Figuren des Akrobatischen sind in der Literatur der Moderne omnipräsent. Zwischen 1850 und 1925 werden sie zum Träger poetischer, philosophischer und politischer Visionen der Zeit. Um die lange Jahrhundertwende bricht sich in Europa eine überwältigende Faszination für Zirkus und Varieté Bahn: Das Artistenmilieu wird motivischer Stichwortgeber der Künste, Projektionsfläche antibürgerlicher Imaginationen und gesellschaftsutopischer Gegenerzählungen. Im Kontext dieses Popularitätshochs gerät das akrobatische Vermögen den literarischen Taktgebern der Zeit zum Träger einer vielgestaltigen Semantik der Überschreitung: Flaubert erklärt sich zum Artisten, Kafka zum Kunstreiter, Baudelaire fordert akrobatische Disziplin, Nietzsche seiltänzerische Kühnheit. Als Grenzgänger, der scheinbar mühelos die Schwerkraft überwindet und unter Einsatz des Lebens über dem Abgrund balanciert, gilt der Akrobat noch den Avantgarden als programmatisches Symbol für ein neues Subjektverständnis im Spannungsfeld von spielerischer Leichtigkeit und tödlichem Ernst, von Disziplin und Überwältigung, von Möglichkeit und Unmöglichkeit. Anna Luhn untersucht die Konzeptualisierungen des Akrobatischen im literarischen Diskursraum der Moderne erstmals in ihren historischen Voraussetzungen, ästhetischen Effekten und utopischen Fluchtpunkten.
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