Der genaue Charakter dieser Schrift, die Grenzen neu zieht (so zwischen Metaphysik und Moral auf der einen und Religion auf der anderen Seite), aber auch überschreitet (so im literarischen Genus), läßt sich indessen nur schwer bestimmen. Die Reden waren Schleiermachers literarischer Erstling. Ihre Abfassung fällt in die Zeit der intensiven Freundschaft und Zusammenarbeit mit Friedrich Schlegel, sie zeugen aber bereits von der Eigenständigkeit und Originalität der Schleiermacherschen Gedanken innerhalb des frühromantischen Freundeskreises. Die Entschiedenheit, mit der Schleiermacher die Religion von der Philosophie trennt, verbietet es, die Reden umstandslos als einen philosophischen Text zu lesen. Doch diese Trennung verliert dort an Schärfe, wo er die Religion ausdrücklich ins Verhältnis zur Philosophie setzt und nicht nur die Philosophie betreffende Thesen vertritt, sondern auch philosophische Positionen für sein Religionsverständnis vereinnahmt. Dies geschieht vor allem dort, wo die Religion als 'Gefühl des Unendlichen' bzw. 'Sehnsucht' nach dem Unendlichen spekulative Bedeutung erlangt. Die Religion, so führt Schleiermacher aus, bilde das 'Gegengewicht' zu dem »Triumph der Spekulation […], dem vollendeten und gerundeten Idealismus«, indem sie ihn »einen höheren Realismus ahnden läßt als den, welchem er so kühn und mit so vollem Recht sich unterordnet«.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.2012Bloß keine mutwilligen Pointen!
Den Zeitgeist genau im Blick: Eine exzellente Studienausgabe stellt die Fassungen von Friedrich Schleiermachers "Reden über die Religion" zusammen.
Von Johann Hinrich Claussen
Das Edieren von Texten mag einmal ein Handwerk gewesen sein, heute ist es eine Technologie - komplex und für die Nutzer fast so unergründlich wie eine Computer-Software. Bei aller text-technischen Raffinesse sowie dem ungeheuren Aufwand an Ressourcen geht jedoch leicht das Bewusstsein dafür verloren, dass das Edieren auch eine Kunst ist, in der Inspiration und ästhetischer Sinn eine Rolle spielen. Manchmal sind es kleine Editionen, die dies wieder in Erinnerung rufen, wie jetzt eine neue Studienausgabe von Friedrich Schleiermachers "Reden über die Religion".
Wie bitte, eine Neuedition dieser Epochenschrift? Es gibt doch neben zwei großen Bänden der Kritischen Gesamtausgabe schon allerlei Studienausgaben. Aber der Schweizer Theologe Niklaus Peter hatte einfach eine gute Idee. Als Dreißigjähriger hatte Schleiermacher seine "Reden" 1799 zum ersten Mal veröffentlicht - ein aufregendes Pamphlet im Geist der frühromantischen Avantgarde. Dieses hatte er jedoch 1806 für die zweite Auflage erheblich umgearbeitet. Auch die dritte Auflage von 1821 führte zu großen Veränderungen. Will man Schleiermachers berühmtestes Buch also verstehen, muss man alle drei Versionen nebeneinanderlegen.
Doch die Schleiermacher-Rezeption beschränkte sich zunächst auf die späte und dann auf die frühe Version. Lediglich eine Ausgabe aus dem Jahr 1879 versuchte eine parallele Präsentation, war aber sehr fehlerhaft. Natürlich stellte die Kritische Gesamtausgabe alle Textvarianten vor, doch auf zwei dicke Bände (von 1984 und 1995) verteilt, die - wie Peter schreibt - wohl nur für "professionelle Schleiermacher-Forscher und vollbeamtete Leser" gedacht sind. Deshalb erarbeitete er mit seinem Team eine handliche Studienausgabe, die endlich ein vergleichendes Lesen ermöglicht. Eine feinsinnige Typographie macht dieses fast zu einem Vergnügen. Wie gesagt, Edieren kann auch eine Kunst sein.
