Diedrich Diederichsen über Pop-Musik: das Opus magnum Ganze Generationskohorten von Pop-Fans hat er angeregt und aufgestört: Diedrich Diederichsen. Nun erscheint mit Über Pop-Musik das Ergebnis seines lebenslangen Nachdenkens über Pop.Über Pop-Musik ist ein kluges, ein kontroverses Buch, dessen Thesen ganze Gebäude eilig zusammengezimmerter Übereinkünfte zum Einsturz bringen werden. Pop-Musik, sagt Diederichsen, ist gar keine Musik. Musik ist bloß der Hintergrund für die viel tiefer liegenden, viel weiter ausstrahlenden Signale des Pop. Pop ist ein Hybrid aus Vorstellungen, Wünschen, Versprechungen. Er ist ein Feld für Posen und Pakte, für Totems und Tabubrüche. Der Autor bezieht seine Argumente aus Semiotik und Soziologie ebenso wie aus der Geschichte und Gegenwart der Pop-Kultur und aus den angrenzenden Gebieten Jazz, Kino, Oper. Es dürfte das erste Buch sein, das der ganzen Vielgestaltigkeit des Phänomens Rechnung trägt, und das einzige, in dem gleichzeitig Theodor W. Adorno und Congo Ashanti Roy auftreten. Und es ist ein sehr persönliches Buch. Diederichsen greift immer wieder auf die eigenen Erfahrungen zurück, sein Initiationserlebnis war ausgerechnet ein Konzert des bleichen Bluesrockers Johnny Winter. Was er über dessen Auftritt schreibt, gilt für viele, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen sind: Pop hat »eingelöst, was wir alle immer schon geahnt hatten, aber als Kinder nie ganz genau wussten: dass es etwas gibt. Nicht, wovon Winter heulte, war wichtig, sondern dass in komischen Geräuschen ein Weg zur Welt war.«
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Hingerissen zeigt sich Julian Weber von Diedrich Diederichsens Buch "Über Pop-Musik". Das Buch widerlegt für ihn auch den Vorwurf der theoretischen Abgehobenheit des Autors. Im Gegenteil, es kommt für ihn unterhaltsam und assoziativ daher, wechselnd zwischen Theorie und Beschreibung, "Powerchords und Style-Wars". Diederichsens Überlegungen, Pop nicht nur auf musikimmanente Elemente oder ihren sozialen Gebrauch zu begrenzen, sondern auch das einzigartige Besondere, das der Rezipient daraus macht, einzubeziehen, kann Weber gut nachvollziehen. Er attestiert dem Autor in diesem Zusammenhang, die Pop-Ästhetik um ihre Rezeptionsgeschichte zu erweitern. Auch die Auseinandersetzung mit Adorno und dessen Apologeten findet er überzeugend. Das Fazit des Rezensenten: ein "Grundlagenwerk".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.03.2014Mehr als Musik
Revolutionen haben keinen Soundtrack – Diedrich
Diederichsens Magnum Opus „Über Pop-Musik“
VON JENS-CHRISTIAN RABE
Weil der Boulevard das Bild gerade ins Hirn gebrannt hat, muss es damit losgehen: Miley Cyrus, der leitende weibliche Popstar dieser Tage schwebt – mit sehr blondierten kurzen Haaren, einer Art Glamour-Cowgirl-Bikini, Glitzer-Stiefeln und einem knallgelben Langhaar-Flokati-Mantel – über Publikum auf einem riesigen, gesattelten Hot Dog. Zwischen ihren nackten Beinen befindet sich also ein überdimensionales längliches Softbiss-Brötchen und eine gigantische rote Wurst. Ja, ja. Tja.
Ceci n’est pas un hot-dog? Doch, doch oder vielmehr: Es kommt darauf an. Also darauf, ob man zu den Menschen gehört, die hier womöglich einen famosen Zeichenschauer wittern – oder eben zu denen, die nur eine Pop-Sängerin auf einem, nun ja, übergroßen Hot-Dog-Modell sehen. Wer sich zu ersteren zählt, dem sei hiermit das heute erscheinende Buch „Über Pop-Musik“ des berühmtesten und berüchtigsten deutschen Poptheoretikers Diedrich Diederichsen ohne Umwege empfohlen. Es gibt jetzt ein Nachdenken über Pop-Musik vor und ein Nachdenken über Pop-Musik nach diesem Buch. Wahrscheinlich muss man es noch allgemeiner fassen: Wer in Zukunft über Pop-Kultur nachdenken oder auch einfach nur wissen will, was in der lauten Welt da draußen, der wir alle nicht wirklich entkommen können, eigentlich los ist, der sollte dieses Buch gut kennen.
Wer sich zu den abgekochteren Beobachtern von Miley Cyrus rechnet, der dürfte es mit dem Buch, obwohl es im Vergleich zu anderen Werken dieses Autors ungleich fokussierter geschrieben und thematisch wohlgeordnet ist, schwerer haben. Also so schwer wie mit den allermeisten der Tausenden von Artikeln, Rezensionen, Aufsätzen und Büchern, die es von diesem Autor zur Pop-Musik seit Ende der Siebziger Jahre gibt. Der Grund dafür ist einfach, aber er hat noch gar nichts damit zu tun, dass Diederichsen nicht immer von jedem gleich verstanden werden wollte (wegen seiner Qualitäten als Kryptologe wird er ebenso leidenschaftlich verehrt wie geringgeschätzt, aber dazu später noch ein Wort).
Was „Über Pop-Musik“ für die meisten vielmehr zu schwerer Kost machen dürfte, ist die Tatsache, dass es trotz allem – trotz der vielen Pop-Professuren auf der ganzen Welt, trotz einer akribischen Popkritik, trotz Autoren und Denkern wie Nik Cohn, Lester Bangs, Greil Marcus, Jon Savage, Simon Frith oder eben Diedrich Diederichsen – noch immer keine Selbstverständlichkeit ist, über Popmusik tatsächlich so ernsthaft, anspruchsvoll und voraussetzungsreich nachzudenken.
Genau genommen ist diese Art des Nachdenkens bei älteren Künsten zwar auch kaum verbreiteter. Man ist sich nur über deren intellektuelle Satisfaktionsfähigkeit einiger. Allerdings stillschweigend und deshalb nicht immer aus den richtigen Gründen. Abgesehen davon, sind Literatur, Klassische Musik, Bildende Kunst natürlich ein paar Jahre älter als Popmusik, weshalb entscheidende diskursive Grundlagen schon ein paar Jahre länger gelegt sind.
