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Völkerkunde im Mantel der Philosophie. Welche Eigenheiten uns auszeichnen und was das alles mit der russischen Aggression gegen die Ukraine zu tun hat.
Von Robert Putzbach
Von außen betrachtet ist es nicht leicht, aus Deutschlands Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine schlau zu werden. Angefangen mit der Lieferung von 5000 Helmen, die zwar mit den damaligen außenpolitischen Leitlinien in Einklang zu bringen war, die allerdings erst verschickt wurden, als die russischen Invasionstruppen schon vor den Toren Kiews standen. Dann die "Zeitenwende" und ein 100 Milliarden schweres Sondervermögen für die Bundeswehr, was dann monatelang, nahezu unangetastet, durch die Inflation dahinschmolz, während die Munitionsdepots sich immer weiter leerten. Fast ein Jahr nach Kriegsbeginn rang sich die Regierung schließlich zur Lieferung deutscher Kampfpanzer durch - und stand damit zum Schluss aber fast alleine da, weil sich viele europäische Partner plötzlich nicht mehr an die eigenen Forderungen erinnern wollten. Die Philosophin Bettina Stangneth nennt Deutschlands Umgang mit der russischen Aggression ein "schamloses Scheitern zwischen Aktionismus und Schockstarre". In ihrem philosophischen Essay zeichnet sie das Bild eines Landes, das widersprüchliche Signale aussendet - weil es zwischen vollmundigen Zusagen und Zögern gefangen ist. Gleich zu Beginn kommt Stangneth auf die Begriffe zu sprechen, die für sie sinnbildlich für eine deutsche Überforderung stehen. Etwa das Wort Treibsand für die zögerliche Unterstützung. Die Zeitenwende nennt Stangneth einen Worthaufen, an dem Übersetzer verzweifelten, da sie eindeutig übersetzen müssen. Je länger man über den Begriff nachdenke, desto weniger Sinn ergebe er. Stangneth sucht in der Geschichte nach Gründen für die von ihr beobachtete Überforderung. Fündig wird sie in der Nachkriegszeit. Damals habe sich in der Gesellschaft angesichts der Angst vor der Konfrontation mit der eigenen Schuld ein "ängstliches Denken" etabliert. Folgt man der Autorin, wurde dieses Denken über Generationen weitervererbt und wirkt sogar in Zugewanderten. Noch heute bestimmt demnach dieses Denken das Handeln der Deutschen, befähigt jedoch nicht zu Solidarität und Verlässlichkeit. Leider bleibt unklar, wen Stangneth mit "den Deutschen" letztlich genau meint. Ginge es ihr um die deutsche Regierung, auf die sich viele Beispiele beziehen, könnte sie diese auch direkt benennen. Ginge es hingegen um den politischen Diskurs, ist die beobachtete Widersprüchlichkeit, die sich in einer Demokratie aus verschiedenen politischen Meinungen ergibt, wenig verwunderlich. Stangneth legt sich nicht auf eine Definition fest - sondern unterstellt dem Leser, der nach Anhaltspunkten sucht, ein "deutsches Lesen", was sie als "ängstliches" und "aggressives" Lesen versteht. Im Hinblick auf den deutschen Journalismus schreibt Stangneth: Wenn "es um wirklichkeitsnahe Berichterstattung vom Kriegsgeschehen, um Folterkeller und Deportationen geht, sind deutsche Medien im Vergleich zu anderen auffallend zurückhaltend. Der deutsche Zuschauer bekommt vieles weder zu sehen noch zu hören." Tatsächlich aber haben Vor-Ort-Berichte über die Morde von Butscha, Folterkeller in Isjum und Verschleppungen in Cherson die Berichterstattung geprägt. Dass viele Leser angesichts des endlosen Leids irgendwann abstumpfen und die Einschätzungen echter und vermeintlicher Experten zum Fortgang des Krieges vorziehen, ist ein bekanntes, allerdings kein ausschließlich deutsches Phänomen. Stangneth legt sich politisch nicht fest. Sie spricht sich nicht für umfänglichere Waffenlieferungen aus, sondern fordert nur die Einhaltung dessen, was man der Ukraine zuvor versprochen hat. Im Kriegszustand, einem Moment der absoluten Wahrheit, müsse das angegriffene Land in der Lage sein, Freund und Feind zu