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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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"Paul Lendvai hat eine seltene journalistische Gabe: Er kann analysieren - und er kann erzählen." Hans Rauscher, Standard, 22.02.24
"Lendvais heucheleikritische Essays sind kurzweilig, gescheit und vergnüglich zu lesen. Zu behaupten, dass diese Lektüre nicht auch zutiefst beunruhigend wäre, das wäre allerdings - geheuchelt." Günter Kaindlstorfer, Deutschlandfunk, 12.02.24
Der Journalist Paul Lendvai über Viktor Orbán, Sebastian Kurz und andere Politiker, für die er - vorsichtig formuliert - wenig Sympathie hegt
Unter "Heuchelei" versteht der Duden eine (fortwährende) Verstellung oder die Vortäuschung nicht vorhandener Gefühle, Eigenschaften oder Ähnlichem. Dass dergleichen in der Politik angeblich ständig vorkomme, ist ein Gemeinplatz. Paul Lendvai hat den Versuch unternommen, ihn mit Empirie aus seinem reichen Journalistenleben zu füllen. Herausgekommen ist ein Buch, das von Putin über Milosevic hin zu Orbán und Kurz führt. Lendvai will "die Rolle der Heuchelei, der Doppelmoral, der menschlichen und politischen Doppelzüngigkeit und Scheinheiligkeit bei den im Rückblick unverständlichen Handlungen und Erklärungen von Spitzenpolitikern behandeln".
Wer eine systematische Abhandlung über die Rolle der Heuchelei in der Politik sucht, wird nicht auf seine Kosten kommen. Wer sind die Heuchler: die, die verführen oder die, die sich verführen lassen? Handelt es sich um Blindheit, Irrtum, Eitelkeit, Starrsinn statt um Heuchelei? Kommt Heuchelei später ins Spiel, um solche Fehler zu überdecken, oder ist sie Prinzip? In solche Fragen und Details vertieft sich Lendvai nicht. Eher lässt er sich begleiten, während er durch Archiv und Bibliothek wandert und das Herausgegriffene mit Szenen belebt, die er (wie der Rezensent auch schon erfahren durfte) lebhaft im Gedächtnis hat, auch wenn sie zum Teil mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen. Lendvai, der als Sohn jüdischer Eltern in Budapest die Verfolgung durch die Nazis überleben konnte, ist als Journalist im kommunistischen Ungarn Anfang der 1950er-Jahre in Ungnade gefallen und im Zuge des Ungarnaufstands nach Westen entkommen. Sein autobiographisches Buch "Auf schwarzen Listen" ist immer noch lesenswert. Seit 1959 österreichischer Staatsbürger, konnte er wieder offen journalistisch arbeiten, zunächst für die "Financial Times", dann vor allem für den ORF, dem er bis heute verbunden ist. Erst dieser Tage hat der 94-Jährige nach 44 Jahren die letzte Sendung des "Europastudios" moderiert.
Lendvai behandelt zunächst die Verblendung, in der Protagonisten der westlichen Linken auf das kommunistische Heilsversprechen der Sowjetunion seit deren Anfängen hineingefallen sind, und landet bald bei der deutschen Sozialdemokratie und ihrer Schwäche für Russland. Im Zusammenhang mit der Ostpolitik Willy Brandts erzählt er eine Anekdote von 1963: Eigentlich war er auf Reportagereise in Ostdeutschland. Den DDR-Behörden bereitete es schwere Bauchschmerzen, dass er einen "unüblichen", wie ihm bedeutet wurde, Abstecher nach Westberlin machen wollte, um den damaligen Pressesprecher Brandts, Egon Bahr, kennenzulernen. Obwohl Lendvai Brandt und Bahr und ihrer ursprünglichen Ostpolitik durchaus zugetan ist, verschont er sie und die SPD nicht mit Kritik für das Ignorieren der Bürgerrechts- und Gewerkschaftsbewegungen in Mitteleuropa. Ganz zu schweigen heute von "Putins Laufburschen" Schröder.
Wo es um Putin geht, erzählt Lendvai von Begegnungen mit mutigen Russen wie Galina Starowoitowa und Boris Nemzow, die sich dessen Regime frühzeitig in den Weg stellten - und ihm zum Opfer fielen. Putin sei er einmal begegnet, 2001 anlässlich eines Staatsbanketts in der Wiener Hofburg. "Auch unsere Begegnung - Putin quittierte mit freundlichem Lächeln meine auf Russisch formulierten Gemeinplätze - hat ein Fotograf festgehalten, und ich konnte meine journalistische Eitelkeit durch den Abdruck dieses Fotos in meiner Autobiographie befriedigen." Selbstironie ist ein Gegengift gegen Heuchelei.
Auch die Kapitel über Jugoslawien und seinen blutigen Zerfall werden dort lebendig, wo Lendvai aus seinen Erlebnissen und Begegnungen schöpft. Etwa mit dem Philosophen Mihailo Markovic, der in den 1970er-Jahren mutige Aufsätze über die KP und den skrupellosen Nationalismus schrieb. Lendvai setzte sich damals für ihn ein. Umso überraschter sei er gewesen, als Markovic sich zehn Jahre später als hemmungsloser und wortgewaltiger Verteidiger des Milosevic-Regimes entpuppte.
Letztlich steuert Lendvais Buch auf Viktor Orbán zu, den er als "Weltmeister des Zynismus" bezeichnet, und auf Sebastian Kurz, bei dem er den "Mann hinter den Masken" sucht. Orbán hat er 1993 anlässlich eines Vortrags in Wien als "zukunftsträchtigen, progressiven Politiker der jungen Generation" kennengelernt, der sich später ins nationale und konservative Lager begeben sollte. Zuletzt traf er Orbán 2010 drei Tage vor dessen fulminantem Wahlsieg 2010 - zufällig auf einer Autobahnraststätte zwischen Budapest und Wien. Orbáns Regime liefere nicht nur immer wieder abstoßende Beispiele der Heuchelei im Umgang mit den Institutionen der EU, resümiert Lendvai. Er spiele durch seine enge Zusammenarbeit mit dem Aggressor Russland und anderen Autokraten der Welt insgesamt eine destruktive Rolle in der europäischen Politik. Im Kapitel über Kurz schließlich finden sich Zitate aus anderen Quellen, aber keine persönliche Erzählung mehr. Umso härter und unversöhnlicher fällt Lendvais Urteil über Kurz aus, mit dem er sein Buch abschließt. In all seinen Jahren habe er niemanden erlebt, der "ein solcher Virtuose der politischen Heuchelei gewesen wäre". STEPHAN LÖWENSTEIN
Paul Lendvai: Über die Heuchelei. Täuschungen und Selbsttäuschungen in der Politik.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2024. 176 S., 23,- Euro.
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