Dora ist mit ihrer kleinen Hündin aufs Land gezogen. Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel, mehr Freiheit, Raum zum Atmen. Aber ganz so idyllisch wie gedacht ist Bracken, das kleine Dorf im brandenburgischen Nirgendwo, nicht. In Doras Haus gibt es noch keine Möbel, der Garten gleicht einer Wildnis, und die Busverbindung in die Kreisstadt ist ein Witz. Vor allem aber verbirgt sich hinter der hohen Gartenmauer ein Nachbar, der mit kahlrasiertem Kopf und rechten Sprüchen sämtlichen Vorurteilen zu entsprechen scheint. Geflohen vor dem Lockdown in der Großstadt muss Dora sich fragen, was sie in dieser anarchischen Leere sucht: Abstand von Robert, ihrem Freund, der ihr in seinem verbissenen Klimaaktivismus immer fremder wird? Zuflucht wegen der inneren Unruhe, die sie nachts nicht mehr schlafen lässt? Antwort auf die Frage, wann die Welt eigentlich so durcheinandergeraten ist? Während Dora noch versucht, die eigenen Gedanken und Dämonen in Schach zu halten, geschehen in ihrer unmittelbaren Nähe Dinge, mit denen sie nicht rechnen konnte. Ihr zeigen sich Menschen, die in kein Raster passen, ihre Vorstellungen und ihr bisheriges Leben aufs Massivste herausfordern und sie etwas erfahren lassen, von dem sie niemals gedacht hätte, dass sie es sucht.
Juli Zehs neuer Roman erzählt von unserer unmittelbaren Gegenwart, von unseren Befangenheiten, Schwächen und Ängsten, und er erzählt von unseren Stärken, die zum Vorschein kommen, wenn wir uns trauen, Menschen zu sein.
Juli Zehs neuer Roman erzählt von unserer unmittelbaren Gegenwart, von unseren Befangenheiten, Schwächen und Ängsten, und er erzählt von unseren Stärken, die zum Vorschein kommen, wenn wir uns trauen, Menschen zu sein.
Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Erst haben alle vom Großstadtleben geschrieben, jetzt sind Dorfromane das große Ding, meint Rezensentin Julia Encke mit Blick auf Juli Zeh, Judith Hermann und Angelika Klüssendorf. Doch egal ob Stadt oder Land, es scheint dabei immer um das eigene Leben zu gehen: von den Mittelstandsoasen in der Stadt zu den Mittelstandsoasen in der Provinz ist es ja eigentlich auch nur ein kleiner Schritt, denkt sich die Rezensentin und gähnt. Die Ur-Dorfbewohner sind dabei oft nur Staffage, klagt sie, wie bei Juli Zeh, die sie als herzerwärmende Exoten beschreibt. Die großstadtflüchtigen Protagonisten wiederum flüchten in die reine Innerlichkeit, wie bei Judith Hermann. Der Rest versinkt in "Dorfliteraturtopoi" wie bei Angelika Klüssendorf, so die angeödete Rezensentin, die sich endlich wieder mehr Welt wünscht in der deutschen Literatur. Vielleicht mal eine Reise?
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2021Abends am
Gartenzaun
In Juli Zehs Roman „Über Menschen“ trifft
eine progressive Städterin auf einen Dorfnazi
VON JÖRG MAGENAU
In Bracken ist man unter Leuten“, schreibt Juli Zeh in ihrem neuen Dorfroman, der nach dem enormen Erfolg des Vorgängers „Unterleuten“ nun geradezu leuchtsignalhaft „Über Menschen“ heißt. „In Bracken kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben.“ Bracken ist, wie schon Unterleuten, ein fiktives Örtchen in der Prignitz, irgendwo da, wo auch Juli Zeh seit vielen Jahren lebt. An Material und Anschauungsobjekten fehlt es ihr also nicht.
In Bracken gibt es jedoch deutlich weniger Leute als einst in Unterleuten. Das Personal ist überschaubar. Das hat damit zu tun, dass Juli Zeh nun nicht mehr multiperspektivisch erzählt, um das ganze Dorfpanorama zu überblicken, sondern immer ganz dicht und im Präsens an ihrer Hauptfigur Dora bleibt.
Dora macht ihrem Namen alle Ehre, indem sie aus Berlin an den Dorf-Rand zieht und natürlich zunächst einmal das Klischee der Städterin erfüllt, die vom Dorfleben und davon, wie man ein Gemüsebeet anlegt, keine Ahnung hat. Begleitet wird sie von einer Hündin mit dem transgenderhaften Namen „Jochen-der-Rochen“, einer munteren Promenadenmischung. Auch der Nachbar, der mit rasiertem Schädel über die Mauer schaut und sich mit den Worten „Ich bin hier der Dorfnazi“ vorstellt, ist als demonstratives Klischee angelegt. Doch schon da ist zu ahnen, dass die Klischees mit Bedacht gesetzt sind, um allmählich ausgehebelt zu werden.
