Nach »Kurz vor dem Gewitter« (2003), »Unter freiem Himmel« (2007) und »Ins Reine« (2010) erscheint, rechtzeitig zum siebzigsten Geburtstag Michael Krügers, der neue Band seiner poetisch-lyrischen Naturerkundungen. Es sind Gedichte, die, mit einer Mischung aus Staunen und Reflexion, den Blick auf unsere Lebensverhältnisse richten – hundert Versuche, das zentrifugale Geschehen ohne große Worte, so lapidar wie möglich, zusammenzufassen, um zu einem wie immer flüchtigen Bild von der Welt zu kommen. »Michael Krügers neue Gedichte fügen sich zu einer großen Elegie auf die verschwindende Sichtbarkeit von Welt, die gebrochen, aber nicht resignativ an eine große Tradition der Naturlyrik anknüpft, sich aber zugleich immer wieder als eine sehr persönliche Klage um versäumtes Leben darstellt. …der Lyriker auf der Höhe seiner Kunst«, schrieb Friedmar Apel in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« über »Ins Reine«.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2013In jeder Fußspur lauert der Abschied
Bloß kein Tamtam: Der große Verleger Michael Krüger hört zum Jahresende bei Hanser auf. Vorher schenkt er uns "Umstellung der Zeit" - einen Band mit wunderbaren Gedankengedichten. Und er erfindet ein neues lyrisches Genre.
Umstellung der Zeit"? Wer Michael Krüger als Chef des Hauses Hanser kennt, das er in den fünfundvierzig Jahren seiner Tätigkeit zum führenden belletristischen Verlag in Deutschland gemacht hat, könnte den Titel seines neuen Gedichtbandes zunächst als einen nicht einmal sehr versteckten Hinweis auf seinen bevorstehenden Abschied vom Verlagsgeschäft lesen: Zum Ende des Jahres übergibt Michael Krüger, der am Montag siebzig Jahre alt wird, die Leitung des Verlags an Jo Lendle. Er selbst wird sich verstärkt dem Amt des Präsidenten der Bayerischen Akademie der Schönen Künste zuwenden, das man ihm kürzlich übertragen hat. Eine "Umstellung der Zeit" also gleich in mehrfacher Hinsicht, könnte man meinen: Umstellung vom Berufsleben auf das Rentnerdasein, eine neue Zeiteinteilung, eine Konzentration auf künftige Aufgaben.
Ganz falsch kombiniert? Oder doch nicht so ganz verkehrt gemutmaßt? Das kurze Gedicht "Kein Haiku", aus dem der Titel von Michael Krügers neuem Gedichtband stammt, geht so:
Eine tote Amsel
vor meinem Fenster.
Ich warte eine Stunde
auf die Umstellung
der Zeit.
Gemeint ist also die Zeitumstellung, die zur effektiveren Nutzung des Tageslichts eingerichtet wurde. Wenn man den genauen Zeitpunkt dieser Umstellung abpasst, kann man erleben, wie eine Stunde verlorengeht (Sommerzeit) oder wie sie sich verdoppelt (Winterzeit). Für die "tote Amsel / vor meinem Fenster" ist diese Zeitumstellung irrelevant - Tote haben keine Zeit -, nicht jedoch für das Ich dieses Gedichts. Es leistet sich angesichts des Todes der Amsel vor seinem Fenster den Luxus, eine ganze Stunde seiner Lebenszeit aufs Warten darauf zu verwenden, dass sich die Zeit verflüchtigt oder wiederkehrt, verschwindet oder bleibt.
Man muss kein angehender Pensionär sein, um sich Gedanken dieser Art über die Zeit zu machen. Aber es überrascht denn doch, dass sie ausgerechnet den Michael Krüger beschäftigen, den wir als rast- und ruhelosen Bücherherrn zu kennen glauben, Tag und Nacht befasst mit Lektüre, mit den Herausforderungen des digitalen Zeitalters, der Buchpreisbindung, des Urheberrechts, der Konzentration im Verlagswesen und im Buchhandel, wenn er nicht gerade weltweit an Jurysitzungen teilnimmt, Preis-, Jubiläums- und Gedenkreden vorbereitet und vorträgt, Buchmessen und Ausstellungen eröffnet, Bücher herausgibt, Vor- und Nachworte verfasst, die Zeitschrift "Akzente" redigiert, Konferenzen, Vorlesungen hält - woher, um alles in der Welt, nimmt dieser Mensch bloß die Zeit, über die Zeit nachzudenken und Gedichte zu schreiben über Amseln und Ameisen, über Äpfel und Birken, Krähen, Lupinen und über den Sand im Negev, "der meine Spur nicht halten kann".
Sollte der Sand das denn tun? "In jeder Fußspur lauert der Abschied", heißt es einmal. Michael Krügers neuer Gedichtband entfaltet, unumwunden gesagt, ein einziges hinreißendes Abschiedsszenario aus exakt hundert Gedichten: Es gibt kein großes Tamtam beim Abschied, aber doch eine entschiedene Trennung, einen letzten Schnitt, ausgeführt sogar mit der bedeutungsvollen Sense: "Die Möglichkeiten, Abschied zu nehmen, / werden geringer, also muß das Gras / dran glauben, das unbekümmerte Gras? / dieser Schnitt wird sich nicht wiederholen", liest man da oder anlässlich des Todes einer Birke, die am Pilz und am Schwamm eingeht: "So stelle ich mir den Abschied vor, / die kleinen Untergänge vor der Zeit".