Man muss an dieser Stelle so grundsätzlich werden, weil nun Diedrich Diederichsen mit „Über Pop-Musik“ eben genau das getan hat, er ist grundsätzlich geworden: Er hat das Buch vorgelegt, das neben die bekannten Künste eine neue Kunst stellt. Und zwar nicht einfach nur als freche, popistische Behauptung (solchen Manövern verdankt der frühe Diederichsen seinen Ruhm), sondern als akribische Argumentation, die begründungstheoretisch eigentlich keine Wünsche offen lässt. Wie oft passiert so etwas schon? Eigentlich nie.
Dass „Über Pop-Musik“ übrigens gerade auf der Short-List für einen der beiden wichtigsten deutschen Sachbuch-Preise, den Preis der Leipziger Buchmesse, steht, ist deshalb mehr als verdient. Manch andere der jüngsten großen Geschichten des Pop, eben erschien etwa „Yeah Yeah Yeah – The Story of Modern Pop“ des britischen Musikers Bob Stanley oder Karl Bruckmaiers „The Story of Pop“, sind näher an der Gegenwart, andere beherzter erzählt, besser geschrieben. Diederichsens Buch ist jedoch nicht einfach nur SEIN Opus Magnum es ist wirklich EIN Opus Magnum. Ein echtes ideengeschichtliches Ereignis.
Was aber heißt all das genau?
Es heißt zunächst, dass Diederichsen „Pop-Musik“ zwar emphatisch versteht, als etwas, mit dem Menschen für sie existenziell Wichtiges verbinden, aber eben NICHT in erster Linie als Musik, schon gar nicht als minderwertig gegenüber kompositorisch aufwendigeren Musiken. Pop-Musik sei eben „kein Spezialfall aus dem größeren Gegenstandsbereich Musik“. Pop-Musik sei sogar nicht bloß „sehr viel mehr als Musik“. Pop-Musik sei „eine andere Sorte Gegenstand“.
Und zwar einer, der ungefähr seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachten sei und dessen Teile – anders etwa als beim Film – kein zentrales Medium verbinde: Den notwendigen Zusammenhang, der das Phänomen Pop-Musik dann erst ist, den Zusammenhang zwischen (meist populärer) Musik, Bildern, Performances, Texten, Performern, Posen, Stars, zwischen Fernsehausstrahlung, Schallplatte, Radioprogramm, Live-Konzert, Körperhaltung, Mode, Haaren, Make-up und der Intimität von Kinder- und Schlafzimmer – diesen Zusammenhang stifteten „die Hörer, die Fans, die Kunden von Pop-Musik“ selbst: „Der Witz des kulturindustriellen und künstlerischen Formats Pop-Musik ist, dass es von allen Beteiligten immer wieder aktiv zusammengesetzt werden muss.“
Diese Perspektive ermöglicht dann auch eine systematische Trennung der Pop-Musik vom „Populären“ oder der „Populärkultur“ einerseits und der „Pop-Kultur“ andererseits, die in dieser Strenge auch ein gutes Beispiel für die tiefe und eindrucksvoll sensible und originelle Durchdringung des Gegenstandes in diesem Buch ist: Pop-Kultur etwa finde sich dort, wo andere kulturelle Formate – „in den letzten 20 Jahren deutlich zunehmend“ – sich nach den Spielregeln der Pop-Musik als Zusammenhänge reorganisieren, die nicht an einem festen Produktionsort (dem genialen oder wenigstens kundigen Künstler), sondern eben erst in der Rezeption wieder zusammengebaut werden. Man darf da wohl etwa an den Starkult in der Klassischen Musik denken oder daran, wie heute moderne Kino-Blockbuster lanciert werden. Man darf nur daran denken, weil im Buch leider notorisch Mangel an Beispielen herrscht, was bei theoretischen Versuchen dieses Ausmaßes freilich eher die Regel als eine Ausnahme ist.
Das Populäre wiederum ist Diederichsen dabei ganz schlicht das, was wirklich alle angehe. Pop-Musik dagegen – anders als Elite und Hochkultur – trenne sich von der populären Kultur „auf deren Terrain und mit deren Mitteln“. Pop-Musik führe also Mitte der Fünfzigerjahre die Möglichkeit der Nonkonformität in eine Kultur ein, deren Darstellungsmittel auf Konformität und Zustimmung angelegt waren. Pop-Musik, so Diederichsen, inszenierte also Individualismen und neue Kollektivismen in Sprachen und Bildern, die der Artikulation von Zustimmung gedient hatten: „Verständliche, rhythmisch markante Lieder.“
Bis hierin ist das schon fein beobachtet und notiert, aber dann wird der Abschnitt auch noch eine fabelhaft präzise Analyse samt einer großartigen Formulierung: Dass die Pop-Musik nämlich Nonkonformität mit konformen Mitteln probiere, werde sie nie ganz los. Im Kern sei sie daher affirmativ, sie sage Ja, obwohl sie doch Nein sagen wolle: „I can’t get no“. Dieses Nein, das für das Publikum als Ja rüberkomme, sei eine große Stärke der Popmusik: „Eine freudige und daher ermutigende, freundliche Verneinung des Bestehenden zugunsten der Umstehenden.“ Dieser dialektische Kern des Formats sei aber auch die große Schwäche, weil eben nur allzu leicht misszuverstehen. Pop als Kraft, die das Gute will, und dann doch das Schlechte nicht mal abschafft.
So dreht und wendet und zerlegt Diederichsen sein Thema höchst instruktiv und ziemlich erschöpfend. Auf 30 Seiten dichte Prolegomena folgen fünf Oberkapitel samt je mindestens zehn Unterkapiteln, die das Phänomen aus fünf unterschiedlichen Perspektiven unter die Lupe nehmen: akteurtheoretisch, zeichentheoretisch, ästhetisch, historisch und schließlich politisch. Mit anderen Worten: Es geht um die Kardinalfragen: Wer ist da am Werk? Was soll das bedeuten? Wo kommt das her? Was hat das mit Kunst zu tun? Und: Was können wir hoffen?
