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Über zwei Milliarden Menschen leben weltweit in Armut, leiden unter Hunger, Unterdrückung und Krieg. Über 65 Millionen von ihnen waren allem im letzten Jahr auf der Flucht, viele erhoffen sich ein besseres Leben in Europa oder Nordamerika. Hilfe tut also dringend not - aber sind offene Grenzen die richtige Antwort auf das Elend in der Welt? Diese Ansicht findet viele Fürsprecher, doch der Philosoph Julian Nida-Rümelin ist überzeugt: Offene Grenzen würden das Elend nicht wesentlich mildern, sondern die Herkunftsregionen weiter schwächen und die sozialen Konflikte in den aufnehmenden Ländern…mehr

Produktbeschreibung
Über zwei Milliarden Menschen leben weltweit in Armut, leiden unter Hunger, Unterdrückung und Krieg. Über 65 Millionen von ihnen waren allem im letzten Jahr auf der Flucht, viele erhoffen sich ein besseres Leben in Europa oder Nordamerika. Hilfe tut also dringend not - aber sind offene Grenzen die richtige Antwort auf das Elend in der Welt? Diese Ansicht findet viele Fürsprecher, doch der Philosoph Julian Nida-Rümelin ist überzeugt: Offene Grenzen würden das Elend nicht wesentlich mildern, sondern die Herkunftsregionen weiter schwächen und die sozialen Konflikte in den aufnehmenden Ländern verschärfen. Eine Lösung für die beschämenden humanitären Skandale unserer Zeit sind sie nicht. In seiner Ethik der Migration schlägt Nida-Rümelin eine Brücke zwischen Philosophie und Politik: Politisches Handeln muss auf den Werten und Normen der Humanität beruhen. Nur so können verantwortungsbewusste und zukunftsträchtige Entscheidungen getroffen werden. Gerade weil solche Entscheidungen in der Migrationspolitik komplex sind und Dilemmata unvermeidlich, brauchen wir die Verfasstheit m Staaten: Sie bieten unverzichtbare politische Gestaltungsspielräume. Denn ob es uns gelingt, die weltweite Armut und Perspektivlosigkeit in den Ursprungsregionen wirksam zu bekämpfen, wird zum Lackmustest unserer Menschlichkeit.
Autorenporträt
Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten Philosophen Deutschlands, er lehrt an der Universität München und arbeitet v.a. zu Rationalitätstheorie, politischer Philosophie und Ethik. Nida-Rümelin ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, für die er eine interdisziplinäre Forschungs-gruppe »Internationale Gerechtigkeit und institutionelle Verantwortung« leitet, sowie der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Für fünf Jahre wechselte er in die Kulturpolitik, u.a. als Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.07.2017