unterscheiden. Der erkenntnisreichste Teil des Buchs beginnt auf Seite 33, wenn Stangneth tiefer in ihr Fachgebiet einsteigt, zu dem sie schon mehrere viel beachtete Publikationen vorgelegt hat. Schon 2011 veröffentlichte Stangneth mit "Eichmann vor Jerusalem", ein preisgekröntes Werk über den nationalsozialistischen Massenmörder Adolf Eichmann. Für die Recherche hatte die Philosophin zahlreiche Originaldokumente studiert. Das Buch gilt als wichtiger Beitrag zur Debatte über die "Banalität des Bösen". Schon in diesem Buch analysierte Stangneth den Umgang der Nachkriegsgesellschaft mit der eigenen Vergangenheit kritisch. Ebendiese Gesellschaft beschreibt Stangneth nun als gesellschaftliches Splittermeer. Es gab demnach keine homogene Schicksalsgemeinschaft. Täter, Opfer, Denunzianten und Vertriebene fanden sich in den Trümmern von Hitlers Reich wieder. Da niemand wusste, welche Rolle die jeweils anderen zuvor gespielt hatten, konnte man einander nicht begegnen, keine Fragen stellen. Laut Stangneth haben die Deutschen dann, um nicht ewig schweigen zu müssen, damit begonnen, bequeme Fragen und Antworten zurechtzulegen. Die Menschen beschränkten sich darauf, "trotz der Wahrheit" Gemeinschaft zu erleben. Die Tiefe des Abgrunds der eigenen Schuld habe das deutsche Denken zu einem ängstlichen Denken gemacht. Das geteilte Deutschland beschreibt Stagneth mit einer Geschwister-Metapher. Sie spricht von zwei Scheidungskindern und ihren zerstrittenen Eltern. Beide Elternteile sind ehrgeizig und putzen ihr Kind heraus, um die Überlegenheit gegenüber dem anderen zu beweisen. Die Kinder lernten also schnell die Probleme bei dem jeweils anderen Kind zu suchen und entgingen so der unbequemen Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld. Stagneths Buch enthält viele kleine Seitenhiebe gegen vermeintlich deutsche Eigenarten. Sie erwähnt etwa Pauschalreisen, den hohen Stellenwert des Datenschutzes oder den Abgasskandal. Mit diesen Andeutungen geht es einem so wie der Autorin beim Nachdenken über das Wort Zeitenwende. Je länger man über die den ersten Blick schlüssig erscheinenden Punkte nachdenkt, desto unklarer und beliebiger erscheinen sie. Von einem knapp 140 Seiten langen Essay darf man keine Vollständigkeit erwarten. Dennoch fällt auf, dass der Aggressorstaat fast nur in Gestalt des titelgebenden Präsidenten vorkommt. An einer Stelle heißt es dann: "Wäre die militärische Spezialoperation wirklich nach drei Tagen beendet gewesen, hätten die meisten Russen aufrichtig behaupten können, nichts von einem Krieg gewusst zu haben." Auch wenn Stangneth diesen Punkt benutzt, um die viel tiefere Verstrickung der Deutschen in Krieg und Verbrechen zu verdeutlichen, wirkt diese einmalige Erwähnung doch sehr entlastend - zumal auch Putin "seinen" Krieg nicht ohne "sein" Volk führen kann. Folgt man Stangneths Argumentation, steht Deutschland mit seinem ängstlichen Denken allen anderen Ländern "völlig konfus im Weg", die der Ukraine bedingungslos beistehen wollen. Die Realität aber sieht anders aus. Wie ist etwa die französische Zurückhaltung zu verstehen, die sich nicht mit einer schuldbehafteten Vergangenheit erklären lässt? Ist die Berichterstattung in anderen Ländern wirklich so viel näher an Verbrechen und Folter wie behauptet? Halten sich sonst wirklich alle an ihre Versprechen? Ist die Überforderung also wirklich ein ausschließlich deutsches, mit der Geschichte erklärbares Phänomen? Überzeugend bleibt letztlich vor allem die Herleitung der Eigenarten des deutschen Denkens aus der Nachkriegszeit. Warum aber dieses Denken allein die politischen Entscheidungen der Gegenwart bestimmen soll, ist schwer nachzuvollziehen. Bettina Stangneth: Überforderung - Putin und die Deutschen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 144 S., 16,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
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