Und wie in jedem großen Grundlagenwerk weiß man nach der Lektüre jedes einzelnen Kapitels natürlich nicht unbedingt eine pointierte Antwort auf die große Frage. Aber man versteht nach Diederichsens Überlegungen zu Sound-Design, Performance und Posen zum Beispiel viel genauer, was es eigentlich heißt, die Frage nach der Semiotik des Pop überhaupt zu stellen. Das ist kein geringer Verdienst. Anders gesagt: „Pop-Musik ist immer so gut wie die Fragen, die zu stellen sie ermöglicht.“
Dass er die Entwicklung der Pop-Musik im emphatischen Sinn vorerst eher an ein Ende gekommen sieht, haben ihm, dem einstigen Subkultur-Apologeten, manche Kritiker zuletzt fast persönlich übel genommen. Es dürfte aber schlicht aus der Beobachtung geschlossen sein, dass das Feld nach fast 60 Jahren doch entwickelt ist. Viele Manöver sind eben schon geprobt. Und auch von Kairo bis Kiew sieht er die Situation zu klar, um von der ungebrochenen politischen Power der Pop zu träumen: Die wirkungsvolle Verbindung von Pop und Politik, so Diederichsen in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift De:Bug, klappe derzeit nicht, weil die Anliegen so fundamental seien, dass Musik viel zu eng wäre: „Es geht politisch im Moment (. . .) um das Gegenteil von Subkultur. Um die Rahmen der Rahmen. Da kann man es nicht gebrauchen, dass etwas so individuell und subjektiv gefärbt ist wie Musik.“
Und was im Übrigen Miley Cyrus betrifft: Die singende Semmel hat seinen Segen. Besonders interessieren tut sie ihn allerdings nicht. Strukturell sei das dasselbe wie Elvis. Er sei eher auf der Suche nach Pop-Musik-Phänomenen, die er nicht verstehe: „Wenn das dann mal passiert, dann ist das natürlich das größte Geschenk, das es gibt. Dann habe ich die nächsten Tage etwas zu tun.“
Diederichsen legt das Buch vor,
das neben die bekannten Künste
eine neue Kunst stellt
Man muss streng und
systematisch trennen zwischen
Pop-Musik und Populärkultur
Strukturell dasselbe wie Elvis . . . Sagt Diedrich Diederichsen über Miley Cyrus, den leitenden weiblichen Popstar unserer Tage.
Foto: Boris Roessler/dpa
Diedrich Diederichsen:
Über Pop-Musik. Verlag
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2014. 474 Seiten,
39,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Revolutionen haben keinen Soundtrack – Diedrich
Diederichsens Magnum Opus „Über Pop-Musik“
VON JENS-CHRISTIAN RABE
Weil der Boulevard das Bild gerade ins Hirn gebrannt hat, muss es damit losgehen: Miley Cyrus, der leitende weibliche Popstar dieser Tage schwebt – mit sehr blondierten kurzen Haaren, einer Art Glamour-Cowgirl-Bikini, Glitzer-Stiefeln und einem knallgelben Langhaar-Flokati-Mantel – über Publikum auf einem riesigen, gesattelten Hot Dog. Zwischen ihren nackten Beinen befindet sich also ein überdimensionales längliches Softbiss-Brötchen und eine gigantische rote Wurst. Ja, ja. Tja.
Ceci n’est pas un hot-dog? Doch, doch oder vielmehr: Es kommt darauf an. Also darauf, ob man zu den Menschen gehört, die hier womöglich einen famosen Zeichenschauer wittern – oder eben zu denen, die nur eine Pop-Sängerin auf einem, nun ja, übergroßen Hot-Dog-Modell sehen. Wer sich zu ersteren zählt, dem sei hiermit das heute erscheinende Buch „Über Pop-Musik“ des berühmtesten und berüchtigsten deutschen Poptheoretikers Diedrich Diederichsen ohne Umwege empfohlen. Es gibt jetzt ein Nachdenken über Pop-Musik vor und ein Nachdenken über Pop-Musik nach diesem Buch. Wahrscheinlich muss man es noch allgemeiner fassen: Wer in Zukunft über Pop-Kultur nachdenken oder auch einfach nur wissen will, was in der lauten Welt da draußen, der wir alle nicht wirklich entkommen können, eigentlich los ist, der sollte dieses Buch gut kennen.
Wer sich zu den abgekochteren Beobachtern von Miley Cyrus rechnet, der dürfte es mit dem Buch, obwohl es im Vergleich zu anderen Werken dieses Autors ungleich fokussierter geschrieben und thematisch wohlgeordnet ist, schwerer haben. Also so schwer wie mit den allermeisten der Tausenden von Artikeln, Rezensionen, Aufsätzen und Büchern, die es von diesem Autor zur Pop-Musik seit Ende der Siebziger Jahre gibt. Der Grund dafür ist einfach, aber er hat noch gar nichts damit zu tun, dass Diederichsen nicht immer von jedem gleich verstanden werden wollte (wegen seiner Qualitäten als Kryptologe wird er ebenso leidenschaftlich verehrt wie geringgeschätzt, aber dazu später noch ein Wort).
Was „Über Pop-Musik“ für die meisten vielmehr zu schwerer Kost machen dürfte, ist die Tatsache, dass es trotz allem – trotz der vielen Pop-Professuren auf der ganzen Welt, trotz einer akribischen Popkritik, trotz Autoren und Denkern wie Nik Cohn, Lester Bangs, Greil Marcus, Jon Savage, Simon Frith oder eben Diedrich Diederichsen – noch immer keine Selbstverständlichkeit ist, über Popmusik tatsächlich so ernsthaft, anspruchsvoll und voraussetzungsreich nachzudenken.
Genau genommen ist diese Art des Nachdenkens bei älteren Künsten zwar auch kaum verbreiteter. Man ist sich nur über deren intellektuelle Satisfaktionsfähigkeit einiger. Allerdings stillschweigend und deshalb nicht immer aus den richtigen Gründen. Abgesehen davon, sind Literatur, Klassische Musik, Bildende Kunst natürlich ein paar Jahre älter als Popmusik, weshalb entscheidende diskursive Grundlagen schon ein paar Jahre länger gelegt sind.
Man muss an dieser Stelle so grundsätzlich werden, weil nun Diedrich Diederichsen mit „Über Pop-Musik“ eben genau das getan hat, er ist grundsätzlich geworden: Er hat das Buch vorgelegt, das neben die bekannten Künste eine neue Kunst stellt. Und zwar nicht einfach nur als freche, popistische Behauptung (solchen Manövern verdankt der frühe Diederichsen seinen Ruhm), sondern als akribische Argumentation, die begründungstheoretisch eigentlich keine Wünsche offen lässt. Wie oft passiert so etwas schon? Eigentlich nie.
