Ein Hamburger Arzt macht sich auf die Suche nach türkischen Kampfdrogen; drei Ostindienfahrer mixen in einer Apotheke auf Java ein »unerhörtes« Elixier; der Philosoph Leibniz sucht nach frühesten chinesischen Schriftzeichen; Spanier im peruanischen Potosí müssen sehen, wie in den Minen der Teufel angebetet wird; ein jesuitischer Missionar stößt in Isfahan auf einen östlichen Hermetismus; ein heterodoxer Abenteurer übergibt dem marokkanischen Botschafter ein geheimes Manuskript und ein Vaterunser-Sammler verzweifelt an den Vokabeln der afrikanischen Khoikhoi.
Was zeichnet diese vormodernen Pioniere der Globalisierung des 17. und 18. Jahrhunderts aus? Wie gelingt oder misslingt ihnen die Bezugnahme auf die fremden und fernen Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigen? Wie sind die Ideen, die bei ihnen anlanden, durch Raum und Zeit gereist? In seinem neuen Buch deutet Martin Mulsow die Frühe Neuzeit als eine Zeit der Überreichweiten, als eine Epoche, in der Quellen und Nachrichten aus nah und fern sich überlagerten, ohne dass man mit dieser Verdoppelung zurechtkam oder sie manchmal auch nur bemerkte. Es war ein Zeitalter der riskanten Referenz, das Mulsow mitreißend und gelehrt vor unseren Augen entstehen lässt.
Was zeichnet diese vormodernen Pioniere der Globalisierung des 17. und 18. Jahrhunderts aus? Wie gelingt oder misslingt ihnen die Bezugnahme auf die fremden und fernen Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigen? Wie sind die Ideen, die bei ihnen anlanden, durch Raum und Zeit gereist? In seinem neuen Buch deutet Martin Mulsow die Frühe Neuzeit als eine Zeit der Überreichweiten, als eine Epoche, in der Quellen und Nachrichten aus nah und fern sich überlagerten, ohne dass man mit dieser Verdoppelung zurechtkam oder sie manchmal auch nur bemerkte. Es war ein Zeitalter der riskanten Referenz, das Mulsow mitreißend und gelehrt vor unseren Augen entstehen lässt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2022Was hat es auf sich mit den türkischen Kampfdrogen?
Ergötzliche Geschichten mit Theoriezusatz: Martin Mulsow erkundet, wie in der Frühaufklärung Ideen in globalen Umlauf kamen.
Von Jürgen Osterhammel
Die amorphe Substanz "Wissen" wird greifbar, wenn sie sich in "Ideen" kristallisiert. Ideen sind zählbar und können meist als sprachliche Aussagen dargestellt werden. Über sie kann Metakommunikation stattfinden. Man kann etwas mit ihnen machen: sie diskutieren, verbreiten, unterdrücken und verwirklichen. Ideen werden von Menschen erdacht, weitergegeben und verändert. In historischer Zeit lassen sich ihre Urheber oft identifizieren und die Wege ihrer Ausbreitung verfolgen. Man hat die Entstehung und spätere Metamorphose einzelner Ideen rekonstruiert, sie in Kontexte eingebettet und ihre Wirkung, oft über lange Zeiträume hinweg, erforscht. Das kann man auch weltweit tun und erhält dann Kompendien von einflussreich Gedachtem, in denen Ideen und Ideensysteme nebeneinanderstehen und im günstigsten Fall miteinander verglichen werden. Die lückenlose Philosophiegeschichte ("History of philosophy without any gaps") von Peter Adamson, von der seit 2014 sechs Bände erschienen sind, wäre ein Beispiel für ein solches Vorgehen.
Die neuere Globalgeschichte, die alles andere als eine additive Weltgeschichte sein will, ist damit nicht zufrieden. Sie interessiert sich dafür, wie Ideen über große Entfernungen hinweg "zirkulieren" und sich dabei nicht selten berühren oder gar "verflechten". Wer so fragt, überwindet nicht nur eurozentrische Engstirnigkeit und erschließt sich, zumindest der Möglichkeit nach, die Fülle geistiger Kreativität in vielen Kulturen seit den Anfängen der Verschriftlichung, sondern folgt auch der hypothetischen Vermutung, alles könnte irgendwie mit allem zusammenhängen.
Martin Mulsow hegt große Sympathie für ein solches Programm. Aber er warnt mit einem Satz, der variantenreich immer wieder in seinem Buch auftritt: "Die Sache ist komplizierter!" Aus dieser Warnung spricht der unvergleichliche Kenner der europäischen Gelehrtenwelt des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts und zugleich der besorgte Theoretiker. Er fürchtet aus guten Gründen, dass es sich die Globalgeschichte mit ihrer Begeisterung für Mobilität, Transfer, Übersetzung und "hybride" Vermischung und Verschmelzung zu leicht machen könnte.