Bracken heißt vielleicht nur deshalb Bracken, damit es sich auf „Pflanzkanacken“ und „Polacken“ reimt. Einen Mann mit Motorsense, der vorzugsweise in rassistischen Witzen spricht und eine Schürze mit der Aufschrift „Serien-Griller“ trägt, gibt es auch. Und doch ist das Dorf ein Kosmos, in dem nichts so ist, wie es scheint, und in dem auch gut und böse, richtig und falsch immer wieder die Position wechseln. Vielleicht wird ja der nächste Dorfroman von Juli Zeh „Zwischen Wesen“ heißen, weil es in den Menschen immer nur das Dazwischen gibt und nie die Eindeutigkeit. Zunächst aber, im wirklich brillanten ersten von drei Teilen, ist „Über Menschen“ etwas ganz anderes, nämlich der erste echte Corona-Roman, der mitten im Lockdown im Frühjahr 2020 spielt und subtil die gesellschaftlichen und ganz privaten Folgen der Pandemie beschreibt. Dass Dora sich ein mürbes, altes Haus kauft und aufs Land zieht, mag zwar schon immer eine stille Sehnsucht von ihr gewesen sein, liegt nun aber vor allem daran, dass ihre Beziehung coronabedingt in die Brüche geht. Sie arbeitet in einer Werbeagentur, was ihrem Freund Robert, einem krisenfixierten, klimaengagierten, von Greta Thunberg erweckten Umweltkatastrophenjournalisten gar nicht gefällt, obwohl ihre Agentur ausschließlich Aufträge von ökokonformen Unternehmen annimmt. Dora ist mit einem Werbeauftritt für Öko-Jeans befasst, denen sie das Label „Gutmensch“ geben möchte.
Mit den ironischen Filmchen, die sie sich dafür ausdenkt, stößt sie zunächst auf Begeisterung, doch in Folge des Lockdowns wird die Kampagne eingestellt, und Dora verliert ihren Job, während Robert, immer schon krisenaffin, geradezu aufblüht und immer neue mahnende Kommentare schreibt, mit denen er voll im Trend liegt. Es ist klar, dass es mit ihm, den Dora bald nur noch „Robert Koch“ nennt, im Home-Office schwer auszuhalten ist.
Juli Zeh läuft in diesen Kapiteln zu Höchstform auf, indem sie zeigt, wie gut das krisengestimmte Bewusstsein auf die Pandemie vorbereitet war, ja sie erwartet und gebraucht hat, um sich selbst anhand der allgemeinen Bedrohung in eine Position vernunftbestimmter Moral hochzustilisieren. Nie zuvor hat Robert sich und sein Rechthaben so genießen können wie jetzt, wo er Konsequenz zelebriert und alle gesellschaftlichen Widersprüche sich im Nebel der Isoliertheit auflösen.
Dora, die auf sein Geheiß die Wohnung kaum noch verlassen darf, hat neben ihm zwar durchaus Verständnis für alle Maßnahmen und findet sie richtig, möchte die Social Correctness aber nicht zum höheren Sinn ihres Daseins erheben. Die Flucht aufs Land und weg von diesem selbsternannten Besser-Menschen ist also der richtige Schritt.
Die Robert-Geschichte wird im Rückblick erzählt, während Dora sich mit der neuen Nachbarschaft anzufreunden versucht. Auch da gelingen Juli Zeh wunderbar witzige und entlarvende Dialoge, weil sie weiß, wie die Leute im Dorf reden und denken – oder eben auch nicht. Gote, der benachbarte Dorfnazi, ist eher schweigsam, und was in seinem Schädel vor sich geht, wenn er mit seinen rechten Freunden das Horst-Wessel-Lied singt, bleibt sein Geheimnis.
Was sich in seinem Schädel aber definitiv ereignet, ist eine „Raumforderung“, die ihn allmählich außer Gefecht setzt. Auf dieses Geheimnis kommt Dora mithilfe ihres Vaters, eines berühmten Hirn-Chirurgen an der Charité, der dem „Sportsfreund“ seiner Tochter keine günstige Prognose stellt. Schon seit ihrer Kindheit weiß sie, dass „Raumforderung nicht der Wunsch nach einem eigenen Zimmer, sondern ein bösartiger Tumor ist“. Jetzt wird Dora unverhofft zur Fürsorgerin, während sich eine seltsame, herzliche Freundschaft, ja, nahezu eine Liebesgeschichte mit Gote, vor allem aber mit dessen zehnjährigem Töchterchen Franzi entwickelt, die ein wahrer Wirbelwind von einem Kind ist und sich intensiv mit Hündin Jochen anfreundet.
Kranker Kopf, gutes Herz: Mit dieser Formel könnte man das Dasein dieses armen Mannes zusammenfassen, der das, was Dora zunächst als „völkische Raumforderung“ im Pamphlet eines Rechtsradikalen begegnet, nun also am eigenen Leib erdulden muss. So berechtigt es sein mag, die städtischen Vorurteile von den bösen Nazis in Brandenburg ein wenig gegen den Strich zu bürsten, so schlicht ist es, ihnen das Klischee von einem im Grunde doch ganz lieben, treuen, nur etwas rauen und ungebildeten und zu viel Bier trinkenden Wesen entgegenzusetzen.