Schleiermachers "Reden über die Religion" sind ein Klassiker, aber nicht nur. Es handelt sich bei ihnen tatsächlich um - wenn auch nie gehaltene - Reden. Sie sprechen zu einer bestimmten Gruppe in einer bestimmten Zeit. Deshalb musste der Autor ihre späteren Neuauflagen verändern, um dem Grundanliegen treu zu bleiben. In der ersten Version wollte Schleiermacher seinen gebildeten Zeitgenossen ein solches Bild der Religion malen, das sie nicht so leicht verachten konnten wie die Christentumklischees des orthodoxen Klerus oder der aufgeklärten Vernunftprediger: Religion hat eine eigene Provinz im Gemüt, sie ist Sinn und Geschmack für das Unendliche. Schleiermacher tat dies mit jugendlichem Schwung, romantischer Euphorie und intellektueller Provokationslust.
Doch schon sieben Jahre später, als er an die zweite Auflage ging, hatte sich vieles geändert. Die Begeisterung über die Französische Revolution war verflogen, das alte deutsche Reich untergegangen, Napoleon hatte Deutschland einer Zwangsmodernisierung unterworfen. Und Schleiermacher hatte Berlin mit seinen Salons verlassen, war zunächst Pastor in der Provinz, dann Professor in Halle geworden. Die Zeit der dritten Auflage wiederum war politisch von harter Reaktion und kirchlich von einem aggressiven Neupietismus geprägt. Schleiermacher war nun Professor in Berlin mit vielfältigen wissenschaftspolitischen Verpflichtungen und Konflikten, außerdem hatte er im selben Jahr mit der "Glaubenslehre" sein Hauptwerk vorgelegt. All diese Umstände und Umbrüche mussten ihren Niederschlag finden.
So zeigen die Veränderungen in der zweiten und dritten Auflage neben gedanklichen Klärungen und Präzisierungen vor allem Abmilderungen und Glättungen. Der Schwung des Anfangs verliert an Rasanz. Oberflächlich betrachtet, könnte man darin das bei Theologen nicht unübliche "Nachdunkeln im Amt" wiedererkennen. Dann würde man aber verkennen, dass jede Lebensphase und -position ihre eigene Form der Rede braucht. Was dem Jüngling ziemt, wirkt beim erwachsenen Mann peinlich. Was man von einem freien Religionsintellektuellen erwartet, ist nicht das, was man einem kirchlichen und universitären Verantwortungsträger hören mag.
Wenn der späte Schleiermacher also die Grundanliegen seiner frühen Zeit bewahren wollte, musste er deren rhetorische Darbietungsform erheblich verändern: ruhiger Ernst statt Begeisterungsemphase, Augenmaß statt Originalitätsstreben. Wie aus einem genialen Renegaten eine - im guten Sinne - Amtsperson wurde, zeigt sich am schönsten bei den Bemerkungen über die Bibel. 1799 hatte Schleiermacher noch geschrieben: "Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion, ein Denkmal, dass ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist." Aus dieser Bibelstürmerei wurde in der Version von 1806 dann: "Jede heilige Schrift ist an sich ein herrliches Erzeugnis, ein redendes Denkmal aus der heroischen Zeit der Religion; aber der knechtischen Verehrung ist sie nur ein Mausoleum, ein Denkmal, dass ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist."
Man sieht, der Grundgedanke ist erhalten geblieben, aber um ihn gesprächsfähig zu machen, wurde auf eine mutwillige Pointe verzichtet. So stellt die neue Studienausgabe Seite um Seite stilistische Änderungen, gedankliche Wandlungen und persönliche Metamorphosen vor. Sie lässt den Leser teilhaben an einem Prozess der Klärung, der Ernüchterung, des Erwachsenwerdens. Diese Edition bietet nichts Geringeres als eine ganze Denkbiographie in einem einzelnen Buch.