Wenn man annimmt, so referiert Mulsow die unpolemisch angezweifelte Gegenposition, dass "Ideen als Quasi-Entitäten die eigentlichen Akteure sind", dann gibt man auf, was kulturwissenschaftlich über die "Praxis" von Forschen und Schreiben bei Einzelnen und in Milieus und Netzwerken der Gelehrsamkeit bekannt ist. Und wenn man die kolossalen Schwierigkeiten unterschätzt, die der Fernwanderung von Ideen entgegenstehen, dann ist man schlichtweg naiv.
Ideenmobilität über Zivilisationsgrenzen hinweg - das ist eine der Botschaften dieses Buches - hat es viel häufiger gegeben, als wir bisher wissen; die Forschung hat noch ungeahnte Möglichkeiten vor sich. Zugleich ist solche Mobilität extrem störanfällig. Sie wird von Zufällen der Überlieferung, abgebrochenen Transmissionsketten, Missverständnissen (die den Beteiligten selbst verborgen blieben) und Nichtbegegnungen regiert. Mulsow hält eine globale Ideengeschichte keineswegs für illusorisch. Im Gegenteil. Sie wird umso aufregender, je mehr sie, abseitigsten Spuren in der Überlieferung nachgehend, an konkreten Beispielen zeigen kann, wie voraussetzungsreich das ist, was in Festreden gerne als "Dialog der Kulturen" beschworen wird.
Das Buch lebt von solchen Beispielen, die doppelbödig als Geschichtserzählungen eigenen Rechts - eine "Mischung von Detektivroman und durchbrochener Romanze" - und als Theoriefutter präsentiert werden. Acht Fallstudien behandeln den Hermetismus, der sich nach Ägypten, Persien, Indien und in die jüdische Literatur verzweigte; die arabische und später bibelexegetische Suche nach einem "prä-adamitischen" Anfang der Geschichte; die europäische Obsession mit türkischen "Kampfdrogen" und anderen wundertätigen Substanzen; die geheime Internationale der Alchemisten, die sich nicht nur für Gold, sondern auch für Salpeter und den "Welt-Schleim" interessierten; Leibniz' Verwunderung über die chinesischen Bücher in seiner Bibliothek; den Häresietransfer vor allem zwischen christlicher und islamischer Sphäre, bei dem sich in einem "Umklappeffekt" die Ketzer der einen Seite in die Orthodoxen der anderen verwandelten; die Versuche einer frühen Proto-Religionswissenschaft, die Menschheit klassifikatorisch und kartographisch danach zu erfassen, in welchen Abmischungen von Schattenhaftigkeit sie zwischen dem Licht des Monotheismus und der glaubenslosen Finsternis der "Hottentotten" lebte; schließlich Oben und Unten, Himmel und Hölle in der Neuen Welt, wo das reale Inferno der Bergbaustadt Potosí (im heutigen Bolivien) hoch oben im Gebirge lag und der Teufel als herrscherlicher Jaguar auftrat.
Ein wenig an die Schreibweise Hans Blumenbergs erinnernd, erlaubt es Martin Mulsow seinen Leserinnen und Lesern nur bis zu einem bestimmten Punkt, sich am polyglott gesammelten Material zu ergötzen. Das Buch hätte ein Kuriositätenkabinett werden können, ist aber keines. Immer wieder wird man sanft und ohne aufdringliches Prophetentum in die experimentelle Arbeit an einer Theorie hineingezogen, die sich bereits als Baustelle sehen lassen kann. Sie beruht auf Begriffen wie Kontext, Konstellation, Rahmen, Triangulation oder informationelle Lieferkette.
Das Kernkonzept ist das der "Referenz", also der Konstruktion von gedanklichen Bezügen auf Fernes, Fremdes und oft nur Geahntes. Solche Referenzen haben auch dann, wenn sie in Gestalt von "Tiefenbohrungen" in die zeitliche Ferne der Vergangenheit verweisen, nur bedingt mit "Gedächtnis" zu tun, einem Zentralbegriff der Kulturwissenschaften. Referenz- und Erinnerungsgeschichte, so Mulsows einprägsames Bild, verhalten sich zur realen Transmissionsgeschichte der reisenden Gelehrten und verschifften Manuskripte wie die beiden Stränge einer Doppel-Helix. Sie lassen sich nicht voneinander trennen.
Die Referenzen selbst sind Ausgriffe, Hypothesen, Würfe ins Dunkle. Das soll der aus der Funktechnik stammende Titelbegriff "Überreichweiten" andeuten. Im Jahrhundert zwischen etwa 1630 und 1730, um das es hauptsächlich geht, wussten europäische Gelehrte - Intellektuelle, wenn man will - schon ziemlich viel über den Rest der Welt, aber zu wenig, um ihre überschießende Phantasie methodisch zu zügeln und treffsichere Forschungsfragen zu stellen. Das war so von der Chemie bis zur Sprachwissenschaft, von der Pharmakologie bis zum Studium ägyptischer Mumien.