Juli Zeh verschweigt keineswegs die aufbrausende Gewalttätigkeit dieses Mannes und seinen aggressiven Fremdenhass, der sich sogar noch gegen die indischstämmige Radiologin in der Charité richtet. Sie deutet diese Ausbrüche aber nicht ideologisch, sondern bloß „menschlich“ und legt auch eine bloß medizinische Lesart nahe.
Am Beispiel eines im Dorf lebenden Kabarettisten, der mit seinem Freund als schwules Paar zusammenlebt, führt Juli Zeh aber auch vor, wie die Vereinfachung zum Klischee funktioniert. In dessen Programm mit dem Titel „Über Menschen“ dient der Dorfnazi als Prototyp all derer, die sich in ihrer rassistischen Selbstüberschätzung als etwas Besseres empfinden. Das also ist aus Nietzsches Übermensch geworden: ein Übermensch im Unterhemd, ein Übermensch aus der Unterschicht, wie lächerlich. Dass Dora sich ihrerseits für etwas Besseres hält und das ihrem Nazi-Freund in einem Streit dann auch an den Kopf wirft, ist vielleicht der entscheidende Moment. Dora erschrickt, kaum dass sie die Worte ausgesprochen hat, denn war dieser Glaube, etwas Besseres zu sein, nicht genau das, was sie an Robert nicht ertragen konnte?
Juli Zeh fragt auf gelegentlich schmerzhafte Weise: Ist es wirklich immer besser, wenn man zu den Guten gehört? Dora denkt darüber nach, als sie die 30 Baumwollbeutel betrachtet, die sich bei ihr angesammelt haben, weil sie Plastikmüll vermeiden möchte. Um damit tatsächlich weniger Energie zu verbrauchen, müsste sie jeden dieser Beutel mindestens 130 Mal benutzen, was in der Summe 3900 Einkäufe bedeuten würde.
Das wäre in 20 Jahren vielleicht zu schaffen, vorausgesetzt sie würde keine neuen Beutel benötigen. Aber was bedeutet das fürs Weltklima? Aus der Randlage der Provinz verschiebt sich der Blick auf die Überlebenstechniken der Menschheit. Klar ist lediglich, dass die Dörfler nicht verrückter sind als die Städter, weil alle auf ihre je eigene Weise verrückt sind.
Juli Zeh hat mit ihrer Dora eine Figur geschaffen, die all diesen Aufgeregtheiten auf angenehm pragmatische Weise trotzt und ihre eigenen Vorurteile exemplarisch überwindet. Sinnbildhaft dafür steht die Mauer, die ihr Grundstück vom Anwesen des Nazi-Nachbarn trennt. Doch über die Mauer hinweg, jeder auf seiner Seite auf einem Stuhl oder einer Kiste stehend, kommen die beiden sich bei ihren Abendzigaretten näher. Die Mauer ist das, was sie verbindet, auch wenn oben drüber erst einmal Misstrauen und Beschimpfungen ausgetauscht werden.
„Über Menschen“ ist also ein versöhnlicher Roman, in dem nichts Böses verschwiegen wird und der es dennoch schafft, aus all den Widersprüchen und Verlorenheiten eine Idylle inklusive Dorffest zu zaubern. Diese Gemeinschaft schafft es schließlich sogar, den Nazi zu integrieren und um ihn zu trauern. Der Rechtsradikalismus implodiert und hat in dieser guten Welt keine Chance mehr. Glauben sollte man das vielleicht besser nicht. Ein schönes, trauriges Gegenwartsmärchen aus der Prignitz kann aber durchaus mal so enden.
Das Buch verschweigt
keineswegs die
Bösartigkeit des Mannes
Dora ist eine Figur, die ihre
eigenen Vorurteile auf
exemplarische Weise überwindet
Juli Zeh:
Über Menschen.
Roman. Luchterhand,
München 2021.
416 Seiten, 22 Euro.
Als Dora in Juli Zehs neuem Roman von der Stadt aufs Land zieht, lernt sie dort ihren neuen Nachbarn Gote kennen, der ungern redet, aber dafür gern das Horst-Wessel-Lied singt.
Foto: Niklas Keller
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Gartenzaun
In Juli Zehs Roman „Über Menschen“ trifft
eine progressive Städterin auf einen Dorfnazi
VON JÖRG MAGENAU
In Bracken ist man unter Leuten“, schreibt Juli Zeh in ihrem neuen Dorfroman, der nach dem enormen Erfolg des Vorgängers „Unterleuten“ nun geradezu leuchtsignalhaft „Über Menschen“ heißt. „In Bracken kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben.“ Bracken ist, wie schon Unterleuten, ein fiktives Örtchen in der Prignitz, irgendwo da, wo auch Juli Zeh seit vielen Jahren lebt. An Material und Anschauungsobjekten fehlt es ihr also nicht.
In Bracken gibt es jedoch deutlich weniger Leute als einst in Unterleuten. Das Personal ist überschaubar. Das hat damit zu tun, dass Juli Zeh nun nicht mehr multiperspektivisch erzählt, um das ganze Dorfpanorama zu überblicken, sondern immer ganz dicht und im Präsens an ihrer Hauptfigur Dora bleibt.
