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Eine Rabbinerin gibt Antworten
In Frankreich ist die Rabbinerin Delphine Horvilleur ein Star. Und das hat vor allem damit zu tun, dass sie in ihren buchlangen Essays und der von ihr mitverantworteten Zeitschrift "Tenou'a" ("Bewegung") einen klugen Eigensinn pflegt. Sie ist in dem, was sie sagt und schreibt, etwas, nach dem hierzulande zunehmend verzweifelt gefahndet wird: Sie ist nämlich liberal. Wenn sie etwa mit dem Ideenhistoriker Rachid Benzine über islamisches und jüdisches Denken diskutiert, Kindern und Erwachsenen die Welt erklärt und über die Rolle der Frau im Judentum nachdenkt, dann mischen sich Interesse und Verantwortung für das Gegenüber auf durchaus provokante Art. Horvilleur, die man noch vor knapp zehn Jahren als "Calamity Jane in der Synagoge" verspottete, gewann nach den Morden in einem Pariser jüdischen Supermarkt 2015 als eine der Ersten die Sprache wieder. Sie setzte und setzt dabei vor allem auf intellektuelle Zumutungen, ohne die es keine produktiven Auseinandersetzungen geben kann.
Nun ist ihr erstes Buch auf Deutsch erschienen: Die "Überlegungen zum Antisemitismus" haben es sogleich auf den Spitzenplatz einer Sachbuch-Bestenliste gebracht, und überall werden sie mit guten Gründen gelobt. Es scheint das Buch der Stunde zu sein, und tatsächlich ist es das. Doch warum man die "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus" unbedingt lesen sollte, das erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Zunächst einmal wirkt Horvilleurs Essay ein wenig exotisch: Der uralte und zugleich sich stets erneuernde Antisemitismus wird mit einer Bibel- und Talmudexegese konfrontiert. Stimmt die These von der Gleichursprünglichkeit von Judentum und Antisemitismus, dann muss man zu den Quellen zurückgehen, die diesen Moment zu erklären versuchen, so Horvilleur.
Die diskutierten Geschichten führen die verschiedenen Obsessionen von Antisemiten deutlich ans Licht: Sie wollen die unbedingte Einfachheit des Freund-Feind-Schemas, pochen auf die Universalität ihrer Ideologie, sehen sich in einem ständigen Abwehrkampf gegen eine übergroße, unsichtbare Kraft und haben vor allem das Bedürfnis, die Welt davon erlösen zu müssen. Dass sie damit trotz aller Anstrengungen scheitern werden, ist für Horvilleur keine Frage: Das Buch ist Holocaust-Überlebenden gewidmet.
Antisemiten, folgt man Horvilleur, leiden nicht zuletzt an der Ausgrenzung durch die Juden. Ein Thema, das in den rabbinischen Schriften intensiv diskutiert wurde und dabei auch vor dem eigenen Volk nicht haltmachte. Im Gegenteil: Unklare Genealogien, widersprüchliche Charakterisierungen und Fehlschreibungen fordern Klärung. Doch keine Klärung ohne neue Fragen. Der Antisemitismus hingegen will die Welt stillstellen, eine Homogenität erzeugen, die alle einschließt. Hiergegen steht der jüdische Eigensinn. Die kleine Schrift bietet folglich im ersten Teil nicht nur eine Typologie des Antisemitismus, sie liefert auch eine allererste Einführung ins jüdische Denken.
Der zweite Teil legt dann die Methode offen, die die Rabbinerin zuvor nutzte. Es ist vor allem Jacques Derridas Zweifel, dass das Wissen über sich selbst als Jude ausreichen kann, um einen festen Grund zu erreichen. Der gleich zu Beginn zitierte Satz Derridas, "Jude wäre ein anderer Name für die Unmöglichkeit, ein Selbst zu sein", wird mit dem Antisemitismus der Gegenwart konfrontiert. Horvilleur beobachtet den Eifer und die Wucht, mit der alles, was außerhalb der Konformitätsvorstellungen der Antisemiten liegt, vernichtet werden muss. Und sie analysiert eingehend, dass dieser Vernichtungswille das Weibliche einschließt. Häufig stellen sich Antisemiten Juden als - natürlich - schwache Frauen vor.
Horvilleurs "Überlegungen über den Antisemitismus" münden letztlich in eine politische Philosophie, in eine radikale Dekonstruktion des Judentums. Genau deshalb muss man den Essay zweimal lesen, um die unaufgelösten Hinweise einordnen zu können. Das klingt anstrengend, aber ohne Zumutung keine Einsicht. Hier ganz aus der Position der Stärke gedacht. Liberaler geht es nicht.
THOMAS MEYER.
Delphine Horvilleur: "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus". Aus dem Französischen von Nicola Denis, Hanser Berlin Verlag, 141 Seiten, 18 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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