Die naturalisierte, dem Kreislauf des Wassers, Blutes oder Geldes nachempfundene "Wissenszirkulation" der Globalgeschichte - das sagt uns dieses außerordentlich anregende Buch - war eigentlich etwas ganz anderes, nämlich unentwegte Referenztätigkeit von Einzelnen und epistemischen Kollektiven. Weil diese Referenzierungen aber selbst eine Geschichte haben, ist die These vom haarsträubenden Fernspekulieren ("Überreichweite") als Pendant zur sprichwörtlichen "barocken Projektemacherei" eine begrenzt gültige Epochentheorie - und als nichts anderes gemeint. Was aber geschah nach der Frühaufklärung? Könnte man eine Geschichte der Referenzreichweiten schreiben, die keine simple - und im neunzehnten Jahrhundert im Weltmaßstab asymmetrische - Fortschrittsgeschichte von Wissenschaftlichkeit wäre?
Martin Mulsow: "Überreichweiten". Perspektiven einer globalen Ideengeschichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 718 S., Abb., geb., 42,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ergötzliche Geschichten mit Theoriezusatz: Martin Mulsow erkundet, wie in der Frühaufklärung Ideen in globalen Umlauf kamen.
Von Jürgen Osterhammel
Die amorphe Substanz "Wissen" wird greifbar, wenn sie sich in "Ideen" kristallisiert. Ideen sind zählbar und können meist als sprachliche Aussagen dargestellt werden. Über sie kann Metakommunikation stattfinden. Man kann etwas mit ihnen machen: sie diskutieren, verbreiten, unterdrücken und verwirklichen. Ideen werden von Menschen erdacht, weitergegeben und verändert. In historischer Zeit lassen sich ihre Urheber oft identifizieren und die Wege ihrer Ausbreitung verfolgen. Man hat die Entstehung und spätere Metamorphose einzelner Ideen rekonstruiert, sie in Kontexte eingebettet und ihre Wirkung, oft über lange Zeiträume hinweg, erforscht. Das kann man auch weltweit tun und erhält dann Kompendien von einflussreich Gedachtem, in denen Ideen und Ideensysteme nebeneinanderstehen und im günstigsten Fall miteinander verglichen werden. Die lückenlose Philosophiegeschichte ("History of philosophy without any gaps") von Peter Adamson, von der seit 2014 sechs Bände erschienen sind, wäre ein Beispiel für ein solches Vorgehen.
Die neuere Globalgeschichte, die alles andere als eine additive Weltgeschichte sein will, ist damit nicht zufrieden. Sie interessiert sich dafür, wie Ideen über große Entfernungen hinweg "zirkulieren" und sich dabei nicht selten berühren oder gar "verflechten". Wer so fragt, überwindet nicht nur eurozentrische Engstirnigkeit und erschließt sich, zumindest der Möglichkeit nach, die Fülle geistiger Kreativität in vielen Kulturen seit den Anfängen der Verschriftlichung, sondern folgt auch der hypothetischen Vermutung, alles könnte irgendwie mit allem zusammenhängen.
Martin Mulsow hegt große Sympathie für ein solches Programm. Aber er warnt mit einem Satz, der variantenreich immer wieder in seinem Buch auftritt: "Die Sache ist komplizierter!" Aus dieser Warnung spricht der unvergleichliche Kenner der europäischen Gelehrtenwelt des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts und zugleich der besorgte Theoretiker. Er fürchtet aus guten Gründen, dass es sich die Globalgeschichte mit ihrer Begeisterung für Mobilität, Transfer, Übersetzung und "hybride" Vermischung und Verschmelzung zu leicht machen könnte.
Wenn man annimmt, so referiert Mulsow die unpolemisch angezweifelte Gegenposition, dass "Ideen als Quasi-Entitäten die eigentlichen Akteure sind", dann gibt man auf, was kulturwissenschaftlich über die "Praxis" von Forschen und Schreiben bei Einzelnen und in Milieus und Netzwerken der Gelehrsamkeit bekannt ist. Und wenn man die kolossalen Schwierigkeiten unterschätzt, die der Fernwanderung von Ideen entgegenstehen, dann ist man schlichtweg naiv.
Ideenmobilität über Zivilisationsgrenzen hinweg - das ist eine der Botschaften dieses Buches - hat es viel häufiger gegeben, als wir bisher wissen; die Forschung hat noch ungeahnte Möglichkeiten vor sich. Zugleich ist solche Mobilität extrem störanfällig. Sie wird von Zufällen der Überlieferung, abgebrochenen Transmissionsketten, Missverständnissen (die den Beteiligten selbst verborgen blieben) und Nichtbegegnungen regiert. Mulsow hält eine globale Ideengeschichte keineswegs für illusorisch. Im Gegenteil. Sie wird umso aufregender, je mehr sie, abseitigsten Spuren in der Überlieferung nachgehend, an konkreten Beispielen zeigen kann, wie voraussetzungsreich das ist, was in Festreden gerne als "Dialog der Kulturen" beschworen wird.