Dass „Über Pop-Musik“ übrigens gerade auf der Short-List für einen der beiden wichtigsten deutschen Sachbuch-Preise, den Preis der Leipziger Buchmesse, steht, ist deshalb mehr als verdient. Manch andere der jüngsten großen Geschichten des Pop, eben erschien etwa „Yeah Yeah Yeah – The Story of Modern Pop“ des britischen Musikers Bob Stanley oder Karl Bruckmaiers „The Story of Pop“, sind näher an der Gegenwart, andere beherzter erzählt, besser geschrieben. Diederichsens Buch ist jedoch nicht einfach nur SEIN Opus Magnum es ist wirklich EIN Opus Magnum. Ein echtes ideengeschichtliches Ereignis.
Was aber heißt all das genau?
Es heißt zunächst, dass Diederichsen „Pop-Musik“ zwar emphatisch versteht, als etwas, mit dem Menschen für sie existenziell Wichtiges verbinden, aber eben NICHT in erster Linie als Musik, schon gar nicht als minderwertig gegenüber kompositorisch aufwendigeren Musiken. Pop-Musik sei eben „kein Spezialfall aus dem größeren Gegenstandsbereich Musik“. Pop-Musik sei sogar nicht bloß „sehr viel mehr als Musik“. Pop-Musik sei „eine andere Sorte Gegenstand“.
Und zwar einer, der ungefähr seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachten sei und dessen Teile – anders etwa als beim Film – kein zentrales Medium verbinde: Den notwendigen Zusammenhang, der das Phänomen Pop-Musik dann erst ist, den Zusammenhang zwischen (meist populärer) Musik, Bildern, Performances, Texten, Performern, Posen, Stars, zwischen Fernsehausstrahlung, Schallplatte, Radioprogramm, Live-Konzert, Körperhaltung, Mode, Haaren, Make-up und der Intimität von Kinder- und Schlafzimmer – diesen Zusammenhang stifteten „die Hörer, die Fans, die Kunden von Pop-Musik“ selbst: „Der Witz des kulturindustriellen und künstlerischen Formats Pop-Musik ist, dass es von allen Beteiligten immer wieder aktiv zusammengesetzt werden muss.“
Diese Perspektive ermöglicht dann auch eine systematische Trennung der Pop-Musik vom „Populären“ oder der „Populärkultur“ einerseits und der „Pop-Kultur“ andererseits, die in dieser Strenge auch ein gutes Beispiel für die tiefe und eindrucksvoll sensible und originelle Durchdringung des Gegenstandes in diesem Buch ist: Pop-Kultur etwa finde sich dort, wo andere kulturelle Formate – „in den letzten 20 Jahren deutlich zunehmend“ – sich nach den Spielregeln der Pop-Musik als Zusammenhänge reorganisieren, die nicht an einem festen Produktionsort (dem genialen oder wenigstens kundigen Künstler), sondern eben erst in der Rezeption wieder zusammengebaut werden. Man darf da wohl etwa an den Starkult in der Klassischen Musik denken oder daran, wie heute moderne Kino-Blockbuster lanciert werden. Man darf nur daran denken, weil im Buch leider notorisch Mangel an Beispielen herrscht, was bei theoretischen Versuchen dieses Ausmaßes freilich eher die Regel als eine Ausnahme ist.
Das Populäre wiederum ist Diederichsen dabei ganz schlicht das, was wirklich alle angehe. Pop-Musik dagegen – anders als Elite und Hochkultur – trenne sich von der populären Kultur „auf deren Terrain und mit deren Mitteln“. Pop-Musik führe also Mitte der Fünfzigerjahre die Möglichkeit der Nonkonformität in eine Kultur ein, deren Darstellungsmittel auf Konformität und Zustimmung angelegt waren. Pop-Musik, so Diederichsen, inszenierte also Individualismen und neue Kollektivismen in Sprachen und Bildern, die der Artikulation von Zustimmung gedient hatten: „Verständliche, rhythmisch markante Lieder.“
Bis hierin ist das schon fein beobachtet und notiert, aber dann wird der Abschnitt auch noch eine fabelhaft präzise Analyse samt einer großartigen Formulierung: Dass die Pop-Musik nämlich Nonkonformität mit konformen Mitteln probiere, werde sie nie ganz los. Im Kern sei sie daher affirmativ, sie sage Ja, obwohl sie doch Nein sagen wolle: „I can’t get no“. Dieses Nein, das für das Publikum als Ja rüberkomme, sei eine große Stärke der Popmusik: „Eine freudige und daher ermutigende, freundliche Verneinung des Bestehenden zugunsten der Umstehenden.“ Dieser dialektische Kern des Formats sei aber auch die große Schwäche, weil eben nur allzu leicht misszuverstehen. Pop als Kraft, die das Gute will, und dann doch das Schlechte nicht mal abschafft.
So dreht und wendet und zerlegt Diederichsen sein Thema höchst instruktiv und ziemlich erschöpfend. Auf 30 Seiten dichte Prolegomena folgen fünf Oberkapitel samt je mindestens zehn Unterkapiteln, die das Phänomen aus fünf unterschiedlichen Perspektiven unter die Lupe nehmen: akteurtheoretisch, zeichentheoretisch, ästhetisch, historisch und schließlich politisch. Mit anderen Worten: Es geht um die Kardinalfragen: Wer ist da am Werk? Was soll das bedeuten? Wo kommt das her? Was hat das mit Kunst zu tun? Und: Was können wir hoffen?