Friedrich Schleiermacher: "Über die Religion". Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern.
Hrsg. von Niklaus Peter, Frank Bestebreurtje und Anna Büsching. Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2012. 308 S., br., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Den Zeitgeist genau im Blick: Eine exzellente Studienausgabe stellt die Fassungen von Friedrich Schleiermachers "Reden über die Religion" zusammen.
Von Johann Hinrich Claussen
Das Edieren von Texten mag einmal ein Handwerk gewesen sein, heute ist es eine Technologie - komplex und für die Nutzer fast so unergründlich wie eine Computer-Software. Bei aller text-technischen Raffinesse sowie dem ungeheuren Aufwand an Ressourcen geht jedoch leicht das Bewusstsein dafür verloren, dass das Edieren auch eine Kunst ist, in der Inspiration und ästhetischer Sinn eine Rolle spielen. Manchmal sind es kleine Editionen, die dies wieder in Erinnerung rufen, wie jetzt eine neue Studienausgabe von Friedrich Schleiermachers "Reden über die Religion".
Wie bitte, eine Neuedition dieser Epochenschrift? Es gibt doch neben zwei großen Bänden der Kritischen Gesamtausgabe schon allerlei Studienausgaben. Aber der Schweizer Theologe Niklaus Peter hatte einfach eine gute Idee. Als Dreißigjähriger hatte Schleiermacher seine "Reden" 1799 zum ersten Mal veröffentlicht - ein aufregendes Pamphlet im Geist der frühromantischen Avantgarde. Dieses hatte er jedoch 1806 für die zweite Auflage erheblich umgearbeitet. Auch die dritte Auflage von 1821 führte zu großen Veränderungen. Will man Schleiermachers berühmtestes Buch also verstehen, muss man alle drei Versionen nebeneinanderlegen.
Doch die Schleiermacher-Rezeption beschränkte sich zunächst auf die späte und dann auf die frühe Version. Lediglich eine Ausgabe aus dem Jahr 1879 versuchte eine parallele Präsentation, war aber sehr fehlerhaft. Natürlich stellte die Kritische Gesamtausgabe alle Textvarianten vor, doch auf zwei dicke Bände (von 1984 und 1995) verteilt, die - wie Peter schreibt - wohl nur für "professionelle Schleiermacher-Forscher und vollbeamtete Leser" gedacht sind. Deshalb erarbeitete er mit seinem Team eine handliche Studienausgabe, die endlich ein vergleichendes Lesen ermöglicht. Eine feinsinnige Typographie macht dieses fast zu einem Vergnügen. Wie gesagt, Edieren kann auch eine Kunst sein.
Schleiermachers "Reden über die Religion" sind ein Klassiker, aber nicht nur. Es handelt sich bei ihnen tatsächlich um - wenn auch nie gehaltene - Reden. Sie sprechen zu einer bestimmten Gruppe in einer bestimmten Zeit. Deshalb musste der Autor ihre späteren Neuauflagen verändern, um dem Grundanliegen treu zu bleiben. In der ersten Version wollte Schleiermacher seinen gebildeten Zeitgenossen ein solches Bild der Religion malen, das sie nicht so leicht verachten konnten wie die Christentumklischees des orthodoxen Klerus oder der aufgeklärten Vernunftprediger: Religion hat eine eigene Provinz im Gemüt, sie ist Sinn und Geschmack für das Unendliche. Schleiermacher tat dies mit jugendlichem Schwung, romantischer Euphorie und intellektueller Provokationslust.