Das Buch lebt von solchen Beispielen, die doppelbödig als Geschichtserzählungen eigenen Rechts - eine "Mischung von Detektivroman und durchbrochener Romanze" - und als Theoriefutter präsentiert werden. Acht Fallstudien behandeln den Hermetismus, der sich nach Ägypten, Persien, Indien und in die jüdische Literatur verzweigte; die arabische und später bibelexegetische Suche nach einem "prä-adamitischen" Anfang der Geschichte; die europäische Obsession mit türkischen "Kampfdrogen" und anderen wundertätigen Substanzen; die geheime Internationale der Alchemisten, die sich nicht nur für Gold, sondern auch für Salpeter und den "Welt-Schleim" interessierten; Leibniz' Verwunderung über die chinesischen Bücher in seiner Bibliothek; den Häresietransfer vor allem zwischen christlicher und islamischer Sphäre, bei dem sich in einem "Umklappeffekt" die Ketzer der einen Seite in die Orthodoxen der anderen verwandelten; die Versuche einer frühen Proto-Religionswissenschaft, die Menschheit klassifikatorisch und kartographisch danach zu erfassen, in welchen Abmischungen von Schattenhaftigkeit sie zwischen dem Licht des Monotheismus und der glaubenslosen Finsternis der "Hottentotten" lebte; schließlich Oben und Unten, Himmel und Hölle in der Neuen Welt, wo das reale Inferno der Bergbaustadt Potosí (im heutigen Bolivien) hoch oben im Gebirge lag und der Teufel als herrscherlicher Jaguar auftrat.
Ein wenig an die Schreibweise Hans Blumenbergs erinnernd, erlaubt es Martin Mulsow seinen Leserinnen und Lesern nur bis zu einem bestimmten Punkt, sich am polyglott gesammelten Material zu ergötzen. Das Buch hätte ein Kuriositätenkabinett werden können, ist aber keines. Immer wieder wird man sanft und ohne aufdringliches Prophetentum in die experimentelle Arbeit an einer Theorie hineingezogen, die sich bereits als Baustelle sehen lassen kann. Sie beruht auf Begriffen wie Kontext, Konstellation, Rahmen, Triangulation oder informationelle Lieferkette.
Das Kernkonzept ist das der "Referenz", also der Konstruktion von gedanklichen Bezügen auf Fernes, Fremdes und oft nur Geahntes. Solche Referenzen haben auch dann, wenn sie in Gestalt von "Tiefenbohrungen" in die zeitliche Ferne der Vergangenheit verweisen, nur bedingt mit "Gedächtnis" zu tun, einem Zentralbegriff der Kulturwissenschaften. Referenz- und Erinnerungsgeschichte, so Mulsows einprägsames Bild, verhalten sich zur realen Transmissionsgeschichte der reisenden Gelehrten und verschifften Manuskripte wie die beiden Stränge einer Doppel-Helix. Sie lassen sich nicht voneinander trennen.
Die Referenzen selbst sind Ausgriffe, Hypothesen, Würfe ins Dunkle. Das soll der aus der Funktechnik stammende Titelbegriff "Überreichweiten" andeuten. Im Jahrhundert zwischen etwa 1630 und 1730, um das es hauptsächlich geht, wussten europäische Gelehrte - Intellektuelle, wenn man will - schon ziemlich viel über den Rest der Welt, aber zu wenig, um ihre überschießende Phantasie methodisch zu zügeln und treffsichere Forschungsfragen zu stellen. Das war so von der Chemie bis zur Sprachwissenschaft, von der Pharmakologie bis zum Studium ägyptischer Mumien.
Die naturalisierte, dem Kreislauf des Wassers, Blutes oder Geldes nachempfundene "Wissenszirkulation" der Globalgeschichte - das sagt uns dieses außerordentlich anregende Buch - war eigentlich etwas ganz anderes, nämlich unentwegte Referenztätigkeit von Einzelnen und epistemischen Kollektiven. Weil diese Referenzierungen aber selbst eine Geschichte haben, ist die These vom haarsträubenden Fernspekulieren ("Überreichweite") als Pendant zur sprichwörtlichen "barocken Projektemacherei" eine begrenzt gültige Epochentheorie - und als nichts anderes gemeint. Was aber geschah nach der Frühaufklärung? Könnte man eine Geschichte der Referenzreichweiten schreiben, die keine simple - und im neunzehnten Jahrhundert im Weltmaßstab asymmetrische - Fortschrittsgeschichte von Wissenschaftlichkeit wäre?
