrast zu ihrer Quintessenz die erzählten Lebensgeschichten. Die Kritik, die der Memoirenschreiber kultiviert, ist eine Selbstkritik, die auf Selbsterkenntnis zielt.
Dem philosophischen Projekt solcher Selbstbesinnung verdankt sich auch das Buch "A Philosopher Looks at Work", das gleichfalls in deutscher Übersetzung erschienen ist - eine (nicht minder lesenswerte) Einführung in die Philosophie der Arbeit, die an die Herkunftswelt des industriellen Philadelphia der Fünfziger- und Sechzigerjahre anknüpft. Raymond Geuss beherzigt, dass der sokratische Appell, Gründe zu geben, Rede und Antwort zu stehen, sich nicht nur auf Behauptungen und Urteile in einer Situation der Wechselrede bezieht, sondern ebenso sehr auf das eigene Leben, das Rechenschaft von dem verlangt, der es gelebt hat. Die philosophische Tugend, die dabei zum Zuge kommt, ist die der Redlichkeit. UWE JUSTUS WENZEL
Raymond Geuss: "Nicht wie ein Liberaler denken".
Aus dem Englischen von Karin Wördemann.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 268 S., geb. 28,- Euro.
Raymond Geuss; "Über die Arbeit". Ein Essay.
Aus dem Englischen von Martin Bauer. Hamburger Edition, Hamburg 2023. 198 S.,
br. 15,- Euro.
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