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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein Romancier verflucht Putin: Andrej Kurkow schildert in seinem "Ukrainischen Tagebuch" den Aufstand in Kiew
Einen Romantiker, gar einen weltfremden Spinner wird man Andrej Kurkow, den geschäftstüchtigsten und erfolgreichsten Schriftsteller seines Landes, nicht nennen können, doch er erzählt in seinem "Ukrainischen Tagebuch" in ruhig abwägenden Sätzen von etwas Unglaublichem: Binnen Tagen entsteht in einem autoritären Land eine selbstbewusste Bürgergesellschaft. Kurkows mit dem Ethos eines Chronisten verfasste Aufzeichnungen enden am 24. April 2014, einen Tag nach seinem 53. Geburtstag und vier Wochen vor der ersehnten und gefährdeten Wahl eines neuen ukrainischen Präsidenten.
Kurkow lebt mit seiner Frau und drei Kindern im Zentrum von Kiew, in "einer Wohnung in der dritten Etage, von deren Balkon aus wir den Rauch der brennenden Barrikaden sahen, die Explosionen der Granaten und die Schüsse hörten, einer Wohnung, die wir regelmäßig verließen, um zur Arbeit, zum Majdan oder anderswohin zu gehen. All diese Zeit ging das Leben weiter, blieb kein einziges Mal stehen." Kurkows Bericht beginnt am 21. November 2013, dem Tag, an dem "kurz nach Mitternacht, gegen halb eins, ein Meteorit über Sewastopol, ..., der russischsten aller ukrainischen Städte", abstürzte und der Premierminister Mykola Asarow das Assoziierungsabkommen mit der EU aussetzte. Dann begann das Unerwartete: Einem Aufruf auf Facebook, zu friedlichem Protest, nur mit Isomatten und Proviant bewaffnet, auf den Unabhängigkeitsplatz von Kiew zu kommen, folgen Tausende, während im Fernsehen der russische Präsident Putin mit breitem Grinsen auftritt und der Nachrichtensprecher munter verkündet, Russland freue sich, die enge Zusammenarbeit mit der Ukraine weiter auszubauen.
Die Stoffe für seine Romane findet Kurkow als spöttischer, mitunter zynischer Beobachter seines Landes in der ihn umgebenden Groteske: Witzig und böse erzählt er vom qualvollen Alltag einer abgestürzten Gesellschaft, die Kurkows in absurden Arbeitsverhältnissen steckende sanftmütige Helden kopfschüttelnd beobachten, wenn sie nicht gerade vor Mafia-Gangstern fliehen. Der seit langem in Kiew lebende Schriftsteller wurde 1961 in Leningrad geboren, wuchs in Russland auf und schreibt auf Russisch. Er sieht sich als postsowjetischen Schriftsteller, der über eine prekäre, experimentelle Zone schreibt - die Annäherung der Ukraine an Europa erfüllte ihn noch Mitte November 2013 mit Euphorie. Eine Woche später beobachtet er die scheinbar aussichtslosen Anfänge der Revolution mit traurigem Spott und liest im Internet: "Verkaufe fertiges Set für Kundgebungsteilnehmer ... Es enthält alles, um in der kalten Jahreszeit über einen längeren Zeitraum seine Interessen und Ansichten zu behaupten."
Die Menschen harren auf dem Majdan aus, nationalistische oder europaorientierte Gruppen stehen neben Fantasy-Kriegern. Es gibt keine einheitlichen Forderungen, und die ersten "Tituschki" (bezahlte Schlägertrupps) rücken mit Knüppeln an. Mal versucht die eine, mal die andere Partei erfolglos, sich an die Spitze der Majdan-Bewegung zu setzen, was Kurkow erstaunt und freut. Als geübter Erzähler beschreibt er die Komitees und Bürgerwehren, die Majdan-Universität (vor allem Englisch und Selbstverteidigung) und die "Festtagsstimmung" auf dem Platz, trotz zunehmender Gewalt der Spezialeinheiten, die am "Blutsamstag", dem frühen Morgen des 30. November, zu mehr als hundert Verletzten führt.