Dora macht ihrem Namen alle Ehre, indem sie aus Berlin an den Dorf-Rand zieht und natürlich zunächst einmal das Klischee der Städterin erfüllt, die vom Dorfleben und davon, wie man ein Gemüsebeet anlegt, keine Ahnung hat. Begleitet wird sie von einer Hündin mit dem transgenderhaften Namen „Jochen-der-Rochen“, einer munteren Promenadenmischung. Auch der Nachbar, der mit rasiertem Schädel über die Mauer schaut und sich mit den Worten „Ich bin hier der Dorfnazi“ vorstellt, ist als demonstratives Klischee angelegt. Doch schon da ist zu ahnen, dass die Klischees mit Bedacht gesetzt sind, um allmählich ausgehebelt zu werden.
Bracken heißt vielleicht nur deshalb Bracken, damit es sich auf „Pflanzkanacken“ und „Polacken“ reimt. Einen Mann mit Motorsense, der vorzugsweise in rassistischen Witzen spricht und eine Schürze mit der Aufschrift „Serien-Griller“ trägt, gibt es auch. Und doch ist das Dorf ein Kosmos, in dem nichts so ist, wie es scheint, und in dem auch gut und böse, richtig und falsch immer wieder die Position wechseln. Vielleicht wird ja der nächste Dorfroman von Juli Zeh „Zwischen Wesen“ heißen, weil es in den Menschen immer nur das Dazwischen gibt und nie die Eindeutigkeit. Zunächst aber, im wirklich brillanten ersten von drei Teilen, ist „Über Menschen“ etwas ganz anderes, nämlich der erste echte Corona-Roman, der mitten im Lockdown im Frühjahr 2020 spielt und subtil die gesellschaftlichen und ganz privaten Folgen der Pandemie beschreibt. Dass Dora sich ein mürbes, altes Haus kauft und aufs Land zieht, mag zwar schon immer eine stille Sehnsucht von ihr gewesen sein, liegt nun aber vor allem daran, dass ihre Beziehung coronabedingt in die Brüche geht. Sie arbeitet in einer Werbeagentur, was ihrem Freund Robert, einem krisenfixierten, klimaengagierten, von Greta Thunberg erweckten Umweltkatastrophenjournalisten gar nicht gefällt, obwohl ihre Agentur ausschließlich Aufträge von ökokonformen Unternehmen annimmt. Dora ist mit einem Werbeauftritt für Öko-Jeans befasst, denen sie das Label „Gutmensch“ geben möchte.
Mit den ironischen Filmchen, die sie sich dafür ausdenkt, stößt sie zunächst auf Begeisterung, doch in Folge des Lockdowns wird die Kampagne eingestellt, und Dora verliert ihren Job, während Robert, immer schon krisenaffin, geradezu aufblüht und immer neue mahnende Kommentare schreibt, mit denen er voll im Trend liegt. Es ist klar, dass es mit ihm, den Dora bald nur noch „Robert Koch“ nennt, im Home-Office schwer auszuhalten ist.
Juli Zeh läuft in diesen Kapiteln zu Höchstform auf, indem sie zeigt, wie gut das krisengestimmte Bewusstsein auf die Pandemie vorbereitet war, ja sie erwartet und gebraucht hat, um sich selbst anhand der allgemeinen Bedrohung in eine Position vernunftbestimmter Moral hochzustilisieren. Nie zuvor hat Robert sich und sein Rechthaben so genießen können wie jetzt, wo er Konsequenz zelebriert und alle gesellschaftlichen Widersprüche sich im Nebel der Isoliertheit auflösen.
Dora, die auf sein Geheiß die Wohnung kaum noch verlassen darf, hat neben ihm zwar durchaus Verständnis für alle Maßnahmen und findet sie richtig, möchte die Social Correctness aber nicht zum höheren Sinn ihres Daseins erheben. Die Flucht aufs Land und weg von diesem selbsternannten Besser-Menschen ist also der richtige Schritt.
Die Robert-Geschichte wird im Rückblick erzählt, während Dora sich mit der neuen Nachbarschaft anzufreunden versucht. Auch da gelingen Juli Zeh wunderbar witzige und entlarvende Dialoge, weil sie weiß, wie die Leute im Dorf reden und denken – oder eben auch nicht. Gote, der benachbarte Dorfnazi, ist eher schweigsam, und was in seinem Schädel vor sich geht, wenn er mit seinen rechten Freunden das Horst-Wessel-Lied singt, bleibt sein Geheimnis.
Was sich in seinem Schädel aber definitiv ereignet, ist eine „Raumforderung“, die ihn allmählich außer Gefecht setzt. Auf dieses Geheimnis kommt Dora mithilfe ihres Vaters, eines berühmten Hirn-Chirurgen an der Charité, der dem „Sportsfreund“ seiner Tochter keine günstige Prognose stellt. Schon seit ihrer Kindheit weiß sie, dass „Raumforderung nicht der Wunsch nach einem eigenen Zimmer, sondern ein bösartiger Tumor ist“. Jetzt wird Dora unverhofft zur Fürsorgerin, während sich eine seltsame, herzliche Freundschaft, ja, nahezu eine Liebesgeschichte mit Gote, vor allem aber mit dessen zehnjährigem Töchterchen Franzi entwickelt, die ein wahrer Wirbelwind von einem Kind ist und sich intensiv mit Hündin Jochen anfreundet.
