»Alle Güter dieser Erde wiegen einen Freund nicht auf.« Voltaire Was ist Freundschaft eigentlich und was bedeutet sie für uns? Eine Frage, die im Zeitalter von Facebook und Co., wo zufällige virtuelle Bekannte schon »Freunde« genannt werden, besonders wichtig erscheint. Alexander Nehamas erläutert die Ideen klassischer und zeitgenössischer Philosophen, beleuchtet Beispiele aus Literatur, Theater, Kunst und Film und lässt immer wieder persönliche Erlebnisse und Erfahrungen aus seinen Freundschaften einfließen. Er zeigt, wie sich das Verständnis von Freundschaft im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat, privater und auch komplexer wurde. Doch eines ist gleich geblieben: Freundschaften sind ein wichtiger Bestandteil des Lebens und so individuell wie die daran Beteiligten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.2017Es ist gut für beide Seiten, sich immer besser kennenzulernen
Sie ist eine Hypothek auf die Zukunft: Alexander Nehamas versucht herauszufinden, was es mit der Freundschaft auf sich hat
Schon Aristoteles bekam das Phänomen nicht recht in den Griff: Auf der einen Seite wolle kein Mensch ohne Freunde leben, selbst wenn er alle anderen Güter der Welt besäße. Auf der anderen aber gestand er nur den Tugendhaften überhaupt die Fähigkeit zu, Freundschaften zu pflegen: Nur gute Menschen können demnach Freunde sein und wahre Freundschaft könne niemals Schaden anrichten.
Für Alexander Nehamas, Philosoph und Literaturwissenschaftler in Princeton, Spezialist für griechische Philosophie, Nietzsche und Philosophie als Lebenskunst, ist diese Moralisierung der Freundschaft, in der die abendländische Philosophie Aristoteles weitgehend folgte, eine unzulässige Engführung. In seinem neuen Buch zeichnet er ein nuancierteres Bild der Freundschaft - und zeigt, wie überraschend schwierig dieses doch nicht eben exotische Phänomen auf den Begriff zu bringen ist.
Das Problem: Freundschaft ist parteilich. Sie beruht gerade darauf, manche Menschen anderen vorzuziehen und sie anders zu behandeln als alle anderen. Das widerspricht dem christlichen Ideal der universellen Liebe ebenso wie aufklärerischen Idealen von Moral und Gerechtigkeit. Das Phänomen Freundschaft, stellt der Autor im ersten, der philosophischen Tradition gewidmeten Teil fest, hat immer wieder die Kategorien, Regeln und Prinzipien der Philosophen gestört. Bis in die Gegenwart sei das Verhältnis von Ethik und Freundschaft deshalb unbequem geblieben, und auch der Klassifikation der Sozialwissenschaften habe sich das Phänomen erfolgreich entzogen. Inzwischen, konstatiert Nehamas, ist die Freundschaft längst von einem öffentlichen zu einem privaten Phänomen geworden. Philosophen gestehen zu, dass Menschen, auch ohne moralisch perfekt zu sein, Freundschaften pflegen können: Mögen wir unsere Freunde nicht gerade auch wegen ihrer Fehler und Schrullen? Nach wie vor, so der Autor, halten Philosophen die Freundschaft irgendwie für eine gute Sache, machen aber insgesamt doch lieber einen Bogen um sie. Diese Lücke ist Nehamas' Agenda: ein realistisches Bild der Freundschaft müsse ihre janusköpfige Natur ernst nehmen und erklären, statt sie wegzudiskutieren.
Dazu breitet er im zweiten Teil ein Panorama von Freundschaften aus: Geschichten von eigenen Freunden, ergänzt um Beispiele aus Literatur, Film und Weltgeschichte, Freundschaften, die so unterschiedlich sind wie die Menschen, die sie eingehen, und die durchaus nicht immer moralisch sind. Da ist der Doppelagent, der echte Zuneigung zu einem britischen Kollegen empfand und ihn dennoch benutzte, um Informationen zu beschaffen, die er an die Sowjetunion weitergab. Da ist Frédéric Moreau, der Held in Flauberts "L'Éducation sentimentale", der sich aus moralisch zweifelhaften Gründen mit dem ebenso zweifelhaften Deslauriers anfreundet, eine Freundschaft, die ihr ganzes Leben lang halten sollte. Und da gibt es natürlich Thelma und Louise, die erst in ihrer gemeinsamen Rebellion die Kraft zu eigenständigem Entscheiden finden und zusammen unter anderem einen Mord begehen. Nicht umsonst kennt der Volksmund die Redensart vom Freund, mit dem man Pferde stehlen kann. Wenn aber Freundschaft mit der Moral in Konflikt geraten und Leid verursachen kann, wenn Freundeskreise sich abschotten und auf andere herabblicken können, warum halten wir Freundschaft dennoch für eines der größten Güter? Hier ist der Verweis auf das, was Freunde miteinander tun oder erleben, unzureichend, so der Autor. Denn meist bestehe Freundschaft einfach darin, Zeit miteinander zu verbringen, in der keine spektakulären Dinge geschehen.