Martin Mulsow: "Überreichweiten". Perspektiven einer globalen Ideengeschichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 718 S., Abb., geb., 42,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Oliver Weber liest mit diesem Buch des Historikers Martin Mulsow eine sinnvolle Antwort auf die Frage, wie eine "globale Ideengeschichte" aussehen könnte, die sich von der eurozentristischen Perspektive löst. Es geht dem Autor nicht darum, aufs Neue die Irrtümer der europäischen Deutung der Weltgeschichte herauszustellen, so der Kritiker, sondern das "produktive Moment" von Fehlinterpretationen und kulturellen Missverständnissen, die bei der Zirkulation von Wissen entstehen, aufzuzeigen. Dafür hat Mulsow in seinem Buch spannende Fallstudien versammelt, schreibt Weber, die aus unterschiedlichen Perspektiven historische Schlüsselmomente schildern, in denen die Wissenkonzepte verschiedener Kulturen aufeinandertrafen. Trotz seiner "Gelehrsamkeit" ist die Lektüre nie zu theoretisch oder trocken, so der Kritiker, was sich Mulsows spezieller Erzähltechnik, einem Mix aus "Detektivroman und durchbrochener Romanze", verdankt. Der Rezensent kann sich nun besser vorstellen, wie eine Weltgeschichte der Ideen eines Tages geschrieben werden könnte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.04.2023Das universale Missverständnis
Wie könnte man eine „globale Ideengeschichte“ schreiben, ohne in Eurozentrismus zurückzufallen? Martin Mulsows neues Buch hat eine Antwort
Kann man heute noch „Weltgeschichte“ schreiben? In der professionellen Geschichtswissenschaft sind die Voraussetzungen eines solchen Unterfangens längst als Illusionen entlarvt worden. Man wird dem heterogenen Stoff nicht gerecht, aus dem die kaum zu umgrenzenden Geschichten aller Gemeinschaften dieses Planeten gestrickt sind, wenn man ihnen eine einheitliche Form überstülpt, auf die die Erzählung zielgerichtet zuläuft. Im Begriff „Weltgeschichte“ vermutet man ein hegelianisches Erbe, das Europa und die Entwicklung seines Freiheitsgedankens zum Maßstab der Quelleninterpretation erhebt – und unter der Wucht dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeit die realen historischen Vorgänge verbirgt und begräbt.
Doch die Grundsatzfrage nach den historischen Verbindungen, die sich kreuz und quer über den Erdball spannen, ist damit nicht abgeräumt. In expliziter Verneinung des eurozentrischen und geschichtsphilosophischen Erbes der vormaligen „Weltgeschichte“ hat sich seit gut einem Vierteljahrhundert das Feld der Globalgeschichte etabliert. In ihr soll die Zirkulation und Verflechtung von Migrations-, Waren- und Machtströmen im planetarischen Maßstab rekonstruiert werden, ohne sie von Vornherein auf einen feststehenden Nenner zu bringen. Der in Erfurt forschende Historiker Martin Mulsow will diesem Projekt mit seinem Buch „Überreichweiten“ nun eine ideengeschichtliche Komponente hinzufügen: Wie könnte man eine „globale Ideengeschichte“ schreiben, ohne in alte Illusionen zurückzufallen?
Der erste Blick auf diese Fragestellung neigt dazu, die mit ihr verbundene Schwierigkeit zu übersehen. Denn anders als etwa Waren, die das Element globaler Handelsströme bilden, sind „Ideen“ ein in mehrerer Hinsicht prekäres Schiffsgut. Schon deshalb, weil in der frühen Neuzeit – Mulsows Forschungsgebiet und Untersuchungszeitraum – das Lesen und Schreiben noch seltene Kulturtechniken waren, das Lesen und Schreiben in fremden, frisch entdeckten Sprachen erst recht. Von den unsicheren „informationellen Lieferketten“ der Postverbindungen ganz zu schweigen.
Doch prekär ist das Wissen als Element globaler Verflechtungen noch in einer gewichtigeren Rücksicht: Beim Transfer von Wissen gibt es keine „Substanz“, die den Besitzer wechseln und dabei unbeschädigt bleiben könnte. Bücher, Texte, Begriffe sind immer interpretationsbedürftig. Wer ihre „Zirkulation“ über Kulturgrenzen hinweg erzählen will, muss also verstehen, wie die Beteiligten auf sie Bezug nahmen – und welche Missverständnisse und Überinterpretationen damit ins Spiel kamen.
Worauf bezogen sich die Europäer etwa, als sie im 16. Jahrhundert die Philosophie nicht mit Thales, sondern Hermes Trismegistos beginnen ließen? Man glaubte, Hermes sei eine beinahe 2000 Jahre vor Christus lebende Figur, die die Lehren der griechischen Philosophie schon vorgebildet hatte und mit dem altägyptischen Weisen Thot identifiziert werden konnte. In Wirklichkeit, wie Philologen im 17. Jahrhundert herausarbeiteten, handelte es sich dabei um Schriften aus dem zweiten und dritten nachchristlichen Jahrhundert. Eine „Überreichweite“ nennt Mulsow eine solche Konstellation, der Rundfunksprache entlehnt, wo der Begriff ein Signal bezeichnet, das aus unvorhergesehenen Ursachen über größere Entfernungen hinweg übertragen wird als ursprünglich vorgesehen.
Doch Mulsow will nicht abermals die vielen Selbsttäuschungen der europäischen Weltdeutung entlarven. Ihm geht es um etwas anderes. Seine in diesem Buch versammelten Fallstudien unternehmen den Versuch, gerade solchen Über- oder Unterreichweiten ein produktives Moment abzugewinnen. Denn diese „Welt voller Rückprojektionen und Fehldatierungen“ war eine „natürliche Nebenfolge von noch riskanten, spekulativen, weil auf wenigen Informationen beruhenden Ausgriffen auf fremde Kulturen“. Die Interpretation einer anderen Kultur, mitsamt deren eigener Tradition, Sprache, Sakralgeschichte und Fremdreferenz war insbesondere in der frühen Neuzeit ein begriffliches „Risikohandeln“, vergleichbar dem Aufbrechen in Richtung unbekannter Seerouten.