Kranker Kopf, gutes Herz: Mit dieser Formel könnte man das Dasein dieses armen Mannes zusammenfassen, der das, was Dora zunächst als „völkische Raumforderung“ im Pamphlet eines Rechtsradikalen begegnet, nun also am eigenen Leib erdulden muss. So berechtigt es sein mag, die städtischen Vorurteile von den bösen Nazis in Brandenburg ein wenig gegen den Strich zu bürsten, so schlicht ist es, ihnen das Klischee von einem im Grunde doch ganz lieben, treuen, nur etwas rauen und ungebildeten und zu viel Bier trinkenden Wesen entgegenzusetzen.
Juli Zeh verschweigt keineswegs die aufbrausende Gewalttätigkeit dieses Mannes und seinen aggressiven Fremdenhass, der sich sogar noch gegen die indischstämmige Radiologin in der Charité richtet. Sie deutet diese Ausbrüche aber nicht ideologisch, sondern bloß „menschlich“ und legt auch eine bloß medizinische Lesart nahe.
Am Beispiel eines im Dorf lebenden Kabarettisten, der mit seinem Freund als schwules Paar zusammenlebt, führt Juli Zeh aber auch vor, wie die Vereinfachung zum Klischee funktioniert. In dessen Programm mit dem Titel „Über Menschen“ dient der Dorfnazi als Prototyp all derer, die sich in ihrer rassistischen Selbstüberschätzung als etwas Besseres empfinden. Das also ist aus Nietzsches Übermensch geworden: ein Übermensch im Unterhemd, ein Übermensch aus der Unterschicht, wie lächerlich. Dass Dora sich ihrerseits für etwas Besseres hält und das ihrem Nazi-Freund in einem Streit dann auch an den Kopf wirft, ist vielleicht der entscheidende Moment. Dora erschrickt, kaum dass sie die Worte ausgesprochen hat, denn war dieser Glaube, etwas Besseres zu sein, nicht genau das, was sie an Robert nicht ertragen konnte?
Juli Zeh fragt auf gelegentlich schmerzhafte Weise: Ist es wirklich immer besser, wenn man zu den Guten gehört? Dora denkt darüber nach, als sie die 30 Baumwollbeutel betrachtet, die sich bei ihr angesammelt haben, weil sie Plastikmüll vermeiden möchte. Um damit tatsächlich weniger Energie zu verbrauchen, müsste sie jeden dieser Beutel mindestens 130 Mal benutzen, was in der Summe 3900 Einkäufe bedeuten würde.
Das wäre in 20 Jahren vielleicht zu schaffen, vorausgesetzt sie würde keine neuen Beutel benötigen. Aber was bedeutet das fürs Weltklima? Aus der Randlage der Provinz verschiebt sich der Blick auf die Überlebenstechniken der Menschheit. Klar ist lediglich, dass die Dörfler nicht verrückter sind als die Städter, weil alle auf ihre je eigene Weise verrückt sind.
Juli Zeh hat mit ihrer Dora eine Figur geschaffen, die all diesen Aufgeregtheiten auf angenehm pragmatische Weise trotzt und ihre eigenen Vorurteile exemplarisch überwindet. Sinnbildhaft dafür steht die Mauer, die ihr Grundstück vom Anwesen des Nazi-Nachbarn trennt. Doch über die Mauer hinweg, jeder auf seiner Seite auf einem Stuhl oder einer Kiste stehend, kommen die beiden sich bei ihren Abendzigaretten näher. Die Mauer ist das, was sie verbindet, auch wenn oben drüber erst einmal Misstrauen und Beschimpfungen ausgetauscht werden.
„Über Menschen“ ist also ein versöhnlicher Roman, in dem nichts Böses verschwiegen wird und der es dennoch schafft, aus all den Widersprüchen und Verlorenheiten eine Idylle inklusive Dorffest zu zaubern. Diese Gemeinschaft schafft es schließlich sogar, den Nazi zu integrieren und um ihn zu trauern. Der Rechtsradikalismus implodiert und hat in dieser guten Welt keine Chance mehr. Glauben sollte man das vielleicht besser nicht. Ein schönes, trauriges Gegenwartsmärchen aus der Prignitz kann aber durchaus mal so enden.
Das Buch verschweigt
keineswegs die
Bösartigkeit des Mannes
Dora ist eine Figur, die ihre
eigenen Vorurteile auf
exemplarische Weise überwindet
Juli Zeh:
Über Menschen.
Roman. Luchterhand,
München 2021.
416 Seiten, 22 Euro.
Als Dora in Juli Zehs neuem Roman von der Stadt aufs Land zieht, lernt sie dort ihren neuen Nachbarn Gote kennen, der ungern redet, aber dafür gern das Horst-Wessel-Lied singt.