Was aber ist es dann? Es ist die besondere Nähe, die bewirkt, dass Freunde sich, auch wenn sie miteinander scheinbar Banales erleben, tiefgreifend beeinflussen. Für Aristoteles bestand Freundschaft darin, den anderen um seiner Natur willen zu lieben. Nehamas schiebt dies als überflüssige Metaphysik beiseite und ersetzt sie durch die Perspektive in die Zukunft: Freundschaft bestehe in dem Wunsch der Freunde, sich immer besser kennenzulernen, geleitet von der ein wenig instrumentell erscheinenden Überzeugung, dass dies für beide gut sein werde.
In der Freundschaft, so Nehamas, lieben wir, was aus unseren Freunden werden könnte, wenn sie mit uns zusammen sind, und was aus uns werden könnte, wenn wir mit ihnen zusammen sind. Freundschaft sei etwas Ähnliches wie eine lebendige Metapher, eine Beziehung, aus der immer wieder Neues entstehen könne, ohne dass sie bis auf den Grund auszuleuchten sei. Freunde seien somit zentral für den Prozess der Selbstkonstitution, sie helfen uns dabei, ein kohärentes Selbst zu entwickeln. Weil Freunde sich auf diese besondere Weise nahe kommen, tut es weh, wenn Freundschaften zerbrechen, sei es, weil der eine feststellen muss, dass er dem anderen gleichgültig geworden ist; sei es, weil der Freund eine Seite zeigt, die man mit dem Bild, das man von ihm hat, nicht zusammenbringt.
Sozialwissenschaftliche oder pädagogische Ausführungen etwa zur Bedeutung der Peergroup oder den Folgen von Einsamkeit sucht der Leser leider vergeblich. Der Autor bleibt bei Philosophie, Kunst und Geschichte und kommt zu häufig auf die sehr abstrakte Frage zurück, was denn nun den anderen ausmache, wenn man von seinen Eigenschaften absehe, denn Freundschaft ziele doch auf den anderen selbst, nicht auf seine Eigenschaften. Nehamas dabei zu folgen, wie er bei seinen Überlegungen überflüssigen begrifflichen Ballast beiseiteräumt, ist ein Vergnügen. Für ein umfassendes Bild der Freundschaft hätte man sich einen breiteren Ansatz gewünscht.
MANUELA LENZEN
Alexander Nehamas:
"Über Freundschaft".
Aus dem Englischen von Elisabet Liebl.
dtv Verlag, München, 2017. 283 S., br., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sie ist eine Hypothek auf die Zukunft: Alexander Nehamas versucht herauszufinden, was es mit der Freundschaft auf sich hat
Schon Aristoteles bekam das Phänomen nicht recht in den Griff: Auf der einen Seite wolle kein Mensch ohne Freunde leben, selbst wenn er alle anderen Güter der Welt besäße. Auf der anderen aber gestand er nur den Tugendhaften überhaupt die Fähigkeit zu, Freundschaften zu pflegen: Nur gute Menschen können demnach Freunde sein und wahre Freundschaft könne niemals Schaden anrichten.
Für Alexander Nehamas, Philosoph und Literaturwissenschaftler in Princeton, Spezialist für griechische Philosophie, Nietzsche und Philosophie als Lebenskunst, ist diese Moralisierung der Freundschaft, in der die abendländische Philosophie Aristoteles weitgehend folgte, eine unzulässige Engführung. In seinem neuen Buch zeichnet er ein nuancierteres Bild der Freundschaft - und zeigt, wie überraschend schwierig dieses doch nicht eben exotische Phänomen auf den Begriff zu bringen ist.
Das Problem: Freundschaft ist parteilich. Sie beruht gerade darauf, manche Menschen anderen vorzuziehen und sie anders zu behandeln als alle anderen. Das widerspricht dem christlichen Ideal der universellen Liebe ebenso wie aufklärerischen Idealen von Moral und Gerechtigkeit. Das Phänomen Freundschaft, stellt der Autor im ersten, der philosophischen Tradition gewidmeten Teil fest, hat immer wieder die Kategorien, Regeln und Prinzipien der Philosophen gestört. Bis in die Gegenwart sei das Verhältnis von Ethik und Freundschaft deshalb unbequem geblieben, und auch der Klassifikation der Sozialwissenschaften habe sich das Phänomen erfolgreich entzogen. Inzwischen, konstatiert Nehamas, ist die Freundschaft längst von einem öffentlichen zu einem privaten Phänomen geworden. Philosophen gestehen zu, dass Menschen, auch ohne moralisch perfekt zu sein, Freundschaften pflegen können: Mögen wir unsere Freunde nicht gerade auch wegen ihrer Fehler und Schrullen? Nach wie vor, so der Autor, halten Philosophen die Freundschaft irgendwie für eine gute Sache, machen aber insgesamt doch lieber einen Bogen um sie. Diese Lücke ist Nehamas' Agenda: ein realistisches Bild der Freundschaft müsse ihre janusköpfige Natur ernst nehmen und erklären, statt sie wegzudiskutieren.