Und wie in jedem großen Grundlagenwerk weiß man nach der Lektüre jedes einzelnen Kapitels natürlich nicht unbedingt eine pointierte Antwort auf die große Frage. Aber man versteht nach Diederichsens Überlegungen zu Sound-Design, Performance und Posen zum Beispiel viel genauer, was es eigentlich heißt, die Frage nach der Semiotik des Pop überhaupt zu stellen. Das ist kein geringer Verdienst. Anders gesagt: „Pop-Musik ist immer so gut wie die Fragen, die zu stellen sie ermöglicht.“
Dass er die Entwicklung der Pop-Musik im emphatischen Sinn vorerst eher an ein Ende gekommen sieht, haben ihm, dem einstigen Subkultur-Apologeten, manche Kritiker zuletzt fast persönlich übel genommen. Es dürfte aber schlicht aus der Beobachtung geschlossen sein, dass das Feld nach fast 60 Jahren doch entwickelt ist. Viele Manöver sind eben schon geprobt. Und auch von Kairo bis Kiew sieht er die Situation zu klar, um von der ungebrochenen politischen Power der Pop zu träumen: Die wirkungsvolle Verbindung von Pop und Politik, so Diederichsen in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift De:Bug, klappe derzeit nicht, weil die Anliegen so fundamental seien, dass Musik viel zu eng wäre: „Es geht politisch im Moment (. . .) um das Gegenteil von Subkultur. Um die Rahmen der Rahmen. Da kann man es nicht gebrauchen, dass etwas so individuell und subjektiv gefärbt ist wie Musik.“
Und was im Übrigen Miley Cyrus betrifft: Die singende Semmel hat seinen Segen. Besonders interessieren tut sie ihn allerdings nicht. Strukturell sei das dasselbe wie Elvis. Er sei eher auf der Suche nach Pop-Musik-Phänomenen, die er nicht verstehe: „Wenn das dann mal passiert, dann ist das natürlich das größte Geschenk, das es gibt. Dann habe ich die nächsten Tage etwas zu tun.“
Diederichsen legt das Buch vor,
das neben die bekannten Künste
eine neue Kunst stellt
Man muss streng und
systematisch trennen zwischen
Pop-Musik und Populärkultur
Strukturell dasselbe wie Elvis . . . Sagt Diedrich Diederichsen über Miley Cyrus, den leitenden weiblichen Popstar unserer Tage.
Foto: Boris Roessler/dpa
Diedrich Diederichsen:
Über Pop-Musik. Verlag
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2014. 474 Seiten,
39,99 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2014Because I'm happy
Was ist Pop, und was macht er mit uns? Diedrich Diederichsen, der klügste und inspirierteste Kritiker, beschreibt das große Ganze
Das Glück, liebe Freunde der elektrischen Ekstasen und der speicherbaren Euphorie, das Vierminutenglück, das uns hoffentlich erfasst, wenn wir die Taste "Play" drücken und unser liebster Popsong in der angemessenen Lautstärke läuft, das Glück, welches die beiden erfolgreichsten Popsongs der vergehenden Saison, "Happy" und "Get Lucky!", schon im Titel versprachen (beziehungsweise: befahlen), dieses Glück kommt natürlich auch zur Sprache in diesem Buch - und zwar genau ein Mal, auf Seite 327, siebte Zeile von unten. Sonst geht es aber weniger ums Glück und auch nicht um die anderen starken Gefühle - es geht in diesem dicken Buch von Diedrich Diederichsen, das "Über Pop-Musik" heißt, noch nicht mal so sehr um die Musik. Es sind viel mehr die Zeichen und die Bedeutungen, es sind die Signifikanten, die den Stil und den Tonfall dieses Buchs bestimmen.
Was natürlich so manchen Leser (und Rezensenten) nervt - die Kälte der Gedanken scheint, auf den ersten Blick jedenfalls, der hohen emotionalen Temperatur des Gegenstands nicht angemessen zu sein. Aber wer die Produktionsbedingungen des Popmusikglücks untersuchen will, darf das Ergebnis nicht schon voraussetzen. Und wer die starken Gefühle nur beschwört und als gegeben hinnimmt, begibt sich immer in die Gefahr, dass er, ohne es zu merken, mit seiner tollen Soundfile ein paar Megabytes an Ideologie gleich mitgeliefert bekommt.
Ohnehin schreibt Diederichsen, der gern Mash-ups aus akademischen Begriffen, dem Fachjargon der Spezialisten und herrlich plastischer Alltagssprache herstellt (noch im allersachlichsten Zusammenhang nennt er Eric Clapton grundsätzlich einen Knallkopf), einen Stil, der manchmal auch die Signifikanten zum Tanzen bringt. Man muss halt auch hier das tun, wovon noch ausführlicher die Rede sein wird: ein bisschen Arbeit investieren, bis man den Rhythmus und vielleicht auch das Glück in dieser Sprache spürt.
Es geht in diesem Buch nicht so sehr darum, herauszufinden, was Pop-Musik eigentlich sei. Es geht darum, wie sie funktioniert. Und dass von der Musik selbst erst einmal wenig zu hören ist, liegt daran, dass Diederichsen semiotische Prozesse untersucht, die, wenn er recht hat, eigentlich immer in Gang kommen - ganz egal, ob leise klagende Mädchen zur akustischen Gitarre sanfte Melodien flüstern oder die Schreihälse der Schwermetallmusik die Verstärker bis zum Anschlag aufdrehen. Es geht also um den Fan mindestens genauso wie um den Musiker, und es geht um die Frage, was außer den Trommelfellen noch in Bewegung gerät, wenn so ein Popsong beginnt.
Die kleinste Einheit der Pop-Musik, sagt Diederichsen, sei nicht der Akkord, der Takt, der einzelne Ton. Die kleinste Einheit sei die Pose - und da verschmelzen schon die Rollen des Musikers und des Fans. Der Impuls, in einer Band zu spielen, komme nicht von besonderer Musikalität, sondern beginne mit dem Blick in den Spiegel, in welchem der künftige Sänger oder Bassist sich in der Popstarpose gefalle. Der Impuls, zum Fan zu werden, komme ganz genau so: Erst wenn auch der Hörer posieren kann, erst wenn er ein ganzes Set von Bildern, Posen, Haltungen mitgeliefert bekommt, ereignet sich das, was Diederichsen Pop-Musik nennt. Damit zur Stimme auch der Körper kam, brauchte die Pop-Musik erst das Kino, dann das Fernsehen, Videoclips, all das, was jetzt zum kostenlosen Gebrauch auf Youtube, zum Beispiel, herumsteht.