Foto: Niklas Keller
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.2021Bei den Edlen Wilden vom Lande
Wenn einem der böse Nachbar gefällt: Juli Zehs neuer Roman "Über Menschen" bedient sich erzähltechnisch bei sentimentalen Filmen
Der Topos von Edlen Wilden bezeichnet seit etwa dem sechzehnten Jahrhundert eine spezifische Sicht auf außereuropäische Völker als naturverbundene Wesen, unter deren wüst anzuschauendem Äußeren - Federn, Lendenschurz und so weiter - sich eine unverdorbene, reine, ja kindliche Seele befinden sollte. Für Autoren besonders im achtzehnten Jahrhundert war der Edle Wilde eine willkommene Gelegenheit, die eigene Zivilisation als zwar überlegen, aber auch korrumpiert, dekadent und unnatürlich darzustellen. So wurden Naturvölker zum Vehikel der Zivilisationskritik, im allerbesten Fall ließ sich diese Verklärung wenigstens noch gegen Konzepte wie Sklaverei und Ausbeutung der Kolonien in Stellung bringen. Manchmal, wenn man Juli Zehs neuen brandenburgischen Dorfroman liest, kommt einem dieses Motiv wieder in den Sinn.
"Über Menschen" handelt von Dora, einer Berliner Werbetexterin, die vor Corona und ihrem in vielerlei Hinsicht fanatischen Lebensgefährten aufs platte Land flieht. Hinter ihr liegt das Berliner Agenturleben mit dem Fahrrad "Gustav" - ja, das Fahrrad hat einen Namen -, dem Partner Robert (der Karikatur eines Gutmenschen, der Greta Thunbergs Reden mit religiösem Eifer folgt), dem üblichen Gewese um laktosefreie Kaffeespezialitäten und der Hündin "Jochen" in einer Kreuzberger Altbauwohnung. Also das, was einem als Erstes einfällt, wenn man an Berlin denkt. Vor ihr liegt ein verwilderter Garten, in dem ein Gemüsebeet entstehen soll, denn noch besser als Bio ist selbst angebaut. Nun stellt sich aber heraus: Das ist gar nicht so einfach, das mit dem Garten.
Und dann ist da natürlich die wunderbare Natur. Ach, der Wald! Den hat Dora schon immer geliebt: "Dieses riesige, atmende Wesen, voller Leben und Betriebsamkeit und zugleich von unerschütterlicher Ruhe. Der Wald will nichts von ihr. Er braucht keine Unterstützung. Er kümmert sich mit großem Erfolg um sich selbst. Zwischen Bäumen, die größer und älter sind als ein Mensch, kommt sich Dora auf erleichternde Weise unbedeutend vor." Endlich einmal nicht darüber nachdenken, ob man beim Einkaufen den Leinenbeutel vergessen hat, es könnte so schön sein, wäre da nicht diese plattitüdenhafte Sprache. Aber gehen wir mal davon aus, es hier mit einem Unterhaltungsroman zu tun zu haben und nicht mit Literatur, und konzentrieren uns auf die Handlung.
Das Gutsverwalterhaus in dem Ort namens Bracken, das zwischenzeitlich als Dorfkindergarten fungierte und dann lange leerstand, ist groß und billig. Dort richtet sich Dora ein, so gut es geht, Platz ist genug da für Hund und Laptop. Bald lernt sie ihre Nachbarn kennen: Gote, den Dorfnazi, der nebenan wohnt und ihr ab und zu ungefragt Möbel hinstellt, weil sie keine hat. Das Paar Tom und Steffen, der eine Florist, der andere Kabarettist. Die alleinerziehende Mutter Sadie, die Nachtschichten schiebt, um über die Runden zu kommen. Die Nachbarn bringen Saatkartoffeln für das frisch angelegte Gemüsebeet vorbei oder nehmen Dora mal mit zum Einkaufen. Knorrige Menschen, das Herz am rechten Fleck. Also das, was einem als Erstes einfällt, wenn man an Brandenburg denkt - oder wenn man auch schon Zehs früheren Roman "Unterleuten" gelesen hat.
Dorfnazi Gote, der direkt hinter dem Gartenzaun in einem Bauwagen samt Geranien vor dem Fenster haust, ist ein typischer Vertreter seiner Art. Er wählt AfD, singt gelegentlich im Garten mit seinen Kumpeln das Horst-Wessel-Lied, säuft und stach früher auch mal einen Linken ab, aber was soll man auch machen, so abgehängt und ohne öffentlichen Nahverkehr. Und den Diesel will man diesen wackeren Leutchen auch noch wegnehmen. Dora schwankt zwischen Abneigung und, ja, "Ehrfurcht" vor diesen Dörflern. Einerseits sind sie so nett und fleißig, andererseits halt auch Rassisten, aber dann streichen sie einem wieder die Wand. Der Roman zeichnet die recht schlichten Gedankengänge Doras angesichts dieser Umstände nach, geht aber nicht sonderlich weit über die üblichen Reportagen hinaus, die man nach jeder Wahl regelmäßig über ostdeutsche Problemzonen lesen kann.