Dazu breitet er im zweiten Teil ein Panorama von Freundschaften aus: Geschichten von eigenen Freunden, ergänzt um Beispiele aus Literatur, Film und Weltgeschichte, Freundschaften, die so unterschiedlich sind wie die Menschen, die sie eingehen, und die durchaus nicht immer moralisch sind. Da ist der Doppelagent, der echte Zuneigung zu einem britischen Kollegen empfand und ihn dennoch benutzte, um Informationen zu beschaffen, die er an die Sowjetunion weitergab. Da ist Frédéric Moreau, der Held in Flauberts "L'Éducation sentimentale", der sich aus moralisch zweifelhaften Gründen mit dem ebenso zweifelhaften Deslauriers anfreundet, eine Freundschaft, die ihr ganzes Leben lang halten sollte. Und da gibt es natürlich Thelma und Louise, die erst in ihrer gemeinsamen Rebellion die Kraft zu eigenständigem Entscheiden finden und zusammen unter anderem einen Mord begehen. Nicht umsonst kennt der Volksmund die Redensart vom Freund, mit dem man Pferde stehlen kann. Wenn aber Freundschaft mit der Moral in Konflikt geraten und Leid verursachen kann, wenn Freundeskreise sich abschotten und auf andere herabblicken können, warum halten wir Freundschaft dennoch für eines der größten Güter? Hier ist der Verweis auf das, was Freunde miteinander tun oder erleben, unzureichend, so der Autor. Denn meist bestehe Freundschaft einfach darin, Zeit miteinander zu verbringen, in der keine spektakulären Dinge geschehen.
Was aber ist es dann? Es ist die besondere Nähe, die bewirkt, dass Freunde sich, auch wenn sie miteinander scheinbar Banales erleben, tiefgreifend beeinflussen. Für Aristoteles bestand Freundschaft darin, den anderen um seiner Natur willen zu lieben. Nehamas schiebt dies als überflüssige Metaphysik beiseite und ersetzt sie durch die Perspektive in die Zukunft: Freundschaft bestehe in dem Wunsch der Freunde, sich immer besser kennenzulernen, geleitet von der ein wenig instrumentell erscheinenden Überzeugung, dass dies für beide gut sein werde.
In der Freundschaft, so Nehamas, lieben wir, was aus unseren Freunden werden könnte, wenn sie mit uns zusammen sind, und was aus uns werden könnte, wenn wir mit ihnen zusammen sind. Freundschaft sei etwas Ähnliches wie eine lebendige Metapher, eine Beziehung, aus der immer wieder Neues entstehen könne, ohne dass sie bis auf den Grund auszuleuchten sei. Freunde seien somit zentral für den Prozess der Selbstkonstitution, sie helfen uns dabei, ein kohärentes Selbst zu entwickeln. Weil Freunde sich auf diese besondere Weise nahe kommen, tut es weh, wenn Freundschaften zerbrechen, sei es, weil der eine feststellen muss, dass er dem anderen gleichgültig geworden ist; sei es, weil der Freund eine Seite zeigt, die man mit dem Bild, das man von ihm hat, nicht zusammenbringt.
Sozialwissenschaftliche oder pädagogische Ausführungen etwa zur Bedeutung der Peergroup oder den Folgen von Einsamkeit sucht der Leser leider vergeblich. Der Autor bleibt bei Philosophie, Kunst und Geschichte und kommt zu häufig auf die sehr abstrakte Frage zurück, was denn nun den anderen ausmache, wenn man von seinen Eigenschaften absehe, denn Freundschaft ziele doch auf den anderen selbst, nicht auf seine Eigenschaften. Nehamas dabei zu folgen, wie er bei seinen Überlegungen überflüssigen begrifflichen Ballast beiseiteräumt, ist ein Vergnügen. Für ein umfassendes Bild der Freundschaft hätte man sich einen breiteren Ansatz gewünscht.
MANUELA LENZEN
Alexander Nehamas:
"Über Freundschaft".
Aus dem Englischen von Elisabet Liebl.
dtv Verlag, München, 2017. 283 S., br., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Nehamas führt ein Gespräch mit dem Leser, erzählt von seinen Einsichten und lädt dazu ein, selbst auf die Reise in den eigenen Erfahrungsraum zu gehen. Immer wieder wird man dabei entdecken, dass erst der Freund einen zu sich selbst führen kann (...)."
Otto Betz, Christ in der Gegenwart 26. November 2017
Otto Betz, Christ in der Gegenwart 26. November 2017