Man könnte dem entgegenhalten, dass die Bilder und die Haltungen wichtig, aber nicht unentbehrlich sind: Musik zu hören geht auch ohne sie. Wogegen einem Popstar seine ganzen Posen auch nicht weiterhelfen, wenn er auf einen Hörer trifft, der die entsprechende Musik verabscheut. Aber wenn man sich, je nach Alter, an die entscheidenden Momente der eigenen musikalischen Biographie zu erinnern versucht, dann offenbart sich, dass Diederichsen trotzdem recht hat. Erst war da, nur zum Beispiel, ein Hass auf Hippies und deren Sound, eine Sehnsucht nach Provokation, eine Vorfreude auf einen neuen Look, eine Begeisterung für die modernistischen Plattencover. Und dann legte man Nine Nine Nine auf, hörte nichts als schnellen, grellen Lärm. Und musste sich das Glück hart erarbeiten; es stellte sich frühestens beim fünften oder sechsten konzentrierten Hören ein. Was dann, obwohl dieser Impuls nicht aus der Musik kommt, bei einer Beethoven-Symphonie genauso funktioniert. Erst entscheidet man sich, sie verstehen zu wollen. Und dann erarbeitet man sich das Glück des Hörens.
Wobei Diederichsen dieses Glück nicht leugnen und nicht wegdiskutieren will; es geht ihm aber um etwas, das größer und zugleich kleiner ist. Wenn man es sich leichtmachen wollte, dann könnte man die Dialektik der Pop-Musik, das Schillern zwischen Aufruhr und Totalversöhnung, zwischen Weckruf und Betäubungsdroge, zwischen Konsum und Kritik so auflösen: Die Musik ist die Artikulation eines Schmerzes. Und dessen Linderung für die Dauer eines Songs. Sie ist das Glücksversprechen. Und dessen kurze, heftige Erfüllung. "It's more than we could bear / but you don't really care", sangen Nine Nine Nine in "Emergency", einem Song, der naturgemäß extrem gute Laune brachte.
Diederichsen macht es sich aber nicht leicht. Er führt alle Pop-Musik auf den Jazz und den Blues zurück, auf die musikalischen Artikulationen der enteigneten und entrechteten schwarzen Amerikaner - und das bestimmt seinen Blick noch auf die billigste und trashigste Pop-Musik: Sie braucht, wie Diederichsen sie untersucht, immer ein Gegenüber und am besten: einen Gegner. Pop-Musik ist Behauptung und Selbstermächtigung, Standortbestimmung und Sinnstiftungsmaschine für Teenager in der Erwachsenenwelt, für Schwarze in der von Weißen dominierten Gesellschaft, für Homosexuelle in heterosexuell geprägten Gesamtzusammenhängen.
Wie das einst funktionierte, daran werden sich die Älteren vielleicht noch erinnern: ans Entsetzen altgewordener Progressive-Rock-Hörer, die in den neunziger Jahren die ganze Techno-Bewegung, diese scheinbar bedeutungslosen Maschinenklänge, die Friede-den-Eierkuchen-Parolen der Love Parade und die Selbstunterwerfung freier Menschen unter die Gewalt der Bässe nicht fassen konnten. Und den Jungen empfahlen, gefälligst wieder rebellisch zu sein.
Dieses Gegenüber ist der Pop-Musik aber, genau in dem Zeitraum, in welchem zum Beispiel Diedrich Diederichsen vom 24-Jährigen Chefredakteur der Zeitschrift "Sounds" zum 56-jährigen Professor für Gegenwartskunst wurde, aber immer Pop-Musik-Hörer blieb, leider abhandengekommen. Das Gegenüber ist nicht mehr der Spießer, der alte Sack, der Repräsentant des sogenannten Schweinesystems. Das Gegenüber hört einfach nur andere Pop-Musik und lässt sich auch von radikalem Lärm, akustischer Gewalt oder expliziten Raps nicht erschrecken. Kenne ich schon, sagt dann der 55-jährige Plattensammlungsbesitzer, ich lege gleich mal "Practice Makes Perfect" von Wire auf, damit haben wir in unserer Jugend die Alten erschreckt. Und wenn wir schon dabei sind: Kennt ihr Grünschnäbel Ornette Coleman?
Und so handelt sich Diederichsen, der vom großen Ganzen der Pop-Musik sprechen will, mit seinem Gegenstand das Problem ein, welches der Philosoph Markus Gabriel mit der Welt hat. Es gibt, sagt Gabriel, eigentlich alles, je nachdem, wie man den Gegenstandsbereich definiert, es gibt Staaten, Außerirdische, Algorithmen, Weißwürste und Kunstakademien. Nur die Welt gibt es nicht, weil man sich keinen Gegenstandsbereich vorstellen kann, in welchem man die Welt gegen die Nicht-Welt abgrenzen könnte.
Wenn aber alles Pop-Musik wäre, müsste man sich verabschieden von diesem Begriff - den Diederichsen zu retten versucht, indem er ein Außen konstruiert, welches er Musikmusik nennt. In seinem schönsten Kapitel, einer wunderbar spekulativen und unakademischen Passage, rekonstruiert Diederichsen die Entstehung des Jazz aus dem Artikulationsbedürfnis jener Abkömmlinge der amerikanischen Sklaven, denen man alles genommen hatte, selbst die eigene Sprache und Tradition. Kein Akkord, kein Takt, kein musikalisches Thema gehörte ihnen wirklich. Alles war geliehen, zum schnellen und flüchtigen Gebrauch, jede Improvisation war auch dazu gut, die widerrechtliche Aneignung musikalischen Eigentums zu verschleiern. Diese Praxis, in welcher die notorischen Blue Notes und Synkopen eben nicht Seelenzustände, sondern Besitzverhältnisse reflektieren, verbindet sich mit der neuen Technik, die all das Flüchtige aber elektrisch festhalten und speichern kann - und so entsteht jene ganz andere musikalische Tradition, der Pop, den Diederichsen der guten alten europäischen Musikmusik gegenüberstellt.
Man kann die Geschichte aber auch andersherum betrachten. Man kann sich vorstellen, dass jene musikalische Tradition, die Monteverdi, Mozart und den Wiener Walzer hervorgebracht hat, sich unter dem Einfluss neuer Musiker, neuer Produktionstechniken und eines entsprechend riesig gewordenen Publikums in die Richtung entwickelt, in welcher dann Cole Porter und Charlie Parker, Burt Bacharach und Isaac Hayes, Giorgio Moroder und Jay-Z das weitermachen, was Mozart angefangen hat. Die von Diedrich Diederichsen so genannte Musikmusik, also die Klänge, die man auf seiner liebsten Stockhausen-Platte oder bei den Donaueschinger Musiktagen hören kann, wären in diesem Zusammenhang weniger die Fortsetzung der klassischen Tradition. Vielmehr wären sie die trotzige, elitäre Reaktion auf die Pop-Musik - gewissermaßen der Nicht-Pop als Funktion und Abspaltung einer Pop-Musik, die kein Außen mehr kennen will.