Wenn plötzlich ein Fremder im Wohnzimmer sitzt
Julian Nida-Rümelin denkt nach über Grenzen der Migrationspolitik, den inneren Frieden einer Gesellschaft und den Wunschweg in eine gerechte Welt
Plötzlich ist meine Welt eine andere. Ich komme morgens ins Wohnzimmer, und dort sitzt ein Fremder. Er bittet, hierbleiben zu dürfen, in meiner Wohnung. Seinen Wunsch verstehe ich, der Fremde ist mir auch sympathisch, und dennoch schicke ich ihn weg. Das ist meine Wohnung! Ist das moralisch zu vertreten?
Julian Nida-Rümelin beschreibt diese fiktive Szene in Ich-Form in seinem Buch, in dem er über Grenzen nachdenkt. Er hat so eine Grenze gezogen, in seinem Zuhause, und davon ausgehend fragt er, welche Grenzen eine Gesellschaft, ein Staat ziehen darf. Eine sehr relevante Frage in diesen Zeiten. Der Philosoph und ehemalige Kulturstaatsminister im Kabinett Schröder entwirft darum herum eine „Ethik der Migration“: „Es ist legitim, Grenzen zu ziehen.“ Das gelte für den einzelnen Menschen in seiner Privatsphäre wie auch für Bürgerschaften, die sich in einem Staat organisieren. Staaten dürfen nicht nur Grenzen ziehen, sie müssen es, der globalen Gerechtigkeit wegen, postuliert der Autor. Das Menschenrecht auf kollektive Selbstbestimmung lasse sich nur im Rahmen staatlicher Institutionen realisieren.
Grenzen zu öffnen für Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, ist für Nida-Rümelin eine moralische Pflicht. Die zynische Abschreckungsstrategie, in Not Geratenen auf dem Mittelmeer nicht zu helfen, verletze „Grundprinzipien humaner Praxis“. Die Provokation zum aktuellen Integrationsdiskurs aber folgt auf dem Fuß: Kriegsflüchtlinge sollten wieder zurückkehren in ihr Land, um beim Wiederaufbau zu helfen. Deshalb sei es „nicht sinnvoll“, in deren Integration im Zufluchtsland zu investieren, es wäre sogar ungerecht: Die Zurückgebliebenen, die den Krieg erduldet und überstanden haben, würde man damit ein zweites Mal alleinlassen. Auf die konkrete Gegenwart übertragen heißt das: Die Syrer sollten zurückkehren, sobald Frieden ist in ihrem Land.
Man muss Nida-Rümelin nicht überall zustimmen, muss sich auch nicht unbedingt durch seine philosophischen Herleitungen kämpfen: Einige seiner Thesen sollten aber gerade jene zum Nachdenken bringen, die die uneingeschränkte Willkommenskultur predigen, egal, warum ein Mensch von A nach B wandert. „Ethisches Unrecht“ nennt es der Autor, würde man sich nur um die Aufnahme der Geflohenen, aber nicht um eine Reform der Weltwirtschaft kümmern. Dort liege ein Schlüssel, um Ungerechtigkeiten und damit Fluchtursachen zu bekämpfen.
„Transkontinentale Migration ist kein geeignetes Mittel, um Armut und Elend in der Welt zu bekämpfen.“ Seine zentrale These führt wieder hin aufs Grenzziehen, und, verknüpft mit der ethischen Pflicht der Gleichbehandlung, in ein ethisches Dilemma. Dass ein Mensch seine Zukunft in einem reichen Land sucht, sei nicht zu kritisieren. Wie aber sollten sich die Bürger in den Zielländern verhalten? Naheliegend wäre, die Ankommenden zu umsorgen. Das aber sei ungerecht, weil dies vor allem den Starken hülfe, denn nur sie schaffen die Migration; die Schwachen in den Auswandererländern blieben weiter vernachlässigt in Not und Elend. Das Postulat der Gleichbehandlung verlange, die Angekommenen so zu behandeln, wie die Zurückgebliebenen – sich also kaum um sie zu kümmern. Das aber hieße, eine enorme Ungleichheit zu schaffen zwischen den Einheimischen und den Migranten, was auch nicht in Ordnung ist. Was auch immer man tut, man verstößt gegen das Prinzip der Gleichbehandlung.
Auflösen ließe sich dieses ethische Dilemma nur, wenn der Norden den Süden nicht mehr benachteiligen würde und so ein Hauptgrund für Migration wegfiele. Kurzum, wenn die Welt gerecht wäre. Dazu gehöre ein fairer Ausgleich zwischen den Migrierenden, den Zurückgeblieben und den Aufnehmenden. In ethischen Postulaten zur Migrationspolitik skizziert Nida-Rümelin seinen Wunschweg in diese Welt. Es lohnt, diesen Traum zu denken. Der Autor wird recht konkret in diesem Kapital und nimmt auch Bezug auf die vergangenen zwei Jahre in Deutschland, wenn er darauf hinweist, wie gefährlich für den inneren Frieden das Gefühl ist, der Staat kontrolliere die Zuwanderung nicht. Nur wenn der Staat steuere, wenn er Ghettobildung verhindere, bestehe die Möglichkeit, dass Zuwanderung von den Bürgern als Chance wahrgenommen werde. Migrationspolitik muss diskutiert werden, ähnlich wie andere Veränderungen, die eine Gesellschaft auf Generationen prägen, Gentechnik etwa. Redet miteinander, denkt über den Tag hinaus. Dieser Appell Nida-Rümelins ist so politisch wie philosophisch.
BERND KASTNER
Julian Nida-Rümelin:
Über Grenzen denken.
Eine Ethik der Migration,
Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2017.
241 Seiten, 20 Euro.
E-Book: 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2017

