Uli ist kein Knecht mehr, sondern Pächter. Und Vreneli ist seine Frau. Trotzdem will er nicht richtig froh werden. Zu viel lastet auf ihm. Wie soll er seinen Hof halten können, wenn alles so schwierig und teuer ist? Verzagtheit und Missmut packen ihn, er gerät in die Fänge von Geschäftemachern, und auch dem Wein spricht er wieder zu. Vreneli hält zu ihm, trotz allem. Uli muss als Pächter von Neuem lernen, das Leben zu meistern.
»Er ist der Dichter des Menschen, der ewig derselbe ist. Deswegen weht auch in seinem Werk eine Luft wie in der Bibel und in Homer, die sind von Himmel und Erde umfangen.« Ricarda Huch
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Schweizer Autor Jeremias Gotthelf war ein meisterlicher Beobachter der Machtverhältnisse auf den Bauernhöfen im Berner Emmental, erzählt Rezensentin Pia Reinacher. Der Germanist Philipp Theisohn versucht nun, mit der von ihm herausgegebenen Zürcher Ausgabe Gotthelf einem breiteren Publikum bekannt zu machen und hat dazu auch die ersten drei Bände "mit kenntnisreichen und substanziellen Notizen versehen", wie Reinacher lobt. Auch vor dem Berner Dialekt braucht man sich nicht zu fürchten, ein Glossar ist beigelegt, versichert die Kritikerin. seinen beiden "Uli"-Büchern, die den Lebensweg eines Knechtes darstellen, dem es dank der Anleitung eines ihm wohlgesonnenen Meisters gelingt, die in seinem Umfeld lauernden Gefahren zu umgehen, erbaut Gotthelf laut Reinacker ein ganzes moralisches Universum. Was ihm freilich, lernen wir, viel Mühe bereitet, und von Gotthelf außerdem als eine Analyse kapitalistischer Strukturen angelegt ist. Keineswegs will uns der Volkspädagoge Gotthelf falsche Hoffnungen machen, so Reinacher. Der zweite Band orientiert sich an einem 1849 in Berlin erschienenen Erstdruck, erläutert die Rezensentin, aus dem der Autor selbst zahlreiche Dialektpassagen entfernt hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2023Umschlag ins Umsichschlagen
Der Diogenes Verlag beginnt eine neue kommentierte Leseausgabe des Schweizer Klassikers Jeremias Gotthelf
Harmlos ist an dieser Welt nichts. Jeremias Gotthelfs bedeutende Erzählwerke beschreiben weder eine verkitschte bäuerliche Idylle, noch verklären sie das Landleben des neunzehnten Jahrhunderts im Berner Emmental. Sein herausragender Rang innerhalb der großen Erzähler der Weltliteratur liegt im Gegenteil in der paradigmatischen Entlarvung der Machtverhältnisse und ihrer Mechanik.
Schonungslos wird gezeigt, was ist: zwischen den Meisterleuten und ihren Knechten, zwischen den Mägden und ihrer Herrschaft, zwischen den rivalisierenden und saufenden Knechten, zwischen den rabiat streitenden weiblichen Hausangestellten, die um die erfolgreichsten Männer buhlen und dabei zu jedem Mittel greifen. Der 1797 in Murten geborene Dichter Albert Bitzius, der von 1836 an als Pfarrer im Berner Bauerndorf Lützelflüh unter dem Pseudonym Gotthelf eine obsessive literarische Tätigkeit aufnahm, tobte sich innerhalb von siebzehn Jahren in einem imposanten Werk von dreizehn Romanen, fünfzig Erzählungen und hundert Kalendergeschichten aus. Unter der Patina seiner Geschichten über die Emmentaler Bauernwelt verhandelte er die Axiome, die das Zusammenleben der Menschen in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten bestimmen: Liebe und Hass, Gier und Macht, Geiz und Lüge, Rivalität, Eifersucht und Boshaftigkeit sowie die bauernschlauen Strategien, mit denen manche ihre unehrenhafte Ziele zu erreichen gedenken.
