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Für die Rechtstheoretikerin Ingeborg Maus gibt es Demokratie nur in einem parlamentarischen System: Den Einfluss höchster Gerichte lehnt sie ab.
Radikale Demokratietheorie hat es in einem Land, in dem die Angst vor dem Parlamentsabsolutismus älter ist als der Parlamentarismus selbst, nicht leicht. Die Republikaner, die Rousseauisten, die Jakobiner - in Deutschland haben sie kaum eine Rolle gespielt. Bis heute fällt das Wort Demokratie selten, ohne durch die Nennung von Institutionen oder Kategorien, die diese in ihre Grenzen weisen sollen, beruhigend ergänzt zu werden: vom Sozialstaat bis zur Verfassungsgerichtsbarkeit, von der Werteordnung bis zur vernünftigen Deliberation. Die Einsicht darin, dass jede demokratische Gemeinschaft auf sich selbst zurückgeworfen ist, selbst wenn sie Grenzen des Demokratischen bestimmen will, mag andere Völker mit Pathos erfüllen, hierzulande herrscht eher das Gefühl normativer Obdachlosigkeit.
Nicht so bei Ingeborg Maus, deren Projekt einer Theorie der Volkssouveränität, die diesen Namen verdient, bis heute folgerichtig einsam in der deutschen Theorielandschaft steht. Der vorliegende Band sammelt Beiträge der emeritierten Frankfurter Professorin aus den Jahren 1991 bis 2009, die den Begriff der Volkssouveränität entwickeln, theoretisch wie institutionell abgleichen und auf Strukturen nationaler und internationaler Politik anwenden. Volkssouveränität besteht für Maus in der Herrschaft des demokratischen Gesetzes, aus dem allein sich die Grundlagen staatlicher Herrschaft ableiten können. Kant und Rousseau, die theoretischen Kronzeugen der vorliegenden Beiträge, lassen sich nicht gegeneinander ausspielen: Für beide ist in der Mausschen Lesart das Gesetz Grund und Grenze jeder politisch legitimen Entscheidung - auch der Ausgestaltung subjektiver Rechte.
Verwaltungen und Gerichte an diese Gesetze strikt zu binden ist die einzige Möglichkeit, eine akzeptable demokratische Ordnung zu institutionalisieren. Mit einer so konsequent gesetzeszentrierten Lesart der Demokratietheorie werden die institutionellen Variationsmöglichkeiten einer demokratischen politischen Ordnung freilich knapp. Für Maus kann es Demokratie konsequent nur in einem parlamentarischen System geben. In Präsidialordnungen können sich Präsident und Parlament wechselseitig blockieren. Verfassungsgerichte erscheinen Maus dagegen als zweifelhafte Form einer juridischen Expertokratie, die dem Gesetzgeber die ihm zustehende Verfassungsinterpretation aus der Hand nimmt.
Gegen eine abweichende Kant-Lesart verteidigt Maus den politischen Status des Gesetzesbegriffs. Das demokratische Gesetz lässt sich nicht durch ein verallgemeinerndes Gedankenexperiment eines philosophisch aufgeklärten Absolutisten bestimmen, es bedarf vielmehr eines die Allgemeinheit repräsentierenden parlamentarischen Verfahrens. Ob diese Deutung nun Kant gerecht wird oder nicht - das Problem der Mausschen Analysen besteht darin, dass sie mit dieser Feststellung die Tür zu einer konkreten institutionellen Perspektive zunächst öffnet, um sie zugleich wieder zu schließen. Anders formuliert: Maus wendet trotz der Forderung nach einem politischen Gesetzesbegriff letztlich einen philosophischen an. Nur so ist zu erklären, dass ihre eigenen institutionellen Voraussetzungen kaum weiter begründet werden: Was eigentlich genau in einem Parlament geschieht, das es rechtfertigen könnte, ihm diese zentrale legitimatorische Position einzuräumen, bleibt ebenso unerörtert wie die Rolle politischer Parteien in ihrem Modell der Gesetzesherrschaft. Wie es kommt, dass es Parlamenten häufig schwerfällt, Gesetze zu formulieren, die Verwaltung und Gerichte maßstäblich binden können, wird gleichfalls nicht diskutiert. Es gehört zweifellos zu den Stärken der Mausschen Theorie, sich nicht auf verbreitete, aber selten kontrolliert verwendete normative oder faktische Relativierungen von Selbstbestimmungsstandards einzulassen. "Gesellschaftliche Komplexität" - die denkfaule Ausrede vieler Politikwissenschaftler ist für Maus ein politisch zu lösendes Problem, aber eben keine Ausrede für expertokratische Strukturen.
Eine so strenge axiomatische Fundierung gestattet es Maus, scharfsinnige Analysen der demokratietheoretischen Entwürfe von Kant und Fichte bis zu Rawls und Habermas vorzulegen, in denen sie das Potential zu modernem Philosophenkönigtum selbst bei einem Verfasser wie Rawls überzeugend freizulegen weiß. Trotzdem enthebt ihre gedankliche Konsequenz sie nicht von der Notwendigkeit, mehr über die Zusammenhänge ihres Legitimationsmodells zu sagen, als sie ausführt. Nicht selten finden sich im Buch jedoch Sätze wie der folgende: "Heute ändern in ehemals liberaldemokratischen Systemen höchste Gerichte mit den Mitteln exzessiver Interpretationen und im Durchgriff auf überpositive Werte täglich die Verfassungen, während das ,Volk' bei jeder innovativen Regung mahnend auf eine Verfassung verpflichtet wird, die als positivrechtliche gar nicht mehr existiert."
Man muss kein Apologet einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit sein, um hiervon nicht überzeugt zu werden. Denn weder mag man glauben, dass es sich nur um eine Anmaßung böswilliger Richter handele, noch verstehen, warum Parlamente sich dies gefallen lassen. Schließlich: Was macht eigentlich das Volk?
Im letzten Teil des Buches wendet sich Maus der Internationalisierung des Rechts zu, die sie gleichfalls überaus kritisch betrachtet: Während die Einrichtung von volkssouveränen Strukturen auf räumliche Grenzen angewiesen ist, erscheinen Menschenrechte als unbestimmte Titel zu einer moralisch oder politisch inspirierten Auflösung dieser Grenzen: In den Händen undemokratischer internationaler gerichtlicher oder politischer Institutionen rechtfertigen sie die Intervention in die bestehende Staatenordnung. Auch diese Kritik an einem nicht selten politisch naiven Umgang mit Menschenrechten kann man im Ansatz teilen und doch bezweifeln, dass sich der Menschenrechtsboom der letzten sechzig Jahre einfach nur einem Irrtum oder politischer Täuschung verdankt.
Dass hier eine unvollkommene Lösung für ein echtes Problem vorliegt, scheint für Maus aber nicht in Frage zu kommen. Ambivalenz ist nicht die Sache der Autorin, Demokratie gibt es für sie allein innerhalb des Staates. Ob sich mit einem kantianischen Rechtsbegriff allein ihr demokratischer Etatismus begründen lässt, erscheint jedoch sehr fraglich. Ingeborg Maus' starkes Gegengift gegen demokratietheoretischen Defätismus wird man solcher Zweifel zum Trotz der politischen Theorie ohne Bedenken verschreiben können.
CHRISTOPH MÖLLERS
Ingeborg Maus: "Über Volkssouveränität". Elemente einer Demokratietheorie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 427 S, br., 16,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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