Doch schon sieben Jahre später, als er an die zweite Auflage ging, hatte sich vieles geändert. Die Begeisterung über die Französische Revolution war verflogen, das alte deutsche Reich untergegangen, Napoleon hatte Deutschland einer Zwangsmodernisierung unterworfen. Und Schleiermacher hatte Berlin mit seinen Salons verlassen, war zunächst Pastor in der Provinz, dann Professor in Halle geworden. Die Zeit der dritten Auflage wiederum war politisch von harter Reaktion und kirchlich von einem aggressiven Neupietismus geprägt. Schleiermacher war nun Professor in Berlin mit vielfältigen wissenschaftspolitischen Verpflichtungen und Konflikten, außerdem hatte er im selben Jahr mit der "Glaubenslehre" sein Hauptwerk vorgelegt. All diese Umstände und Umbrüche mussten ihren Niederschlag finden.
So zeigen die Veränderungen in der zweiten und dritten Auflage neben gedanklichen Klärungen und Präzisierungen vor allem Abmilderungen und Glättungen. Der Schwung des Anfangs verliert an Rasanz. Oberflächlich betrachtet, könnte man darin das bei Theologen nicht unübliche "Nachdunkeln im Amt" wiedererkennen. Dann würde man aber verkennen, dass jede Lebensphase und -position ihre eigene Form der Rede braucht. Was dem Jüngling ziemt, wirkt beim erwachsenen Mann peinlich. Was man von einem freien Religionsintellektuellen erwartet, ist nicht das, was man einem kirchlichen und universitären Verantwortungsträger hören mag.
Wenn der späte Schleiermacher also die Grundanliegen seiner frühen Zeit bewahren wollte, musste er deren rhetorische Darbietungsform erheblich verändern: ruhiger Ernst statt Begeisterungsemphase, Augenmaß statt Originalitätsstreben. Wie aus einem genialen Renegaten eine - im guten Sinne - Amtsperson wurde, zeigt sich am schönsten bei den Bemerkungen über die Bibel. 1799 hatte Schleiermacher noch geschrieben: "Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion, ein Denkmal, dass ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist." Aus dieser Bibelstürmerei wurde in der Version von 1806 dann: "Jede heilige Schrift ist an sich ein herrliches Erzeugnis, ein redendes Denkmal aus der heroischen Zeit der Religion; aber der knechtischen Verehrung ist sie nur ein Mausoleum, ein Denkmal, dass ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist."
Man sieht, der Grundgedanke ist erhalten geblieben, aber um ihn gesprächsfähig zu machen, wurde auf eine mutwillige Pointe verzichtet. So stellt die neue Studienausgabe Seite um Seite stilistische Änderungen, gedankliche Wandlungen und persönliche Metamorphosen vor. Sie lässt den Leser teilhaben an einem Prozess der Klärung, der Ernüchterung, des Erwachsenwerdens. Diese Edition bietet nichts Geringeres als eine ganze Denkbiographie in einem einzelnen Buch.
Friedrich Schleiermacher: "Über die Religion". Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern.
Hrsg. von Niklaus Peter, Frank Bestebreurtje und Anna Büsching. Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2012. 308 S., br., 32,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Höchst willkommen ist dem Pastor und Theologen Johann Hinrich Claussen diese Studienausgabe von Schleiermachers berühmtestem Buch. Zwar gibt es dicke, aber schwer handhabbare Gesamtausgaben für "vollbeamtete Leser" und auch schon einige Studienausgaben. Doch keine hatte die "einfach gute Idee", die verschiedenen Versionen des Textes gut nachvollziehbar, typografisch gar raffiniert im Zusammenhang zu präsentieren. Schleiermacher gab diese - nie gehaltenen - Reden nämlich dreimal heraus, einmal als jungtheologischer Gedankenstürmer im Geist der frühen Romantik, dann als gereifter Professor in Halle und als ehrwürdige Koryphäe in Berlin. Beobachten kann man so - von Ausgabe zu Ausgabe - ein "Nachdunkeln im Amt", das aber, so Claussen, kein Verrat an der frühen Emphase ist, sondern ein "Prozess der Klärung, der Ernüchterung, des Erwachsenwerdens".
© Perlentaucher Medien GmbH
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