„Der Weltraum ist die einzige Wildnis, die uns noch bleibt. Jetzt, da auf der Erde alle noch so entlegenen Regionen entdeckt und geplündert worden sind, ist das Sonnensystem, in das wir vordringen, die Neue Welt.“ S.175
Ich hatte viele Rezensionen zu UMLAUFBAHNEN gelesen, die mich vor allem wegen
des Versprechens der einzigartigen Perspektive von Menschen, die aus dem Orbit einer Raumstation…mehr„Der Weltraum ist die einzige Wildnis, die uns noch bleibt. Jetzt, da auf der Erde alle noch so entlegenen Regionen entdeckt und geplündert worden sind, ist das Sonnensystem, in das wir vordringen, die Neue Welt.“ S.175
Ich hatte viele Rezensionen zu UMLAUFBAHNEN gelesen, die mich vor allem wegen des Versprechens der einzigartigen Perspektive von Menschen, die aus dem Orbit einer Raumstation auf die Erde hinabblicken, faszinierten. So richtig konnte ich mir jedoch nie vorstellen, was mich erwartet. Auch ich kann es nicht umfassend beschreiben, Du musst es einfach selbst lesen und das ist keine Empfehlung, sondern ein Appell.
Schon immer haben mich die Bilder und Worte von Alexander Gerst aus dem All, das Panoramafenster der ISS im Rücken, in dem sich das Blau-Weiß der Erde krümmt, bewegt. Tief berührt, habe ich versucht mir vorzustellen, wie es wäre, dort oben in diesem Metallkäfig, 400 km über der Erde schwerelos mit 28.000 km/h unablässig zu fallen. 16 Mal am Tag Sonnenauf- und Untergänge. Kein Oben, kein Unten, in klaustrophobischen Verhältnissen.
Samantha Harvey gelingt das Wunder, es mich tatsächlich fühlen zu lassen. Und es gleichzeitig zu wollen und für vollkommen abwegig zu halten. Wir verbringen einen Tag und 16 Umlaufbahnen mit 6 Astronom:innen und Kosmonaut:innen, 2 Frauen, 4 Männern aus Russland, Amerika, England, Italien und Japan auf einer internationalen Raumstation. Sie gehen ihrer Forschung, ihrem Krafttraining, ihren „alltäglichen“ Dingen nach. Sie versuchen, den Verstand nicht zu verlieren angesichts der Absurdität dieses Daseins. Vom großen Alles und Nichts nur durch eine relativ dünne Wand getrennt, durch die 17 Module schwimmend, geben sie den Tagen, die durch stündliche Sonnenauf- und Untergänge von der Zeitmessung der Erde abgetrennt sind, Struktur. Wir lernen 6 Menschen in dieser Extremsituation mit ihren Bedürfnissen, ihrer Körperlichkeit, ihren Gedanken, Ängsten und Hoffnungen kennen. Dabei geht es weniger um sie als um ihre Verbindung zur Welt, um die zarten Linien, die sie mit dem schönen Ding unter ihnen verbindet.
Die Linien zieht die Autorin durch Perspektivwechsel auf die Erde, wo die Mutter von Chi in einem alten Holzhaus in Japan stirbt, während Chi mit 28.000 km/h darüber hinweg fliegt. Wo der Fischer auf den Philippinen, den Roman während seines letzten Tauchurlaubs kennenlernte nun im Auge eines Taifuns sitzt, den er aus der sicheren Entfernung von 400 km fotografiert.
Zum Weinen bewegend wird mir die Vorstellung, so losgelöst, so unvorstellbar weit weg von allem und gleichzeitig so verbunden mit der Erde und den anrührenden Kleinigkeiten des menschlichen Daseins zu sein.
Wie erreicht Samantha Harvey dieses Gefühl? Sie schenkt uns ihre Sinne mit einem geradezu überirdisches Nature- und Body-Writing (wenn es das gibt). Betörend plastisch, bildhaft und emotional sehe ich die Erde aus ihrer Perspektive, ihre Farben, ihr Licht, ihre Dunkelheit, ihre Struktur. Ich sehe ihre Grenzenlosigkeit, ihr Fließen, das alles unsichtbar werden lässt, was uns auf der Erde trennt.
Ich spüre die körperlichen Grenzerfahrungen ganz nah, folge den Protagonistinnen in ihre Körper und Gedanken, bis hinein in ihre Schlafsäcke, die in den Schlafkabinen schweben, in ihre Träume, ihre Erinnerungen und ihre Visionen. Und doch bleibt eine Distanz, die es mir möglich macht, den Schrecken dieser Erfahrungen auszuschließen.
Mensch und Erde erscheinen aus dieser Perspektive in einer ähnlichen Fragilität, Zufälligkeit und Verlorenheit. Alles ist mit allem verbunden. „Mutter Erde“ bekommt eine ganz neue fundamentale Bedeutung. Etwas Existenzielles, das unseren irdischen Verstand übersteigt.
Dies ist kein Weltraumabenteuer, kein Sci-Fi-Roman, kein Wissenschafts-Thriller, kein Heldenepos, Es ist ein brillanter, feinfühliger, Liebesbrief an den einzigen Heimatplaneten, den wir haben. Ohne moralischen Zeigefinger, mit einer stoischen Akzeptanz des Menschseins, unserer Natur, mahnt er unsere Verantwortung ebenso verständnisvoll wie auch eindringlich an. Mir hat er den Atem geraubt und mich zu Tränen gerührt.
„Wo auch immer die Menschheit hingeht, hinterlässt sie irgendeine Art der Zerstörung, vielleicht liegt es in der Natur allen Lebens, das zu tun.“ S.114
Samantha Harvey gewann mit diesem Buch den BOOKER PRIZE 2024. Julia Wolf hat es grandios übersetzt.