Gute Gründe müssen reichen
Samt Weltsozialgericht: Julian Nida-Rümelin entwirft eine Ethik der Migration

Eine Welt ohne Grenzen wäre eine Welt ohne funktionsfähige Staaten. Weil ein umgrenztes Staatsgebiet - zusammen mit Staatsgewalt und Staatsvolk - traditionell zu den Definitionsmerkmalen von Staatlichkeit gehört, wurde die Notwendigkeit von Grenzen, einschließlich der Möglichkeit ihres Schutzes und der Kontrolle beim Übertritt, lange Zeit nur von wenigen in Frage gestellt. Es waren einerseits radikal-libertäre Individualisten, die die Legitimität von Grenzen bezweifelten, und andererseits anarchistische Kräfte auf der äußersten Linken, sieht man von den wenigen Anhängern der Idee des einen Weltstaats ab.

Nicht schon durch die zunehmende Bedeutung inter- und transnationaler Organisationen, sondern erst im Gefolge der großen Flüchtlingsströme seit 2015 geriet dieser lange Zeit geltende Konsens massiv ins Rutschen. Slogans wie "No borders" und "Refugees welcome" rückten vom politischen Rand in die Mitte. Immer häufiger wurden Grenzen zu einem Relikt des angeblich vergangenen Zeitalters des Nationalstaats erklärt, ihr Schutz zu etwas, das nicht ohne Verzicht auf humanitäre Ansprüche durchgesetzt werden könne. Migration erscheint vielen heute als ein Menschenrecht, obwohl dies in den entscheidenden Dokumenten keineswegs vorgesehen ist.

In solch einer Situation der Verwirrung können klärende Beiträge, die grundsätzlicher ansetzen und weiter ausholen, mit Aufmerksamkeit rechnen. Wenn der Autor ein renommierter Philosoph ist, der sich zudem als sozialdemokratischer Politiker hervorgetan hat, gilt das erst recht. Der Titel "Über Grenzen denken" klingt zwar nach einem postmodernen Flirt mit "Transgression" und "Subversivität", aber nichts liegt Julian Nida-Rümelin ferner als ein solcher. Das zeigt sich in der ersten Hälfte des Buches, in der die moralphilosophische Denkweise des Autors ausführlich dargelegt wird.

Obwohl manchem Leser, der wegen der Fragen der Migrationspolitik nach diesem Buch greift, der philosophische Anlauf etwas lang erscheinen dürfte, ist es gut, nicht nur mit Meinungen, sondern mit einem ganzen Gebäude aus Begründungen konfrontiert zu werden. Das hilft auch, aus den Sackgassen der öffentlichen Debatten (Moral versus Politik, Gesinnungs- versus Verantwortungsethik) herauszufinden.

Zentral für Nida-Rümelin ist die Anknüpfung an die ethische Urteilskraft aller, die "lebensweltliche Praxis des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens" - gegen allen Dogmatismus und auch gegen alle Reduktion des Normativen aufs bloß Faktische. So klar und überzeugend hier vieles ist, so merkwürdig berührt die Selbststilisierung des Verfassers zu einem, der nur "wenige Verbündete in der zeitgenössischen Philosophie" habe. Sein Überblick über mögliche Denkweisen enthält kein Wort zu einigen der bedeutendsten Philosophen unserer Zeit, die seine Bündnisgenossen sein könnten (von Paul Ricoeur bis Charles Taylor). Geradezu irreführend werden seine Darlegungen dort, wo er sich als "Kosmopoliten" präsentiert, dem es gelungen sei, die Legitimität partikularer Gemeinschaften anzuerkennen - gegen die angeblich immer nur relativistischen und antinormativen "Kommunitaristen". Dabei gibt es von deren Seite genügend Versuche zum Brückenschlag, die ihm entgegenkommen.