Allerdings legt Zeh bei aller politischen Positionierung sehr viel Wert darauf, dass es am Ende alles heftig menschelt. Man hilft einander, man hört sich zu, man schafft es zu trauern, auch wenn man sich nie mochte oder das Gegenüber etwas müffelt. Man ist sich Nachbar. Dieser Gote stand mal etwas zu nah daneben, als ein Linker abgestochen wurde, aber vielleicht war er's ja doch nicht, Rostock ist lange her, außerdem baut er Holzbänke für den nahen Wald, hat seine Tochter lieb und ist schwer krank im Kopf. Was soll man da machen?
Natürlich bleiben Menschen Menschen, auch wenn sie rechtsradikale Ekel sind. Und rechte Ekel bleiben rechte Ekel, auch wenn sie Möbel bauen und ihre Töchter lieb haben. Und wenn man es ganz genau nimmt, könnte man noch einwenden, dass auch in der Stadt nicht nur Schablonen leben, die ein eindeutiges Gutmenschendasein oder eine reinrassige Agenturmaus-Existenz leben, und auf dem Land nicht nur widerständige Schubladenverweigerer. Die Dichotomie vom Edlen Wilden einerseits und dem zivilisatorisch kurz vor den Dekadenz-Kipppunkt hochverzärtelten Kulturmenschen aus der Großstadt andererseits geht eventuell schon seit dem sechzehnten Jahrhundert so nicht ganz hundertprozentig auf.
Warum Dora nun ein brandenburgisches Dorf für die Erkenntnis braucht, dass Menschen nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen, ist eher einer dieser Erzähltricks, die man aus vielen sentimentalen Filmen kennt. Menschen lernen erst angesichts des Todes ihr Leben zu schätzen, entdecken angesichts von Dorfnazis ihre Menschenliebe, so etwas.
Man kann das machen, es ist ja auch ganz unterhaltsam, man sollte am Ende nur nicht allzu viel bundesrepublikanische Gegenwartspolitik hineinprojizieren. Es liest sich flott, die Sätze sind kurz. Und auch sonst wird dieses Buch Juli-Zeh-Leser nicht enttäuschen, Juli-Zeh-Verächter und Freunde der nichtschiefen Metapher aber auch diesmal nicht bekehren. Wir warten jedenfalls gespannt auf die ZDF-Verfilmung - für einen Mehrteiler wie bei "Unterleuten" ist das Material diesmal zu dünn.
ANDREA DIENER
Juli Zeh: "Über Menschen". Roman.
Luchterhand Verlag, München 2021.
416 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn einem der böse Nachbar gefällt: Juli Zehs neuer Roman "Über Menschen" bedient sich erzähltechnisch bei sentimentalen Filmen
Der Topos von Edlen Wilden bezeichnet seit etwa dem sechzehnten Jahrhundert eine spezifische Sicht auf außereuropäische Völker als naturverbundene Wesen, unter deren wüst anzuschauendem Äußeren - Federn, Lendenschurz und so weiter - sich eine unverdorbene, reine, ja kindliche Seele befinden sollte. Für Autoren besonders im achtzehnten Jahrhundert war der Edle Wilde eine willkommene Gelegenheit, die eigene Zivilisation als zwar überlegen, aber auch korrumpiert, dekadent und unnatürlich darzustellen. So wurden Naturvölker zum Vehikel der Zivilisationskritik, im allerbesten Fall ließ sich diese Verklärung wenigstens noch gegen Konzepte wie Sklaverei und Ausbeutung der Kolonien in Stellung bringen. Manchmal, wenn man Juli Zehs neuen brandenburgischen Dorfroman liest, kommt einem dieses Motiv wieder in den Sinn.
"Über Menschen" handelt von Dora, einer Berliner Werbetexterin, die vor Corona und ihrem in vielerlei Hinsicht fanatischen Lebensgefährten aufs platte Land flieht. Hinter ihr liegt das Berliner Agenturleben mit dem Fahrrad "Gustav" - ja, das Fahrrad hat einen Namen -, dem Partner Robert (der Karikatur eines Gutmenschen, der Greta Thunbergs Reden mit religiösem Eifer folgt), dem üblichen Gewese um laktosefreie Kaffeespezialitäten und der Hündin "Jochen" in einer Kreuzberger Altbauwohnung. Also das, was einem als Erstes einfällt, wenn man an Berlin denkt. Vor ihr liegt ein verwilderter Garten, in dem ein Gemüsebeet entstehen soll, denn noch besser als Bio ist selbst angebaut. Nun stellt sich aber heraus: Das ist gar nicht so einfach, das mit dem Garten.
Und dann ist da natürlich die wunderbare Natur. Ach, der Wald! Den hat Dora schon immer geliebt: "Dieses riesige, atmende Wesen, voller Leben und Betriebsamkeit und zugleich von unerschütterlicher Ruhe. Der Wald will nichts von ihr. Er braucht keine Unterstützung. Er kümmert sich mit großem Erfolg um sich selbst. Zwischen Bäumen, die größer und älter sind als ein Mensch, kommt sich Dora auf erleichternde Weise unbedeutend vor." Endlich einmal nicht darüber nachdenken, ob man beim Einkaufen den Leinenbeutel vergessen hat, es könnte so schön sein, wäre da nicht diese plattitüdenhafte Sprache. Aber gehen wir mal davon aus, es hier mit einem Unterhaltungsroman zu tun zu haben und nicht mit Literatur, und konzentrieren uns auf die Handlung.