Anschauungsmaterial aus dem wahren Leben hatte Bitzius bis zu seiner bürgerlichen Etablierung im Pfarramt genug gehabt. Er war ein wilder, unangepasster Geist. Der Theologe geriet immer wieder mit der Obrigkeit in Konflikt, etwa in seiner Vikariatsstelle in Herzogbuchensee, wo er entlassen wurde. Man schob ihn an die Heiliggeistkirche in Bern ab, wo er sich weiter politisch betätigte und sich auf dem Höhepunkt der Revolution und der wilden Kämpfe der Helvetik in der liberalen Bewegung gegen die Herrschaft des Patriziats engagierte. "Ich gestehe aufrichtig, ich hasse das Patriziat, das mit Krokodilstränen jetzt die Bürger fängt", schrieb er und beklagte ein trauriges Beispiel: Seinem Vater habe man das Leben um Jahre verkürzt, nachdem der als Pfarrer in einer Bettagspredigt unverblümt die politischen Zustände kritisiert und den Sittenverfall angeklagt hatte.
Der Sohn stand ihm in nichts nach. Schon nach einem Jahr in Bern wird er wieder entlassen und diesmal ins ländliche Lützelflüh abgeschoben. Dem herrschenden Patriziat war er in der Tat ein Dorn im Auge. Die Ausbeutung von Verdingkindern aus armen Familien als billige Arbeitskräfte war an der Tagesordnung, und Gotthelf kritisierte diese Praxis unnachgiebig. Als Schulkommissär für achtzehn Berner Gemeinden hatte er seinen unbestechlichen Blick für die Abgründe der Herrschaftsverhältnisse und die soziale Ungerechtigkeit entwickelt. Nach zehn Jahren wurde er wegen politischer Differenzen mit der Regierung auch aus diesem Amt entlassen.
Im Pfarrhaus von Lützelflüh beruhigte sich sein Leben äußerlich. Innerlich aber entwickelte er eine heimliche Raserei. Er selbst verglich seine literarische Tätigkeit mit dem "Losbrechen einer lange verhaltenen Kraft", die "in wilden Fluten" erfolgt, als Ausbruch eines "Bergsees", der sich als übler Graus artikuliert, als "wildes Umsichschlagen nach aller Seiten", damit der innere Druck nachlässt.
In einer seiner herausragenden frühen Erzählungen, der "Wassernot im Emmental am 13. August 1837", beschreibt er das reale Ereignis einer verheerenden Überschwemmung als Folge einer Gewitters mit großer Wucht und gleichzeitig emotionaler Empathie für die Dorfleute, die sich im Weltuntergang glauben. Die Erzählung wird gleichzeitig zur Chiffre für die eigene Psychodynamik und zum Fanal einer kraftvollen Erzählkunst, die Geröll, Dreck und Steine mit sich führt. Schlag auf Schlag schleuderte Gotthelf fortan Erzählungen und Romane heraus, die ihn zum Vorboten von Keller, Storm oder Fontane machten - der Germanist Walter Muschg rechnete ihn zu den Meistern des Realismus im neunzehnten Jahrhundert.
Der Germanist Philipp Theisohn will den Schweizer Autor mit einer neuen Leseausgabe wieder einem größeren Publikum näherbringen. Zum Auftakt versammelt er in einem ersten Erzählband Kalendergeschichten sowie fünf frühe Geschichten um die Novelle "Die schwarze Spinne". Sie ist weltberühmt geworden, bewundert von Thomas Mann, inszeniert 2011 von Frank Castorf am Zürcher Schauspielhaus, vertont als Oper von den drei Schweizer Komponisten Sutermeister, Burkhard und Kelterborn. Kern ihrer Handlung ist ein Pakt mit dem Teufel, den eine durch einen mächtigen Bauern in die Enge getriebene Dorfbevölkerung schließt. In der Gestalt eines Jägers besiegelt der Teufel ihn mit einem Kuss auf die Wange einer Frau, worauf ihr später eine Beule wächst, aus der eine schwarze Spinne kriecht, die im Dorf Unheil und Tod verbreitet.
