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Das Ich und sein Double: In ihrem dritten Roman "Über Nacht" spiegelt die österreichische Autorin Sabine Gruber zwei Frauenleben ineinander.
Von Andreas Kilb
Für das, was wir "Schicksal" nennen, hatten die alten Griechen ein zauberisches Bild. Sie sahen drei alte Frauen, die Moiren, um eine Spindel sitzen und den Lebensfaden spinnen: Die erste, Klotho, stellt ihn her, die zweite, Lachesis, misst seine Länge, die dritte, Atropos, schneidet ihn ab. Wie alle großen Bilder aus der Kindheit unserer Kultur ist auch dieses nie ganz verlorengegangen, selbst das Mittelalter bewahrte es in seinen Mythographien, und die Malerei nimmt es seit der Renaissance immer wieder auf. Aber es ist eine Sache, die Moiren in einem Bild, und eine andere, sie in einem Buch, einer Geschichte zu beschwören. Jeder Erzähler spielt Schicksal, doch nur wenige besitzen das nötige Geschick, die Lebensfäden ihrer Figuren offenzulegen, ohne sie zu zerreißen. Allzu rasch droht dem Spiel mit Spindel, Maßband und Schere das Schicksal aller literarischen Spielereien: Man verliert das Interesse an ihnen. Vor einigen Jahren gab es einen Film des Polen Krzysztof Kieslowski, der die Lebensläufe zweier Frauen, beide verkörpert von derselben Schauspielerin, schicksalhaft ineinanderwob. "Die zwei Leben der Veronika" hielt genau die Balance zwischen Erzählung und Allegorie. Doch das ist lange her.
"Über Nacht", der dritte Roman der in Meran geborenen und in Wien lebenden Schriftstellerin Sabine Gruber, handelt von zwei Frauen, Mira und Irma. Die eine, Mira, arbeitet in einem Pflegeheim für Alte und Schwerbehinderte in Rom. Die andere, Irma, wälzt sich, als wir sie kennenlernen, gerade in einem Albtraum von Wüsten, Steppen und Sandstürmen. Dann klingelt das Telefon. Es ist ein Anruf aus dem Krankenhaus: Für Irma liegt eine Spenderniere bereit. Bis zu diesem Zeitpunkt war Irmas Lebensfaden sehr kurz. Jetzt ist er wieder ein Stück länger.
Von Anfang an ist klar, dass die zwei Frauenleben dieses Buches zusammengehören. Nur der Faden, der ie verbindet, wird nicht sofort sichtbar. Irma, die Wienerin, hat seit Jahren nicht mehr richtig ihren Durst gestillt, die strenge Diät, die ihr Nierenleiden über sie verhängte, nahm ihr alle Lebenslust. Mira, die Pflegerin aus Rom, dürstet nach der Liebe ihres Ehemanns Vittorio, dem Gefühl, wieder begehrt zu werden wie am Anfang ihres Zusammenlebens. Aber Vittorios Umarmungen wirken fahrig und routiniert, die Leidenschaft ist zur Pflichtübung abgekühlt. Dann entdeckt Mira, dass ihr Mann sich die Beine rasiert. Zur gleichen Zeit macht sich der Neffe eines Patienten an sie heran, ein abgetakelter Gigolo namens Rino. Der Verdacht, dass Vittorio eine Parallelexistenz als Homosexueller vor ihr verbirgt, macht es Mira schwer, die Zudringlichkeiten Rinos abzuweisen.
Dass Sabine Gruber eine außergewöhnlich formbewusste Erzählerin ist, hat sie schon mit ihrem vorigen Roman "Die Zumutung" bewiesen. Wenn man will, kann man "Über Nacht" als Fortsetzung und Variation der Krankengeschichte lesen, die darin begonnen wurde. Die Frau mit der Schrumpfniere hieß in dem früheren Buch Marianne. Der Sohn, mit dessen Geburt ihr Siechtum begann, ist hier im Kleinkindalter. Während Marianne Kunsthistorikerin war, recherchiert Irma für ein Buchprojekt über ausssterbende Berufe. Die Nähe des eigenen Todes hat Irmas Interesse an Menschen und Dingen geweckt, die verschwinden. "Wer einmal zugrunde gegangen ist, wer den dunklen Boden berührt hat, dem leuchtet selbst das dumpfeste Grau", schreibt sie in ihr Notizbuch. Aber aus dem Grau steigen auch neue Möglichkeiten auf. Bei einem alten Schriftsetzer, den sie für ihr Buch interviewt, lernt Irma dessen Sohn Friedrich kennen, den Mann, mit dem ihre körperliche Durststrecke endet.
Das Schöne an diesem Buch besteht darin, dass es um seine Kunstfertigkeit kein Geschrei macht. Das Netz der Erzählung webt sich wie von selbst. Irma will wissen, woher ihre Spenderniere stammt, sie will das fremde Organ mit einem Namen verbinden. Als sie bei ihrer Suche nicht weiterkommt, richtet sie ihre Neugier auf die eigene Geschichte. Von Rino, dem Vater ihres Kindes, hat sie nur eine Telefonnummer in Rom. Niemand nimmt ab. Also fährt sie hin. Als sie am Termini-Bahnhof in den Himmel schaut, sieht sie Schwärme von Vögeln. "Stare", sagt jemand zu ihr, "die sind überall hier in der Stadt." Derselbe Satz fällt auch in Miras Geschichte, viele Seiten zuvor. Das Schicksalsspiel geht in die entscheidende Runde.
"Ich probiere Geschichten an wie Kleider." Das sagt der Erzähler in "Mein Name sei Gantenbein", dem Buch, mit dem Max Frisch vor vierzig Jahren die Bilanz seines Zusammenlebens mit Ingeborg Bachmann zog. Auch diese Liebe spielte zwischen Wien und Rom. Aber Frischs Alter ego sagt nur "Ich", um sich zu distanzieren. Bei Sabine Gruber gehört das Ich Mira, dem Spiegelbild, während von Irma in der dritten Person berichtet wird. Das gibt der Spiegelung einen anderen Ernst, der Geschichte einen tieferen Ton, auch wenn das Maskenspiel Frischs am Ende doch ein Stück grandioser und virtuoser war.
Als Irma und Mira am Ende zusammenkommen, wird ein Lebensfaden abgeschnitten, der andere verschont. Die Erzählerin spielt Schicksal, aber es ist keine Notoperation, sondern ein geradezu zärtlicher Eingriff. Im nächsten Buch, so viel ist sicher, wird Klotho einen neuen Faden spinnen. Bei Sabine Gruber sind die Moiren in guten Händen.
- Sabine Gruber: "Über Nacht". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2007. 238 S., geb., 17,90 [Euro]
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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