Wie sollten die abrahamitischen Religionen etwa damit umgehen, wenn ihre Annahme einer ungefähr 6000 Jahre alten Welt plötzlich mit „Weltzeiten“ konfrontiert wurde, „die weit über 6000 Jahre hinausgingen, in die Zehntausende, Hunderttausende, ja Millionen von Jahren“? Wenn aus China Missionare wie Martino Martini berichteten, „die Chinesen hätte Kaiserlisten, die Tausende Jahre vor Christi Geburt zurückreichen“? Eine hauseigene Heterodoxie, die Vorstellung präadamitischer Menschen, erlaubte die Aneignung dieser Überlieferungen, ohne in Widersprüche zu geraten. Demnach habe es, bevor Gott mit Adam und Eva das auserwählte Volk geschaffen habe, bereits viele Völker gegeben, die aber erst rückwirkend, wie in einer juristischen Fiktion, durch Christus’ Opfertod in den Kreis des Heils aufgenommen wurden. „Die Präadamiten sind gewissermaßen die Geister aus den langen Zeiträumen, die bei Zusammenstößen mit anderen Chronologien, aber auch in Zeiten der Unzufriedenheit mit der eigenen Religion über uns kommen.“
Die Projektion konnte aber manchmal selbst zum treibenden Moment der Fremderfahrung werden. Über die „Hottentotten“ genannten südafrikanischen Gemeinschaften der Khoikhoi etwa kursierten Reiseberichte, die ihre absolute Gottesferne als Inbegriff der Wildheit schilderten. Für theologische Gelehrte, die nur die Verdunkelung, nicht das Aufhören des universalen Glaubens an den einen Gott unter „Barbaren“ zugeben konnten, war dies eine Herausforderung, so Mulsow, die womöglich dazu anregte, die Rituale und Kultobjekte der Fremden genauer zu inspizieren, als es die abgeschreckten Erstbeobachter konnten oder wollten.
Nicht immer liegt in der universalistischen Projektion auf „den Anderen“ also ein bloßer Machtanspruch. Manchmal ist eine selbstbezügliche Deutung, wenn sie sich auf fremdes Terrain bezieht, der erste Schritt, „die Kategorien ins Schwimmen“ zu bringen.
Das Spiel solcher Fremd- und Selbstreferenzen, das im globalen Wissenstransfer stattfand, schildert Mulsow mit einer Gelehrsamkeit, die den Leser allzu leicht zurücklassen würden (allein das Anmerkungsverzeichnis umfasst über zweihundert Seiten), hätte er für dieses Buch nicht eine eigene Erzähltechnik entwickelt: Eine „Mischung von Detektivroman und durchbrochener Romanze“ hilft dabei, einerseits den spannenden Geschichten der Texte und Begriffe zu folgen, andererseits aber allzu lineare Erwartungen zu unterlaufen. So schildert jede Fallstudie ihre „Ideengeschichte“ mindestens doppelperspektivisch: Was lasen und projizierten die Europäer – und was tradierten und auf was referierten nahöstliche, chinesische, indische, südamerikanische Gelehrte, wenn sie etwa über „Hermes“, „Präadamiten“, oder die angebliche „türkische Kampfdroge“ namens „Maslach“ schrieben?
Die Knotenpunkte der Wissensbegegnungen, die das Buch schildert, lassen erahnen, wie eine wirklich „globale Ideengeschichte“ aussehen könnte. Mulsow entwickelt dafür ein eigenes Theoriebesteck, das nicht nur die genannten „Überreichweiten“ einbegreift, sondern mit „Triangulation“ (der Interpretation eines Fremden mittels eines Bekannten), „Referenzjagd“ (wenn Akteure versuchen, den Verweisen eines Kulturobjektes auf die Schliche zu kommen) und „Doppelhelix“ (der Doppelung von realem Texttransfer und ideeller Interpretation) aussichtsreiche Theorieelemente für anschließende Untersuchungen entwickelt. Man kann sich gut vorstellen, wie sich aus alldem eines Tages ein „allgemeineres Bild ergibt, das wirkliches Verständnis auslöst“. Eine solche globale Ideenhistorie, die Martin Mulsow andeutet, wäre sicher keine Weltgeschichte alten Stils mehr. Aber indem sie schildert, wie Menschen über Kulturgrenzen hinweg sich einen Reim aufeinander machen und sich dabei immer wieder eklatant missverstehen, behält sie womöglich ein idealistisches Moment: Denn es ist gerade das wechselseitige Missverstehen, das die Tatsache einer nicht mehr tilgbaren Begegnung stiftet.
OLIVER WEBER
Die Interpretation einer
anderen Kultur war in der frühen
Neuzeit ein „Risikohandeln“
Schwarze, die Diamanten waschen, dazwischen weiße Kolonialherren auf einer undatierten Zeichnung. Aber ob das wirklich so war?
Foto: imago
Martin Mulsow:
Überreichweiten –
Perspektiven einer
globalen Ideengeschichte. Suhrkamp, Berlin 2023.