Das Gutsverwalterhaus in dem Ort namens Bracken, das zwischenzeitlich als Dorfkindergarten fungierte und dann lange leerstand, ist groß und billig. Dort richtet sich Dora ein, so gut es geht, Platz ist genug da für Hund und Laptop. Bald lernt sie ihre Nachbarn kennen: Gote, den Dorfnazi, der nebenan wohnt und ihr ab und zu ungefragt Möbel hinstellt, weil sie keine hat. Das Paar Tom und Steffen, der eine Florist, der andere Kabarettist. Die alleinerziehende Mutter Sadie, die Nachtschichten schiebt, um über die Runden zu kommen. Die Nachbarn bringen Saatkartoffeln für das frisch angelegte Gemüsebeet vorbei oder nehmen Dora mal mit zum Einkaufen. Knorrige Menschen, das Herz am rechten Fleck. Also das, was einem als Erstes einfällt, wenn man an Brandenburg denkt - oder wenn man auch schon Zehs früheren Roman "Unterleuten" gelesen hat.
Dorfnazi Gote, der direkt hinter dem Gartenzaun in einem Bauwagen samt Geranien vor dem Fenster haust, ist ein typischer Vertreter seiner Art. Er wählt AfD, singt gelegentlich im Garten mit seinen Kumpeln das Horst-Wessel-Lied, säuft und stach früher auch mal einen Linken ab, aber was soll man auch machen, so abgehängt und ohne öffentlichen Nahverkehr. Und den Diesel will man diesen wackeren Leutchen auch noch wegnehmen. Dora schwankt zwischen Abneigung und, ja, "Ehrfurcht" vor diesen Dörflern. Einerseits sind sie so nett und fleißig, andererseits halt auch Rassisten, aber dann streichen sie einem wieder die Wand. Der Roman zeichnet die recht schlichten Gedankengänge Doras angesichts dieser Umstände nach, geht aber nicht sonderlich weit über die üblichen Reportagen hinaus, die man nach jeder Wahl regelmäßig über ostdeutsche Problemzonen lesen kann.
Allerdings legt Zeh bei aller politischen Positionierung sehr viel Wert darauf, dass es am Ende alles heftig menschelt. Man hilft einander, man hört sich zu, man schafft es zu trauern, auch wenn man sich nie mochte oder das Gegenüber etwas müffelt. Man ist sich Nachbar. Dieser Gote stand mal etwas zu nah daneben, als ein Linker abgestochen wurde, aber vielleicht war er's ja doch nicht, Rostock ist lange her, außerdem baut er Holzbänke für den nahen Wald, hat seine Tochter lieb und ist schwer krank im Kopf. Was soll man da machen?
Natürlich bleiben Menschen Menschen, auch wenn sie rechtsradikale Ekel sind. Und rechte Ekel bleiben rechte Ekel, auch wenn sie Möbel bauen und ihre Töchter lieb haben. Und wenn man es ganz genau nimmt, könnte man noch einwenden, dass auch in der Stadt nicht nur Schablonen leben, die ein eindeutiges Gutmenschendasein oder eine reinrassige Agenturmaus-Existenz leben, und auf dem Land nicht nur widerständige Schubladenverweigerer. Die Dichotomie vom Edlen Wilden einerseits und dem zivilisatorisch kurz vor den Dekadenz-Kipppunkt hochverzärtelten Kulturmenschen aus der Großstadt andererseits geht eventuell schon seit dem sechzehnten Jahrhundert so nicht ganz hundertprozentig auf.
Warum Dora nun ein brandenburgisches Dorf für die Erkenntnis braucht, dass Menschen nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen, ist eher einer dieser Erzähltricks, die man aus vielen sentimentalen Filmen kennt. Menschen lernen erst angesichts des Todes ihr Leben zu schätzen, entdecken angesichts von Dorfnazis ihre Menschenliebe, so etwas.
Man kann das machen, es ist ja auch ganz unterhaltsam, man sollte am Ende nur nicht allzu viel bundesrepublikanische Gegenwartspolitik hineinprojizieren. Es liest sich flott, die Sätze sind kurz. Und auch sonst wird dieses Buch Juli-Zeh-Leser nicht enttäuschen, Juli-Zeh-Verächter und Freunde der nichtschiefen Metapher aber auch diesmal nicht bekehren. Wir warten jedenfalls gespannt auf die ZDF-Verfilmung - für einen Mehrteiler wie bei "Unterleuten" ist das Material diesmal zu dünn.
ANDREA DIENER
Juli Zeh: "Über Menschen". Roman.
Luchterhand Verlag, München 2021.
416 S., geb., 22,- [Euro].
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»Ein Buch, das einem die Augen öffnet für unsere bundesrepublikanische Wirklichkeit.« Denis Scheck / SWR Fernsehen lesenswert