An Aktualität lässt diese Novelle nichts zu wünschen übrig. Auf kleinstem Raum lässt sich in diesem erzählerischen Mikrokosmos modellhaft Aberglaube, Populismus, Volksverführung und die Wirkungsweise einer unheimlichen, nicht rational erklärbaren Bedrohung demonstrieren, die sich in Verschwörungstheorien entlädt und innerhalb der Dorfgemeinschaft zu einer gefährlichen Dynamik führt. An diesem Text lässt sich bis heute exemplarisch zeigen, wie Diffamierung funktioniert sowie die Schuldzuschreibung an stigmatisierte Außenseiter.
Den ganzen Katalog von Gut und Böse, aber auch die Möglichkeiten einer heilsamen Selbstkorrektur buchstabiert Gotthelf in seinen beiden "Uli"-Romanen durch: "Wie Uli, der Knecht, glücklich wird - Eine Gabe für Dienstboten und Meisterleute" sowie "Uli der Pächter - Ein Volksbuch" sind die weiteren Auftaktbände zur Zürcher Leseausgabe. Gotthelf erweist sich gerade in diesen beiden Romanen, die Straucheln, Versagen und langsame Selbstkultivierung eines Knechts behandeln, als messerscharfer Beobachter. In ihnen zieht er alle Register des Lehrers, Volkserziehers, Psychologen und Theologen. Denn dem Knecht Uli gelingt es, angeleitet von seinem gutmütigen und klugen Meister Johannes, die eigenen Abgründe der Faulheit, des Alkoholismus, der Triebhaftigkeit und der Geldverschwendung zu umschiffen. Er lernt sogar, die gruppendynamischen Codes der Bauern und anderen Knechte zu entziffern, die ihn benutzen, hereinlegen und um sein hart verdientes Geld bringen wollen.
Diese Metamorphose ist allerdings das Resultat harter Arbeit, und Gotthelf wäre nicht Gotthelf, wenn er seine Leser mit naiven Illusionen über den Lauf der Welt abspeisen würde. Er glaubte nicht an deren grundsätzliche Verbesserung, und was den Geldverkehr und das gegenseitig Sich-Übervorteilen angeht, kann man seine Erzählanlage problemlos als frühe Beschreibung der ökonomischen Mechanismen des Kapitalismus lesen. Die Überschrift zum 28. Kapitel, mit dem die Uli-Geschichte schließt, lautet "Wie die Welt im Argen bleibt und gebesserten Menschen es gut geht mitten in der argen Welt". Das vermittelt ein Fünkchen Hoffnung, aber nur insofern, als die Selbsterziehung funktioniert. Uli ist inzwischen aus eigener Kraft zum Pächter geworden, hat mit Vreneli eine Frau, die ihn unterstützt, er hat die Infrastruktur des Hofes optimiert, die Produktivität erhöht und gegen den Widerstand des Hofbesitzers und der Knechte erfolgreich ein "Change management" durchgesetzt - allerdings um den bitteren Preis von Neid und Eifersucht der Hof- und Dorfbewohner.
Philipp Theisohn hat diese drei ersten neuen Gotthelf-Bände mit kenntnisreichen und substanziellen Notizen versehen, die fast die Nachwörter ersetzen könnten. Dass er für das erste Buch des "Uli"-Romans auf den im Verlag von Christan Beyel in Zürich und Frauenfeld 1941 erschienenen Erstdruck zurückgreift, ist eine kluge Entscheidung, denn die passagenweise berndeutschen Sprechspuren der Akteure zeigen den Charme und die Präzision jener wuchtigen, deftigen Dialektsprache Gotthelfs, die entscheidend ist für seine Wirkung. Der zweite Band orientiert sich am 1849 im Verlag Julius Springer in Berlin erschienenen Erstdruck, der von Gotthelf selbst mit Blick aufs deutsche Publikum um viele dialektale Passagen bereinigt wurde. Die Leseausgabe ist jedoch auf jeden Fall deutschsprachigen Lesern erschließbar, denn selbst ein Schweizer Publikum wird sich ab und zu am umfangreichen beigefügten Glossar berndeutscher Dialektausdrücke orientieren müssen. PIA REINACHER
Jeremias Gotthelf: "Die schwarze Spinne und andere Erzählungen".