717 Seiten, 42 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wie könnte man eine „globale Ideengeschichte“ schreiben, ohne in Eurozentrismus zurückzufallen? Martin Mulsows neues Buch hat eine Antwort
Kann man heute noch „Weltgeschichte“ schreiben? In der professionellen Geschichtswissenschaft sind die Voraussetzungen eines solchen Unterfangens längst als Illusionen entlarvt worden. Man wird dem heterogenen Stoff nicht gerecht, aus dem die kaum zu umgrenzenden Geschichten aller Gemeinschaften dieses Planeten gestrickt sind, wenn man ihnen eine einheitliche Form überstülpt, auf die die Erzählung zielgerichtet zuläuft. Im Begriff „Weltgeschichte“ vermutet man ein hegelianisches Erbe, das Europa und die Entwicklung seines Freiheitsgedankens zum Maßstab der Quelleninterpretation erhebt – und unter der Wucht dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeit die realen historischen Vorgänge verbirgt und begräbt.
Doch die Grundsatzfrage nach den historischen Verbindungen, die sich kreuz und quer über den Erdball spannen, ist damit nicht abgeräumt. In expliziter Verneinung des eurozentrischen und geschichtsphilosophischen Erbes der vormaligen „Weltgeschichte“ hat sich seit gut einem Vierteljahrhundert das Feld der Globalgeschichte etabliert. In ihr soll die Zirkulation und Verflechtung von Migrations-, Waren- und Machtströmen im planetarischen Maßstab rekonstruiert werden, ohne sie von Vornherein auf einen feststehenden Nenner zu bringen. Der in Erfurt forschende Historiker Martin Mulsow will diesem Projekt mit seinem Buch „Überreichweiten“ nun eine ideengeschichtliche Komponente hinzufügen: Wie könnte man eine „globale Ideengeschichte“ schreiben, ohne in alte Illusionen zurückzufallen?
Der erste Blick auf diese Fragestellung neigt dazu, die mit ihr verbundene Schwierigkeit zu übersehen. Denn anders als etwa Waren, die das Element globaler Handelsströme bilden, sind „Ideen“ ein in mehrerer Hinsicht prekäres Schiffsgut. Schon deshalb, weil in der frühen Neuzeit – Mulsows Forschungsgebiet und Untersuchungszeitraum – das Lesen und Schreiben noch seltene Kulturtechniken waren, das Lesen und Schreiben in fremden, frisch entdeckten Sprachen erst recht. Von den unsicheren „informationellen Lieferketten“ der Postverbindungen ganz zu schweigen.
Doch prekär ist das Wissen als Element globaler Verflechtungen noch in einer gewichtigeren Rücksicht: Beim Transfer von Wissen gibt es keine „Substanz“, die den Besitzer wechseln und dabei unbeschädigt bleiben könnte. Bücher, Texte, Begriffe sind immer interpretationsbedürftig. Wer ihre „Zirkulation“ über Kulturgrenzen hinweg erzählen will, muss also verstehen, wie die Beteiligten auf sie Bezug nahmen – und welche Missverständnisse und Überinterpretationen damit ins Spiel kamen.
Worauf bezogen sich die Europäer etwa, als sie im 16. Jahrhundert die Philosophie nicht mit Thales, sondern Hermes Trismegistos beginnen ließen? Man glaubte, Hermes sei eine beinahe 2000 Jahre vor Christus lebende Figur, die die Lehren der griechischen Philosophie schon vorgebildet hatte und mit dem altägyptischen Weisen Thot identifiziert werden konnte. In Wirklichkeit, wie Philologen im 17. Jahrhundert herausarbeiteten, handelte es sich dabei um Schriften aus dem zweiten und dritten nachchristlichen Jahrhundert. Eine „Überreichweite“ nennt Mulsow eine solche Konstellation, der Rundfunksprache entlehnt, wo der Begriff ein Signal bezeichnet, das aus unvorhergesehenen Ursachen über größere Entfernungen hinweg übertragen wird als ursprünglich vorgesehen.
Doch Mulsow will nicht abermals die vielen Selbsttäuschungen der europäischen Weltdeutung entlarven. Ihm geht es um etwas anderes. Seine in diesem Buch versammelten Fallstudien unternehmen den Versuch, gerade solchen Über- oder Unterreichweiten ein produktives Moment abzugewinnen. Denn diese „Welt voller Rückprojektionen und Fehldatierungen“ war eine „natürliche Nebenfolge von noch riskanten, spekulativen, weil auf wenigen Informationen beruhenden Ausgriffen auf fremde Kulturen“. Die Interpretation einer anderen Kultur, mitsamt deren eigener Tradition, Sprache, Sakralgeschichte und Fremdreferenz war insbesondere in der frühen Neuzeit ein begriffliches „Risikohandeln“, vergleichbar dem Aufbrechen in Richtung unbekannter Seerouten.
