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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Michael Mann durchmisst in globaler Perspektive die Geschichte kriegerischer Konflikte
Der nichtssagende Titel "Über Kriege" vermag vielleicht nicht zu locken. Doch Michael Manns umfangreiches Buch lohnt die Lektüre. Man gewinnt ein entdramatisiertes, sachliches und informiertes Bild des Kriegs, ohne dass dessen Schrecken abgemildert würden. Eine der Erkenntnisse des britisch-amerikanischen Soziologen lautet, dass Kriege zwar nicht für die Soldaten und Soldatinnen, aber für die Zivilbevölkerung schlimmer werden. Daran haben die "Genfer Konventionen", die das verhindern wollten, nicht viel geändert.
Um die Frage zu beantworten, warum Kriege geführt werden, schaut Michael Mann, der bis zu seiner Emeritierung an der Universität von Kalifornien in Los Angeles lehrte, weit zurück in die Geschichte, bis zu den Anfängen der Menschheit. Schwerpunkte setzt er mit der Römischen Republik und dem alten China, dem mittelalterlichen Japan und dem neuzeitlichen Lateinamerika, dem Amerikanischen Bürgerkrieg und den beiden Weltkriegen.
Mit der globalhistorischen Perspektive, die weit entlegene Zeiten und Räume verbinden will, handelt der Soziologe sich indes ein Problem ein, das ungelöst bleibt. Mann geht von sozialwissenschaftlichen Prämissen, Definitionen und Theorien aus, deren Anwendbarkeit auf historischem Terrain, zumal in unterschiedlichen Kulturen, nicht auf der Hand liegt. Haben frühere Akteure überhaupt von "Krieg" gesprochen? Und wenn ja, was haben sie darunter verstanden, auch wenn sie schon so etwas wie "Staaten" kannten? Und was bedeutete der Tod eines "Soldaten" oder "Zivilisten" in frühen Gesellschaften?
Immerhin wendet Mann die Theorien pragmatisch an, wie er überhaupt die Unmenge an Fachliteratur, die er konsultiert hat, gewinnbringend in sein Buch einbaut. Gekonnt ist seine Leserführung, vom ernsten Thema lässt er sich seinen Sarkasmus nicht austreiben. Und er scheut sich nicht, handfeste Ergebnisse vorzutragen. So umfasst die Geschichte der Menschheit offenbar mehr Phasen des Friedens denn Kriege. Der Krieg ist also die Ausnahme, aber "Krieg ist aufregend und Frieden langweilig", wie Mann formuliert, für Historiker und Medienkonsumenten nicht weniger als für die meisten Herrscher. Der Zeitraum mit den meisten Kriegen ist Europa zwischen 1500 und 2000. Global scheint die Zahl der Kriege nicht zugenommen zu haben (Krieg zu definieren ist schwierig), doch sie haben sich verändert. Zunehmend rückt die Bevölkerung des feindlichen Landes in das Fadenkreuz, während die Soldaten am Computer Waffen steuern und die Generäle sich noch weiter vom Geschehen entfernen. Die letzten Feldherren, die noch im Feld standen, seien Napoleon Bonaparte und Napoleon III. gewesen.
Es sind fast immer die Herrschenden, die den Krieg beschließen, egal, ob sie einer Demokratie vorstehen oder eine Diktatur befehligen. Imperiale Angriffskriege gibt es heute fast keine mehr - der russische Angriff auf die Ukraine ist die Ausnahme -, dafür vermehrt Kriege um Grenzgebiete, die sich als revisionistische Verteidigung deklarieren. Kriegsverbrecherprozesse finden in der Regel nur gegen Verlierer statt, wobei die Anklagepunkte nicht Angriff, sondern Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid lauten. Verteidigung gilt als legitim und rational - obschon die Unterwerfung, wie der Soziologe meint, oft "rationaler" wäre.
Was aber heißt hier "rational"? Eine der politologischen Theorien, mit denen Mann sich herumschlägt, versucht zu belegen, dass die Menschen beziehungsweise die Anführer mehrheitlich rational handeln, wenn sie einander den Krieg erklären und Soldaten in die Schlacht schicken. Rationale Elemente seien zwar in fast jedem Krieg zu finden, meint Mann. Als Hitler die Gaskammern errichtete, handelte er gemessen am Ziel, die Juden zu vernichten, rational, ja "wertrational", wie der Autor in Anlehnung an den ihn inspirierenden Max Weber sagt. Und doch wird man Hitlers Kriege nicht weniger als die Putins oder des Hunnenkönigs Attila als letztlich irrational bezeichnen, wenn man denn die Kategorie überhaupt anwenden will. "Wären die Herrschenden rational, gäbe es weniger Kriege", bilanziert Mann.
Und doch wählen sie Krieg anstelle von wirtschaftlicher Kooperation und diplomatischen Verhandlungen. Der Autor verweist dafür zunächst auf die "Pfadabhängigkeit"; besonders in militaristischen Kulturen greife man auf das Mittel Gewalt zurück. In seltenen Fällen lohne sich der Angriff tatsächlich, zumal wenn der Aggressor weit und breit der Stärkste ist. Ferner hätten neben Ideologien schon immer Gefühle eine große Rolle gespielt: "Krieg ist das Mittel, zu dem römische Senatoren, mongolische Khans, französische Könige oder amerikanische Präsidenten gewöhnlich greifen, wenn sie den Eindruck haben, beleidigt worden zu sein - oder wenn sie eine Chance wittern."
Schließlich überschätzten sich Herrschende gern; selbst die Anführer einer militärisch schwachen Nation gestünden sich an ihrem Schreibtisch nicht ein, dass sie gegen den übermächtigen Gegner keine Chance haben. Dazu komme, dass sie sich ihrem Milieu verpflichtet fühlen - oder von diesem nicht fallen gelassen werden wollen, könnte man ergänzen.
Was der Krieg für die Soldaten hieß, belegt Mann mit Selbstzeugnissen aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg. Die anfängliche Begeisterung und ideologische Motive, etwa für die Abschaffung der Sklaverei zu kämpfen, wichen nach und nach der Ernüchterung und Verzweiflung. Mit dieser Perspektive von unten rundet Mann sein auf problematische Weise unhistorisch verfahrendes und dennoch bedeutsames Buch ab. URS HAFNER
Michael Mann: "Über Kriege".
Aus dem Englischen von Laura Su, Michael und Ulrike Bischoff. Hamburger Edition, Hamburg 2024. 718 S., geb., 45,- Euro.
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