Hrsg. und kommentiert von Philipp Theisohn. Nachwort von Nora Gomringer. Diogenes, Zürich 2023. 552 S., geb., 30,- Euro.
Jeremias Gotthelf: "Uli der Knecht".
Hrsg. und kommentiert von Philipp Theisohn. Nachwort von Peter von Matt. Diogenes, Zürich 2023. 519 S., geb.,
32,- Euro.
Jeremias Gotthelf: "Uli der Pächter".
Hrsg. und kommentiert von Philipp Theisohn. Nachwort von Monika Helfer. Diogenes, Zürich 2023. 595 S., geb.,
34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Diogenes Verlag beginnt eine neue kommentierte Leseausgabe des Schweizer Klassikers Jeremias Gotthelf
Harmlos ist an dieser Welt nichts. Jeremias Gotthelfs bedeutende Erzählwerke beschreiben weder eine verkitschte bäuerliche Idylle, noch verklären sie das Landleben des neunzehnten Jahrhunderts im Berner Emmental. Sein herausragender Rang innerhalb der großen Erzähler der Weltliteratur liegt im Gegenteil in der paradigmatischen Entlarvung der Machtverhältnisse und ihrer Mechanik.
Schonungslos wird gezeigt, was ist: zwischen den Meisterleuten und ihren Knechten, zwischen den Mägden und ihrer Herrschaft, zwischen den rivalisierenden und saufenden Knechten, zwischen den rabiat streitenden weiblichen Hausangestellten, die um die erfolgreichsten Männer buhlen und dabei zu jedem Mittel greifen. Der 1797 in Murten geborene Dichter Albert Bitzius, der von 1836 an als Pfarrer im Berner Bauerndorf Lützelflüh unter dem Pseudonym Gotthelf eine obsessive literarische Tätigkeit aufnahm, tobte sich innerhalb von siebzehn Jahren in einem imposanten Werk von dreizehn Romanen, fünfzig Erzählungen und hundert Kalendergeschichten aus. Unter der Patina seiner Geschichten über die Emmentaler Bauernwelt verhandelte er die Axiome, die das Zusammenleben der Menschen in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten bestimmen: Liebe und Hass, Gier und Macht, Geiz und Lüge, Rivalität, Eifersucht und Boshaftigkeit sowie die bauernschlauen Strategien, mit denen manche ihre unehrenhafte Ziele zu erreichen gedenken.
Anschauungsmaterial aus dem wahren Leben hatte Bitzius bis zu seiner bürgerlichen Etablierung im Pfarramt genug gehabt. Er war ein wilder, unangepasster Geist. Der Theologe geriet immer wieder mit der Obrigkeit in Konflikt, etwa in seiner Vikariatsstelle in Herzogbuchensee, wo er entlassen wurde. Man schob ihn an die Heiliggeistkirche in Bern ab, wo er sich weiter politisch betätigte und sich auf dem Höhepunkt der Revolution und der wilden Kämpfe der Helvetik in der liberalen Bewegung gegen die Herrschaft des Patriziats engagierte. "Ich gestehe aufrichtig, ich hasse das Patriziat, das mit Krokodilstränen jetzt die Bürger fängt", schrieb er und beklagte ein trauriges Beispiel: Seinem Vater habe man das Leben um Jahre verkürzt, nachdem der als Pfarrer in einer Bettagspredigt unverblümt die politischen Zustände kritisiert und den Sittenverfall angeklagt hatte.