Beethoven oder Schubert stünden dann als Nicht-nicht-Pop genauso zur Verfügung wie die Beatles oder die Supremes, was ja genau die Praxis all jener ist, die sich an fünfzig Jahren Pop ein wenig sattgehört haben. Pop wäre dann gar keine Musik, nur eine zeitgemäße Art der Rezeption.
Das ist das Wunderbare bei Diederichsen. Es ist ein Vergnügen, ihm zu folgen. Und es ist ein Vergnügen, ihm zu widersprechen. We've come too far, to give up who we are. Man muss es lesen: Get lucky!
CLAUDIUS SEIDL
Diedrich Diederichsen: "Über Pop-Musik". Kiepenheuer & Witsch, 474 Seiten, 39,99 Euro
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Was ist Pop, und was macht er mit uns? Diedrich Diederichsen, der klügste und inspirierteste Kritiker, beschreibt das große Ganze
Das Glück, liebe Freunde der elektrischen Ekstasen und der speicherbaren Euphorie, das Vierminutenglück, das uns hoffentlich erfasst, wenn wir die Taste "Play" drücken und unser liebster Popsong in der angemessenen Lautstärke läuft, das Glück, welches die beiden erfolgreichsten Popsongs der vergehenden Saison, "Happy" und "Get Lucky!", schon im Titel versprachen (beziehungsweise: befahlen), dieses Glück kommt natürlich auch zur Sprache in diesem Buch - und zwar genau ein Mal, auf Seite 327, siebte Zeile von unten. Sonst geht es aber weniger ums Glück und auch nicht um die anderen starken Gefühle - es geht in diesem dicken Buch von Diedrich Diederichsen, das "Über Pop-Musik" heißt, noch nicht mal so sehr um die Musik. Es sind viel mehr die Zeichen und die Bedeutungen, es sind die Signifikanten, die den Stil und den Tonfall dieses Buchs bestimmen.
Was natürlich so manchen Leser (und Rezensenten) nervt - die Kälte der Gedanken scheint, auf den ersten Blick jedenfalls, der hohen emotionalen Temperatur des Gegenstands nicht angemessen zu sein. Aber wer die Produktionsbedingungen des Popmusikglücks untersuchen will, darf das Ergebnis nicht schon voraussetzen. Und wer die starken Gefühle nur beschwört und als gegeben hinnimmt, begibt sich immer in die Gefahr, dass er, ohne es zu merken, mit seiner tollen Soundfile ein paar Megabytes an Ideologie gleich mitgeliefert bekommt.
Ohnehin schreibt Diederichsen, der gern Mash-ups aus akademischen Begriffen, dem Fachjargon der Spezialisten und herrlich plastischer Alltagssprache herstellt (noch im allersachlichsten Zusammenhang nennt er Eric Clapton grundsätzlich einen Knallkopf), einen Stil, der manchmal auch die Signifikanten zum Tanzen bringt. Man muss halt auch hier das tun, wovon noch ausführlicher die Rede sein wird: ein bisschen Arbeit investieren, bis man den Rhythmus und vielleicht auch das Glück in dieser Sprache spürt.
Es geht in diesem Buch nicht so sehr darum, herauszufinden, was Pop-Musik eigentlich sei. Es geht darum, wie sie funktioniert. Und dass von der Musik selbst erst einmal wenig zu hören ist, liegt daran, dass Diederichsen semiotische Prozesse untersucht, die, wenn er recht hat, eigentlich immer in Gang kommen - ganz egal, ob leise klagende Mädchen zur akustischen Gitarre sanfte Melodien flüstern oder die Schreihälse der Schwermetallmusik die Verstärker bis zum Anschlag aufdrehen. Es geht also um den Fan mindestens genauso wie um den Musiker, und es geht um die Frage, was außer den Trommelfellen noch in Bewegung gerät, wenn so ein Popsong beginnt.
Die kleinste Einheit der Pop-Musik, sagt Diederichsen, sei nicht der Akkord, der Takt, der einzelne Ton. Die kleinste Einheit sei die Pose - und da verschmelzen schon die Rollen des Musikers und des Fans. Der Impuls, in einer Band zu spielen, komme nicht von besonderer Musikalität, sondern beginne mit dem Blick in den Spiegel, in welchem der künftige Sänger oder Bassist sich in der Popstarpose gefalle. Der Impuls, zum Fan zu werden, komme ganz genau so: Erst wenn auch der Hörer posieren kann, erst wenn er ein ganzes Set von Bildern, Posen, Haltungen mitgeliefert bekommt, ereignet sich das, was Diederichsen Pop-Musik nennt. Damit zur Stimme auch der Körper kam, brauchte die Pop-Musik erst das Kino, dann das Fernsehen, Videoclips, all das, was jetzt zum kostenlosen Gebrauch auf Youtube, zum Beispiel, herumsteht.
Man könnte dem entgegenhalten, dass die Bilder und die Haltungen wichtig, aber nicht unentbehrlich sind: Musik zu hören geht auch ohne sie. Wogegen einem Popstar seine ganzen Posen auch nicht weiterhelfen, wenn er auf einen Hörer trifft, der die entsprechende Musik verabscheut. Aber wenn man sich, je nach Alter, an die entscheidenden Momente der eigenen musikalischen Biographie zu erinnern versucht, dann offenbart sich, dass Diederichsen trotzdem recht hat. Erst war da, nur zum Beispiel, ein Hass auf Hippies und deren Sound, eine Sehnsucht nach Provokation, eine Vorfreude auf einen neuen Look, eine Begeisterung für die modernistischen Plattencover. Und dann legte man Nine Nine Nine auf, hörte nichts als schnellen, grellen Lärm. Und musste sich das Glück hart erarbeiten; es stellte sich frühestens beim fünften oder sechsten konzentrierten Hören ein. Was dann, obwohl dieser Impuls nicht aus der Musik kommt, bei einer Beethoven-Symphonie genauso funktioniert. Erst entscheidet man sich, sie verstehen zu wollen. Und dann erarbeitet man sich das Glück des Hörens.