Wie sollten die abrahamitischen Religionen etwa damit umgehen, wenn ihre Annahme einer ungefähr 6000 Jahre alten Welt plötzlich mit „Weltzeiten“ konfrontiert wurde, „die weit über 6000 Jahre hinausgingen, in die Zehntausende, Hunderttausende, ja Millionen von Jahren“? Wenn aus China Missionare wie Martino Martini berichteten, „die Chinesen hätte Kaiserlisten, die Tausende Jahre vor Christi Geburt zurückreichen“? Eine hauseigene Heterodoxie, die Vorstellung präadamitischer Menschen, erlaubte die Aneignung dieser Überlieferungen, ohne in Widersprüche zu geraten. Demnach habe es, bevor Gott mit Adam und Eva das auserwählte Volk geschaffen habe, bereits viele Völker gegeben, die aber erst rückwirkend, wie in einer juristischen Fiktion, durch Christus’ Opfertod in den Kreis des Heils aufgenommen wurden. „Die Präadamiten sind gewissermaßen die Geister aus den langen Zeiträumen, die bei Zusammenstößen mit anderen Chronologien, aber auch in Zeiten der Unzufriedenheit mit der eigenen Religion über uns kommen.“
Die Projektion konnte aber manchmal selbst zum treibenden Moment der Fremderfahrung werden. Über die „Hottentotten“ genannten südafrikanischen Gemeinschaften der Khoikhoi etwa kursierten Reiseberichte, die ihre absolute Gottesferne als Inbegriff der Wildheit schilderten. Für theologische Gelehrte, die nur die Verdunkelung, nicht das Aufhören des universalen Glaubens an den einen Gott unter „Barbaren“ zugeben konnten, war dies eine Herausforderung, so Mulsow, die womöglich dazu anregte, die Rituale und Kultobjekte der Fremden genauer zu inspizieren, als es die abgeschreckten Erstbeobachter konnten oder wollten.
Nicht immer liegt in der universalistischen Projektion auf „den Anderen“ also ein bloßer Machtanspruch. Manchmal ist eine selbstbezügliche Deutung, wenn sie sich auf fremdes Terrain bezieht, der erste Schritt, „die Kategorien ins Schwimmen“ zu bringen.
Das Spiel solcher Fremd- und Selbstreferenzen, das im globalen Wissenstransfer stattfand, schildert Mulsow mit einer Gelehrsamkeit, die den Leser allzu leicht zurücklassen würden (allein das Anmerkungsverzeichnis umfasst über zweihundert Seiten), hätte er für dieses Buch nicht eine eigene Erzähltechnik entwickelt: Eine „Mischung von Detektivroman und durchbrochener Romanze“ hilft dabei, einerseits den spannenden Geschichten der Texte und Begriffe zu folgen, andererseits aber allzu lineare Erwartungen zu unterlaufen. So schildert jede Fallstudie ihre „Ideengeschichte“ mindestens doppelperspektivisch: Was lasen und projizierten die Europäer – und was tradierten und auf was referierten nahöstliche, chinesische, indische, südamerikanische Gelehrte, wenn sie etwa über „Hermes“, „Präadamiten“, oder die angebliche „türkische Kampfdroge“ namens „Maslach“ schrieben?
Die Knotenpunkte der Wissensbegegnungen, die das Buch schildert, lassen erahnen, wie eine wirklich „globale Ideengeschichte“ aussehen könnte. Mulsow entwickelt dafür ein eigenes Theoriebesteck, das nicht nur die genannten „Überreichweiten“ einbegreift, sondern mit „Triangulation“ (der Interpretation eines Fremden mittels eines Bekannten), „Referenzjagd“ (wenn Akteure versuchen, den Verweisen eines Kulturobjektes auf die Schliche zu kommen) und „Doppelhelix“ (der Doppelung von realem Texttransfer und ideeller Interpretation) aussichtsreiche Theorieelemente für anschließende Untersuchungen entwickelt. Man kann sich gut vorstellen, wie sich aus alldem eines Tages ein „allgemeineres Bild ergibt, das wirkliches Verständnis auslöst“. Eine solche globale Ideenhistorie, die Martin Mulsow andeutet, wäre sicher keine Weltgeschichte alten Stils mehr. Aber indem sie schildert, wie Menschen über Kulturgrenzen hinweg sich einen Reim aufeinander machen und sich dabei immer wieder eklatant missverstehen, behält sie womöglich ein idealistisches Moment: Denn es ist gerade das wechselseitige Missverstehen, das die Tatsache einer nicht mehr tilgbaren Begegnung stiftet.
OLIVER WEBER
Die Interpretation einer
anderen Kultur war in der frühen
Neuzeit ein „Risikohandeln“
Schwarze, die Diamanten waschen, dazwischen weiße Kolonialherren auf einer undatierten Zeichnung. Aber ob das wirklich so war?
Foto: imago
Martin Mulsow:
Überreichweiten –
Perspektiven einer
globalen Ideengeschichte. Suhrkamp, Berlin 2023.
717 Seiten, 42 Euro.
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»Wie könnte man eine 'globale Ideengeschichte' schreiben, ohne in Eurozentrismus zurückzufallen? Martin Mulsows Buch hat eine Antwort.« Oliver Weber Süddeutsche Zeitung 20230412