Der Sohn stand ihm in nichts nach. Schon nach einem Jahr in Bern wird er wieder entlassen und diesmal ins ländliche Lützelflüh abgeschoben. Dem herrschenden Patriziat war er in der Tat ein Dorn im Auge. Die Ausbeutung von Verdingkindern aus armen Familien als billige Arbeitskräfte war an der Tagesordnung, und Gotthelf kritisierte diese Praxis unnachgiebig. Als Schulkommissär für achtzehn Berner Gemeinden hatte er seinen unbestechlichen Blick für die Abgründe der Herrschaftsverhältnisse und die soziale Ungerechtigkeit entwickelt. Nach zehn Jahren wurde er wegen politischer Differenzen mit der Regierung auch aus diesem Amt entlassen.
Im Pfarrhaus von Lützelflüh beruhigte sich sein Leben äußerlich. Innerlich aber entwickelte er eine heimliche Raserei. Er selbst verglich seine literarische Tätigkeit mit dem "Losbrechen einer lange verhaltenen Kraft", die "in wilden Fluten" erfolgt, als Ausbruch eines "Bergsees", der sich als übler Graus artikuliert, als "wildes Umsichschlagen nach aller Seiten", damit der innere Druck nachlässt.
In einer seiner herausragenden frühen Erzählungen, der "Wassernot im Emmental am 13. August 1837", beschreibt er das reale Ereignis einer verheerenden Überschwemmung als Folge einer Gewitters mit großer Wucht und gleichzeitig emotionaler Empathie für die Dorfleute, die sich im Weltuntergang glauben. Die Erzählung wird gleichzeitig zur Chiffre für die eigene Psychodynamik und zum Fanal einer kraftvollen Erzählkunst, die Geröll, Dreck und Steine mit sich führt. Schlag auf Schlag schleuderte Gotthelf fortan Erzählungen und Romane heraus, die ihn zum Vorboten von Keller, Storm oder Fontane machten - der Germanist Walter Muschg rechnete ihn zu den Meistern des Realismus im neunzehnten Jahrhundert.
Der Germanist Philipp Theisohn will den Schweizer Autor mit einer neuen Leseausgabe wieder einem größeren Publikum näherbringen. Zum Auftakt versammelt er in einem ersten Erzählband Kalendergeschichten sowie fünf frühe Geschichten um die Novelle "Die schwarze Spinne". Sie ist weltberühmt geworden, bewundert von Thomas Mann, inszeniert 2011 von Frank Castorf am Zürcher Schauspielhaus, vertont als Oper von den drei Schweizer Komponisten Sutermeister, Burkhard und Kelterborn. Kern ihrer Handlung ist ein Pakt mit dem Teufel, den eine durch einen mächtigen Bauern in die Enge getriebene Dorfbevölkerung schließt. In der Gestalt eines Jägers besiegelt der Teufel ihn mit einem Kuss auf die Wange einer Frau, worauf ihr später eine Beule wächst, aus der eine schwarze Spinne kriecht, die im Dorf Unheil und Tod verbreitet.
An Aktualität lässt diese Novelle nichts zu wünschen übrig. Auf kleinstem Raum lässt sich in diesem erzählerischen Mikrokosmos modellhaft Aberglaube, Populismus, Volksverführung und die Wirkungsweise einer unheimlichen, nicht rational erklärbaren Bedrohung demonstrieren, die sich in Verschwörungstheorien entlädt und innerhalb der Dorfgemeinschaft zu einer gefährlichen Dynamik führt. An diesem Text lässt sich bis heute exemplarisch zeigen, wie Diffamierung funktioniert sowie die Schuldzuschreibung an stigmatisierte Außenseiter.