Wobei Diederichsen dieses Glück nicht leugnen und nicht wegdiskutieren will; es geht ihm aber um etwas, das größer und zugleich kleiner ist. Wenn man es sich leichtmachen wollte, dann könnte man die Dialektik der Pop-Musik, das Schillern zwischen Aufruhr und Totalversöhnung, zwischen Weckruf und Betäubungsdroge, zwischen Konsum und Kritik so auflösen: Die Musik ist die Artikulation eines Schmerzes. Und dessen Linderung für die Dauer eines Songs. Sie ist das Glücksversprechen. Und dessen kurze, heftige Erfüllung. "It's more than we could bear / but you don't really care", sangen Nine Nine Nine in "Emergency", einem Song, der naturgemäß extrem gute Laune brachte.
Diederichsen macht es sich aber nicht leicht. Er führt alle Pop-Musik auf den Jazz und den Blues zurück, auf die musikalischen Artikulationen der enteigneten und entrechteten schwarzen Amerikaner - und das bestimmt seinen Blick noch auf die billigste und trashigste Pop-Musik: Sie braucht, wie Diederichsen sie untersucht, immer ein Gegenüber und am besten: einen Gegner. Pop-Musik ist Behauptung und Selbstermächtigung, Standortbestimmung und Sinnstiftungsmaschine für Teenager in der Erwachsenenwelt, für Schwarze in der von Weißen dominierten Gesellschaft, für Homosexuelle in heterosexuell geprägten Gesamtzusammenhängen.
Wie das einst funktionierte, daran werden sich die Älteren vielleicht noch erinnern: ans Entsetzen altgewordener Progressive-Rock-Hörer, die in den neunziger Jahren die ganze Techno-Bewegung, diese scheinbar bedeutungslosen Maschinenklänge, die Friede-den-Eierkuchen-Parolen der Love Parade und die Selbstunterwerfung freier Menschen unter die Gewalt der Bässe nicht fassen konnten. Und den Jungen empfahlen, gefälligst wieder rebellisch zu sein.
Dieses Gegenüber ist der Pop-Musik aber, genau in dem Zeitraum, in welchem zum Beispiel Diedrich Diederichsen vom 24-Jährigen Chefredakteur der Zeitschrift "Sounds" zum 56-jährigen Professor für Gegenwartskunst wurde, aber immer Pop-Musik-Hörer blieb, leider abhandengekommen. Das Gegenüber ist nicht mehr der Spießer, der alte Sack, der Repräsentant des sogenannten Schweinesystems. Das Gegenüber hört einfach nur andere Pop-Musik und lässt sich auch von radikalem Lärm, akustischer Gewalt oder expliziten Raps nicht erschrecken. Kenne ich schon, sagt dann der 55-jährige Plattensammlungsbesitzer, ich lege gleich mal "Practice Makes Perfect" von Wire auf, damit haben wir in unserer Jugend die Alten erschreckt. Und wenn wir schon dabei sind: Kennt ihr Grünschnäbel Ornette Coleman?
Und so handelt sich Diederichsen, der vom großen Ganzen der Pop-Musik sprechen will, mit seinem Gegenstand das Problem ein, welches der Philosoph Markus Gabriel mit der Welt hat. Es gibt, sagt Gabriel, eigentlich alles, je nachdem, wie man den Gegenstandsbereich definiert, es gibt Staaten, Außerirdische, Algorithmen, Weißwürste und Kunstakademien. Nur die Welt gibt es nicht, weil man sich keinen Gegenstandsbereich vorstellen kann, in welchem man die Welt gegen die Nicht-Welt abgrenzen könnte.
Wenn aber alles Pop-Musik wäre, müsste man sich verabschieden von diesem Begriff - den Diederichsen zu retten versucht, indem er ein Außen konstruiert, welches er Musikmusik nennt. In seinem schönsten Kapitel, einer wunderbar spekulativen und unakademischen Passage, rekonstruiert Diederichsen die Entstehung des Jazz aus dem Artikulationsbedürfnis jener Abkömmlinge der amerikanischen Sklaven, denen man alles genommen hatte, selbst die eigene Sprache und Tradition. Kein Akkord, kein Takt, kein musikalisches Thema gehörte ihnen wirklich. Alles war geliehen, zum schnellen und flüchtigen Gebrauch, jede Improvisation war auch dazu gut, die widerrechtliche Aneignung musikalischen Eigentums zu verschleiern. Diese Praxis, in welcher die notorischen Blue Notes und Synkopen eben nicht Seelenzustände, sondern Besitzverhältnisse reflektieren, verbindet sich mit der neuen Technik, die all das Flüchtige aber elektrisch festhalten und speichern kann - und so entsteht jene ganz andere musikalische Tradition, der Pop, den Diederichsen der guten alten europäischen Musikmusik gegenüberstellt.
Man kann die Geschichte aber auch andersherum betrachten. Man kann sich vorstellen, dass jene musikalische Tradition, die Monteverdi, Mozart und den Wiener Walzer hervorgebracht hat, sich unter dem Einfluss neuer Musiker, neuer Produktionstechniken und eines entsprechend riesig gewordenen Publikums in die Richtung entwickelt, in welcher dann Cole Porter und Charlie Parker, Burt Bacharach und Isaac Hayes, Giorgio Moroder und Jay-Z das weitermachen, was Mozart angefangen hat. Die von Diedrich Diederichsen so genannte Musikmusik, also die Klänge, die man auf seiner liebsten Stockhausen-Platte oder bei den Donaueschinger Musiktagen hören kann, wären in diesem Zusammenhang weniger die Fortsetzung der klassischen Tradition. Vielmehr wären sie die trotzige, elitäre Reaktion auf die Pop-Musik - gewissermaßen der Nicht-Pop als Funktion und Abspaltung einer Pop-Musik, die kein Außen mehr kennen will.
Beethoven oder Schubert stünden dann als Nicht-nicht-Pop genauso zur Verfügung wie die Beatles oder die Supremes, was ja genau die Praxis all jener ist, die sich an fünfzig Jahren Pop ein wenig sattgehört haben. Pop wäre dann gar keine Musik, nur eine zeitgemäße Art der Rezeption.
Das ist das Wunderbare bei Diederichsen. Es ist ein Vergnügen, ihm zu folgen. Und es ist ein Vergnügen, ihm zu widersprechen. We've come too far, to give up who we are. Man muss es lesen: Get lucky!
CLAUDIUS SEIDL
Diedrich Diederichsen: "Über Pop-Musik". Kiepenheuer & Witsch, 474 Seiten, 39,99 Euro
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»Das Musikbuch des Jahres.« Der Tagesspiegel 20141206