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Zwei junge Afghanen auf gefährlicher Flucht
Mit „Train Kids“ gelang Dirk Reinhardt 2015 ein hochgelobter Roman über die Flucht Jugendlicher, die Mexiko auf dem Weg in ihr Traumland USA als blinde Zugpassagiere durchqueren. Jetzt legt der Autor mit „Über die Berge und über das Meer“ eine gut recherchierte Geschichte vor, die eine Tragödie aus einer ganz anderen Ecke der Welt ins Blickfeld rückt: die Flucht zweier Jugendlicher aus Afghanistan nach Deutschland.
Was am Roman zuallererst auffällt, ist die wohltuende Behutsamkeit, mit der Reinhardt von den Erfahrungen seiner beiden Protagonisten erzählt, jeweils von Kapitel zu Kapitel wechselnd: vom Leben der vielleicht 14jährigen Soraya aus einem paschtunischen Bergdorf und vom Leben des nur wenig älteren Tarek vom Nomadenvolk der Kuchis, eines meisterlichen Schafhirten und begnadeten Geschichtenerzählers. Soraya und Tarek mögen sich, sehen sich allerdings nur im Frühjahr, wenn Tareks Stamm ins Sommerquartier zieht. Das Spannende an ihrer Freundschaft ist, dass Tarek Soraya für einen Jungen hält. Weil ihre Mutter keinen männlichen Stammhalter zur Welt brachte, darf das Mädchen als siebte und jüngste Tochter nach altem paschtunischen Recht als Junge erzogen werden. So lange jedenfalls, wie sich ihre Entwicklung zur Frau verbergen lässt. Doch in diesem Frühjahr geht die Unbeschwertheit ihres Jungenlebens zu Ende. Sie spürt ihren Körper neu, fühlt das Aufkeimen einer Liebe zu Tarek und wird von den allgegenwärtigen Taliban mit Brutalität auf die Rolle als dienende Frau verpflichtet, die das Haus allein nicht verlassen und auch nicht zur Schule gehen darf. Währenddessen versuchen Taliban im Lager der Kuchis den begabten Fährtenleser Tarek mit Gewalt in ihre Reihen zu zwingen.
Ohne Effekthascherei beschreibt Reinhardt die Zuspitzung der Lebensbedrohung, die schließlich zur Entscheidung der Familien führt, die Tochter/den Sohn auf den gefährlichen und teuren Weg nach Westen zu schicken. Die Vorgeschichte der Flucht nimmt immerhin ein Drittel des Romans ein. So können sich die Leser ein umfassendes Bild der Lebenssituation der Jugendlichen machen. Danach schildert der Autor detailliert, was die beiden auf ihren unterschiedlichen Fluchtwegen erleiden. Reinhardts Ton ist nie reißerisch, wenn er von unsäglichen Strapazen schreibt, von glücklichen Zufällen, von Katastrophen, von der Abhängigkeit von kriminellen Schleuserbanden, von Geschäftemachern, von abgestumpften Fluchthelfern, aber auch von unerwarteten Begegnungen mit hilfsbereiten Menschen. Monatelang sind Soraya und Tarek unterwegs, vom Osten Afghanistans über den Iran, die Türkei, Griechenland und Italien bis nach Deutschland, wo sie sich wiederfinden – soviel Romanze gesteht Dirk Reinhardt seinen Charakteren zu, deren Geschichte er aus den Erzählungen Betroffener schrieb. Nicht nur für junge Leser und Leserinnen öffnen sich in diesem Roman Blickwinkel zum Leben von Menschen in Krisengebieten, die im Übermaß tagtäglicher Information zum Thema Flucht unterzugehen drohen. (ab 13 Jahre)
SIGGI SEUSS
Dirk Reinhardt: Über die Berge und über das Meer. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2019. 272 Seiten, 14,95 Euro.
Mit Brutalität auf die Rolle
als Frau verpflichtet
Auf unterschiedlichen
Fluchtwegen nach Deutschland
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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