Den ganzen Katalog von Gut und Böse, aber auch die Möglichkeiten einer heilsamen Selbstkorrektur buchstabiert Gotthelf in seinen beiden "Uli"-Romanen durch: "Wie Uli, der Knecht, glücklich wird - Eine Gabe für Dienstboten und Meisterleute" sowie "Uli der Pächter - Ein Volksbuch" sind die weiteren Auftaktbände zur Zürcher Leseausgabe. Gotthelf erweist sich gerade in diesen beiden Romanen, die Straucheln, Versagen und langsame Selbstkultivierung eines Knechts behandeln, als messerscharfer Beobachter. In ihnen zieht er alle Register des Lehrers, Volkserziehers, Psychologen und Theologen. Denn dem Knecht Uli gelingt es, angeleitet von seinem gutmütigen und klugen Meister Johannes, die eigenen Abgründe der Faulheit, des Alkoholismus, der Triebhaftigkeit und der Geldverschwendung zu umschiffen. Er lernt sogar, die gruppendynamischen Codes der Bauern und anderen Knechte zu entziffern, die ihn benutzen, hereinlegen und um sein hart verdientes Geld bringen wollen.
Diese Metamorphose ist allerdings das Resultat harter Arbeit, und Gotthelf wäre nicht Gotthelf, wenn er seine Leser mit naiven Illusionen über den Lauf der Welt abspeisen würde. Er glaubte nicht an deren grundsätzliche Verbesserung, und was den Geldverkehr und das gegenseitig Sich-Übervorteilen angeht, kann man seine Erzählanlage problemlos als frühe Beschreibung der ökonomischen Mechanismen des Kapitalismus lesen. Die Überschrift zum 28. Kapitel, mit dem die Uli-Geschichte schließt, lautet "Wie die Welt im Argen bleibt und gebesserten Menschen es gut geht mitten in der argen Welt". Das vermittelt ein Fünkchen Hoffnung, aber nur insofern, als die Selbsterziehung funktioniert. Uli ist inzwischen aus eigener Kraft zum Pächter geworden, hat mit Vreneli eine Frau, die ihn unterstützt, er hat die Infrastruktur des Hofes optimiert, die Produktivität erhöht und gegen den Widerstand des Hofbesitzers und der Knechte erfolgreich ein "Change management" durchgesetzt - allerdings um den bitteren Preis von Neid und Eifersucht der Hof- und Dorfbewohner.
Philipp Theisohn hat diese drei ersten neuen Gotthelf-Bände mit kenntnisreichen und substanziellen Notizen versehen, die fast die Nachwörter ersetzen könnten. Dass er für das erste Buch des "Uli"-Romans auf den im Verlag von Christan Beyel in Zürich und Frauenfeld 1941 erschienenen Erstdruck zurückgreift, ist eine kluge Entscheidung, denn die passagenweise berndeutschen Sprechspuren der Akteure zeigen den Charme und die Präzision jener wuchtigen, deftigen Dialektsprache Gotthelfs, die entscheidend ist für seine Wirkung. Der zweite Band orientiert sich am 1849 im Verlag Julius Springer in Berlin erschienenen Erstdruck, der von Gotthelf selbst mit Blick aufs deutsche Publikum um viele dialektale Passagen bereinigt wurde. Die Leseausgabe ist jedoch auf jeden Fall deutschsprachigen Lesern erschließbar, denn selbst ein Schweizer Publikum wird sich ab und zu am umfangreichen beigefügten Glossar berndeutscher Dialektausdrücke orientieren müssen. PIA REINACHER
Jeremias Gotthelf: "Die schwarze Spinne und andere Erzählungen".
Hrsg. und kommentiert von Philipp Theisohn. Nachwort von Nora Gomringer. Diogenes, Zürich 2023. 552 S., geb., 30,- Euro.
Jeremias Gotthelf: "Uli der Knecht".
Hrsg. und kommentiert von Philipp Theisohn. Nachwort von Peter von Matt. Diogenes, Zürich 2023. 519 S., geb.,
32,- Euro.
Jeremias Gotthelf: "Uli der Pächter".
Hrsg. und kommentiert von Philipp Theisohn. Nachwort von Monika Helfer. Diogenes, Zürich 2023. 595 S., geb.,
34,- Euro.
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