Ungeachtet der ständigen Anspannung versucht der Schriftsteller, ein normales Leben zu führen, geht in die Sauna (wo ein Freund verlangt, den Namen Julija Timoschenko nicht zu erwähnen - er schädige die Gesundheit), trifft sich mit seinem Verleger und arbeitet am "Litauischen Roman". Doch nach den Weihnachtsferien auf der Krim - wo er eher lakonisch die allgegenwärtige Korruption und die Diskriminierung der Krim-Tataren beobachtet - ist alles anders: In Kiew herrscht offener Bürgerkrieg, überall Kontrollstellen, Barrikaden und Trupps der Bürgerwehr. Kurkow, der während der orangen Revolution von 2004 politische Debatten organisierte, räumt sein Romanmanuskript weg und beginnt, ausländischen Journalisten zu erklären, warum Kiews europaorientierte Bürger Wache bei den Barrikaden des Rechten Sektors halten und dass die Sehnsucht nach einem zivilisierten Land sie vereine. Tagelang hält er sich im Künstlerzelt auf dem Majdan auf, beschreibt die Begegnungen an den Feuertonnen, würdigt eine ästhetisch besonders gelungene Barrikade und mokiert sich über die russischen Filmsternchen, die dort vor Kameras posieren. Gegen seine Niedergeschlagenheit - "Ein gottvergessenes Land. Rauch steigt darüber auf. Und unter dem Rauch wird die Macht verteilt" - witzelt er: "Habe die Kinder zur Schule gebracht und bin zur Revolution gegangen."
Die Vielschichtigkeit ist die Stärke des Majdan, zugleich aber auch seine Schwäche. Unbekannte kontrollieren die Rednertribüne, immer öfter gelingen Provokationen, Kriminelle tarnen sich auf ihren Raubzügen als Bürgerwehr, es gibt vorgetäuschte Entführungen. "Die Revolution braucht allmählich ihre Revolutionäre nicht mehr", hält Kurkow am 3. Februar 2014 fest. Während einer nächtlichen Fahrt durch die Stadt glaubt er sich in einen Endzeitfilm versetzt, doch schon am nächsten Tag patrouillieren Miliz und Aktivisten gemeinsam, über ihren Fahrzeugen weht die Fahne des Automajdan.
Es gibt viele Hoffnungszeichen wie dieses, doch der skeptische Beobachter Kurkow versucht, nicht nur die ganze Widersprüchlichkeit des Volksaufstandes in den Blick zu bekommen, sondern auch die Nachwehen der Revolution. Es wird eine der intensivsten und wehmütigsten Passagen. In den letzten drei Monaten sei er um fünf Jahre gealtert, stellt er Ende Februar beim morgendlichen Blick in den Spiegel fest, während die Krim-Krise schon die Nachrichten beherrscht. Putin, seinen Lieblingsfeind, beobachtet Kurkow intensiv, und selten hat jemand den Machtstrategen genauer und wütender charakterisiert, samt der gezielten Umwandlung des russischen Patriotismus in einen Chauvinismus, aus dem leicht ein gewöhnlicher Faschismus werden könne: Dann würden die staatsnahen Schriftsteller den Kindern erklären müssen, "dass der russische Faschismus etwas Gutes sei, während alle anderen seiner Spielarten etwas ausgesprochen Schlechtes sind".
Die ruhige Genauigkeit, das historisch-politische Wissen und der aufgeklärte Bürgerstandpunkt dieser Aufzeichnungen haben etwas ungeheuer Tröstliches, und dass Kurkow ein unermüdlicher Sammler entlegener faits divers ist, macht ihren besonderen Reiz aus. So trug die Medaille "Für die Wiedergewinnung der Krim", die Putin an verdiente Soldaten verlieh, die Daten: "20. 02. 2014 - 18. 03. 2014". Am 19. und 20. Februar herrschten aber noch die Bluttage, die zu Janukowitschs Sturz führen sollten, die Annexion der Krim begann erst eine Woche später. Eher heiter liest sich dagegen die Meldung, dass dreihundert Denkmäler auf der Krim noch vor deren Einwohnern russische Pässe erhielten.
NICOLE HENNEBERG
Andrej Kurkow: "Ukrainisches Tagebuch". Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests.
Aus dem Russischen von Steffen Beilich. Haymon Verlag, Innsbruck 2014. 280 S., geb., 17,90 [Euro].
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