Im zweiten Teil geht es dann richtig zur politischen Sache. Zentral ist das Argument, dass eine Regulierung von Migration nicht einfach dem Eigeninteresse der Staaten entspricht, sondern auch universalistisch oder kosmopolitisch zu rechtfertigen sei, weil "die Aufnahme von Armutsflüchtlingen aus dem globalen Süden in den reichen Ländern des globalen Nordens kein vernünftiger Beitrag zur Bekämpfung von Weltarmut und Elend" sei. In einigen auch empirisch gut abgesicherten Kapiteln wird die Wünschbarkeit eines globalen Arbeitsmarkts bestritten, wesentlich wegen dessen absehbar zerstörerischer Wirkungen auf die "Solidarstrukturen des Sozialstaats".

Scharfsinnig werden die Ungerechtigkeiten herausgearbeitet, die gegenüber den im Heimatland "Zurückgebliebenen" entstehen, wenn die "Ankommenden", wie es geboten ist, mit den "schon Heimischen" gleichbehandelt werden. Über empirische Einzelheiten und die Einschätzung der politischen Abläufe ließe sich hier vielfach diskutieren, aber mit den sieben ethischen Postulaten für die Migrationspolitik, auf die die Argumentation zuläuft, liegt gewiss ein durch und durch vernünftiger Leitfaden vor. Migrationspolitische Entscheidungen müssen ihm zufolge mit dem kollektiven Selbstbestimmungsrecht der Bürger verträglich sein; sie dürfen die soziale Ungleichheit nicht verschärfen und müssen die Nachteile für die Herkunftsregionen bedenken.

Nida-Rümelin geht sogar so weit, die vollständige Kompensation der Herkunftsländer für die Verluste zu verlangen, die ihnen aus der Abwanderung vor allem gut ausgebildeter Arbeitskräfte entstehen. Er fordert eine Weltsozialgerichtsbarkeit nach dem Muster des Internationalen Strafgerichtshofs, was nach den Erfahrungen mit Letzterem allerdings nicht gerade vielversprechend klingt. Überhaupt fällt auf, dass das Buch die Frage nach den Akteuren, die die moralisch gerechtfertigte Politik national oder international durchsetzen sollen, und nach den Durchsetzungschancen nicht stellt. Über die Einsicht in das Richtige hinaus, so heißt es im philosophischen Teil des Buches, brauchten wir keine weiteren Motive, um vernünftig zu handeln. Eine solche Vorstellung von der faktischen Wirksamkeit rationaler ethischer Argumentation auf dem Gebiet der Politik erscheint freilich merkwürdig unpolitisch.

HANS JOAS

Julian Nida-Rümelin:

"Über Grenzen denken". Eine Ethik der Migration.

Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2017. 241 S., geb., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Bernd Kastner entdeckt bei Julian Nida-Rümelin den philosophischen wie politischen Appell, Migrationspolitik zu diskutieren. Die Wünsche des Autors betreffend die ethischen Implikationen der Migration scheinen Kastner bedenkenswert, führen sie doch von der Überzeugung von der moralischen Pflicht Grenzen zu öffnen über die Idee der Gleichbehandlung zur Vorstellung eines Ausgleichs zwischen Nord und Süd. Die Lektüre von Nida-Rümelins Ethik der Migration kann Kastner empfehlen, auch wenn sie nicht in jedem Detail seine Zustimmung hat und jede philosophische Herleitung des Autors den Rezensenten beglückt.

© Perlentaucher Medien GmbH