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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Jakob Guanzons Roman "Überfluss" erzählt vom Überleben am Rande der Gesellschaft
Seit einem halben Jahr leben Henry und sein achtjähriger Sohn Junior im Pick-up-Truck. Während der Junge in die Grundschule geht, verdient der Vater als Tagelöhner ein paar Dollar, die kaum bis zum nächsten Tag reichen. Ihr Leben passt in eine Kiste auf der Ladefläche des Trucks: Geburtsurkunden, Werkzeuge, Spielsachen, die Urne mit der Asche von Henrys Vater. Sie leben im mittleren Westen der USA, Tausende Meilen von beiden Ozeanen entfernt, in einer Welt der Walmart-Parkplätze, Outlet Malls und Trailer-Parks mit regenverwaschenen Sofas und farblosen Flamingos. Zum Geburtstag des Sohnes mietet Henry ein Motelzimmer, das Sicherheit und Wärme verspricht, wenigstens für eine Nacht. Doch dann laufen die Dinge aus dem Ruder.
"Überfluss" ist eine Geschichte des Scheiterns, vom Ende her erzählt. Jakob Guanzon zeigt in seinem Debütroman, wie brutal es ist, in Amerika arm zu sein. An den amerikanischen Traum, der jedem Bürger ohnehin nur das Streben nach Glück verspricht, nicht das Glück selbst, ist gar nicht erst zu denken.
Zugleich romantisiert der Roman die Armut an keiner Stelle. Über jedem Kapitel steht die Summe, die Henry zur Verfügung steht. Sie schwebt über ihm wie ein Dämon, der alles Denken und Handeln bestimmt: durch welchen Supermarkteingang man gehen sollte, um sich nicht in Verführung zu bringen, und wie lange man auf den Teller des Sohnes starren darf, ohne der Gier zu erliegen, dessen Pommes frites anzurühren. Wer reich ist, kann von Speisekarten ohne Preisangaben bestellen; wer so arm ist wie Henry, spürt das Kleingeld in der Tasche klimpern "wie winzige Handschellen". Geld hat die Armen viel mehr im Griff als die Reichen.
Der titelgebende Überfluss ist im Supermarkt zum Greifen nahe und doch unerreichbar. Er kann anlässlich Juniors Geburtstag nur simuliert werden: mit einem Besuch bei McDonald's und dem schäbigen Motelzimmer. Das erinnert an die Lektion aus Betty Smiths bekanntem amerikanischen Roman "Ein Baum wächst in Brooklyn" von 1943, in dem es ebenfalls ums Aufwachsen in Armut geht. In dieser Geschichte um ein elfjähriges Mädchen sind es nicht Geburtstags-Pommes-frites, die kalt und matschig werden, sondern es ist der Kaffee, der als einziges Lebensmittel weggeschüttet werden darf, um den Überfluss nachzuahmen, in dem man nicht lebt.
In Rückblenden wird geschildert, wie es zu dazu gekommen ist: Henrys philippinischer Vater erhielt in den USA keine Stelle, die seinem Bildungsstand entsprochen hätte, die Wut und Verbitterung darüber ließ er auch an seinem Sohn aus. Die Mutter erkrankte und starb früh, es blieben ein Berg an Schulden und ein Alltag im Trailerpark, es folgten Drogenhandel und ein Gefängnisaufenthalt. Alle großen Probleme der amerikanischen Gegenwart werden im Roman thematisiert: das nicht vorhandene Sozialsystem, Rassismus, Sucht, Gewalt und die Markierungen, die Täter noch lange nach abgesessener Haft bestrafen. Henry bekommt keine Sozialhilfe, keine Versicherung, kein Stimmrecht, keine Chance auf einen Arbeitsvertrag. Neben alldem geht es auch um die Frage, was es bedeutet, ein guter Vater zu sein - unter diesen Umständen.
Der von Dietlind Falk ins Deutsche übersetzte Roman war 2021 in den USA für den National Book Award nominiert. Seine Schwächen sind die gelegentlich zu metaphernreiche Sprache und die etwas holzschnittartige Handlung. Aber seine Stärke ist es, zu erreichen, was nur großer Literatur gelingt: dass man sich in andere hineinversetzt, in ihre Scham, ihre Wut, ihren Stolz, ihr Ringen mit sich selbst. Das schafft Guanzon derart gut, dass es fast eine Qual ist. Weil man fühlt, was Henry fühlt. HELENA SCHÄFER
Jakob Guanzon: "Überfluss". Roman.
Aus dem Amerikanischen
von Dietlind Falk.
Elster Verlag, Zürich 2023.
384 S., geb., 25,- Euro.
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