Auch die Amsel "vor meinem Fenster" aus dem erwähnten Gedicht "Kein Haiku" dürfte, ihr selbst unbewusst, "vor der Zeit" gestorben sein. Ein zweites Gedicht, "Die Amsel", beschreibt die näheren Umstände ihres Untergangs: Sie prallt gegen das Fenster und fällt tot hin. "Was kann ich tun?" "Ihr Totenhemd (. . .) ist jetzt befleckt. / Auch das Papier, auf dem ich klären wollte, / wer ich bin, hat sich nun eingeschwärzt / und liegt, in Leichenstarre, vor mir, / nicht zu gebrauchen für ein Liebeslied." Das könnte so etwas wie eine Antwort auf Nora Bossongs Gedicht "Leichtes Gefieder" sein, in dem der tödliche Anprall des Vogels (bei ihr ist es eine Krähe) gegen das Fenster ebenfalls zu einer Absage an das Liebeslied führt.
Veritable Liebeslieder, innig und vielleicht gar noch gereimt, finden sich in Michael Krügers Gedichtband nicht. Er schreibt Gedankengedichte in verständlicher, gebildeter Sprache, anstrengungslos, locker gefügt, leicht hingesagt, wie es scheint; sie verzichten auf den Reim, auf artistische Spielereien und auf Buchstabenakrobatik, sogar die Strophenbildung ist selten; "bis an den Rand gefüllt mit Zweifel", wenden sie sich dem Fragwürdigen und Unbegreiflichen zu, sagen beiläufig Abgründiges und münden nicht selten pointiert in Widersprüche oder Ausweglosigkeiten ein. So beispielsweise in dem Gedicht "Überholt": "Es ist beruhigend, in alten Büchern zu blättern, / die längst überholt sind. Novalis, Hamann, nur so, / ohne tiefere Absicht. Als es noch Tinte gab. / Als man noch etwas vom Leben wollte" - so desillusioniert setzt dieses Gedicht ein, und es schließt, während aus dem Radio die mächtige Musik Gustav Mahlers erklingt: "Ich höre den Grillen zu, / die Mahler zu schätzen wissen. Eine ewige Wiederkehr / in anderer Form, / unverständlich und ganz klar."
Die sogenannte "Natur" nimmt einen überraschend hohen Stellenwert ein in den Gedichten Michael Krügers, den man sich doch eher als einen Schreibtischmenschen vorstellt: mit einem Gedicht über seinen Schreibtisch in Allmannshausen setzt der Gedichtband ein. Er sitzt am Schreibtisch vorm Fenster oder auf der Terrasse, geht spazieren oder radelt in die nähere Umgebung und erfährt die Naturphänomene als seine Gesprächs- und Lebenspartner. Mit menschlichen Empfindungen ausgestattet, denken sie mit: Der Stein lässt sich nicht aus der Fassung bringen, die Birken lachen, die Blätter weinen, der Bussard schreibt sogar mit. Die Naturdinge werden nicht angewispert oder angeraunt; sie sind agil, emotional beteiligt am Denkprozess der Gedichte. Was in der Natur zu sehen ist, gibt kaum Begeisterndes zu denken, weil es in den Kanon der eigenen Vergänglichkeit eingefügt wird. Aber einen ausschließlich autochthonen "Naturlyriker" wird man Krüger dennoch nicht nennen wollen; er präsentiert sich in seinem neuen Gedichtband ebenso als ein Großstadtdichter, ein lyrischer Weltreisender, ein begnadeter Porträtist und gelegentlich sogar als ein still Meditierender.
Unaufgeregt spricht er, mit fester Stimme, weder resignativ noch larmoyant, auch nicht "tapfer", sondern ruhig, gelassen. Sentimentalitäten lässt er gar nicht erst aufkommen, auch dort nicht, wo Erinnerungen an die Kindheit und Schulzeit wachgerufen werden. Ein Anflug von Melancholie, schnell ironisch gebrochen, legt sich über die Verse, denen jeder enthusiastische Überschwang fremd ist. Liebevolle Bewunderung findet sich allenfalls für das traditionelle Linsengericht der Drenka Willen in New York, für Experten der Insekten, der Gräser, des menschlichen Gehirns oder - und dies vor allem - für die lebenden oder verstorbenen Freunde (meist Autoren des Hanser Verlags), denen er Gedichte widmet: er wünscht dem Freund Peter Handke zum 70. Geburtstag augenzwinkernd, halb ironisch und halb bedeutungsvoll, "das Buch mit den leeren Seiten", er träumt sich Claude Simon an die Seite, erinnert sich an eine venezianische Begegnung mit Czeslaw Milosz, begleitet Botho Strauß durch die Uckermark und "würde gern Born wiedersehen", den Dichter der "hohen hellen Lieder", "der hier geschlafen hat, / in diesem Bett, in diesem Hotel".
Mit seinen Hotelgedichten etabliert Krüger - Raoul Schrott ist ihm mit seinem Gedichtband "Hotels" vorangegangen - ein neues lyrisches Genre. Wo der Reisende Station macht, da findet er Unterkünfte für Verstorbene vor. "Nur Tote wohnen hier. (. . .) Man darf kein Gepäck haben, / wenn man hier einziehen will. Sogar Bücher sind verboten", heißt es über ein Hotel bei Erfurt. In einem Hotel in Russland gibt es "Kein warmes Wasser, dafür / ein selbstsüchtiges Licht, / in dem nur Tote lesen können", und ganz New York wird zu einer "Stadt, in der / nur Tote leben".
Michael Krügers jüngster Gedichtband verfährt bei aller zur Schau getragenen Nonchalance kompromissloser und radikaler als seine Vorgänger. Was immer Krüger in seinen Gedichten zur Sprache bringt, gerät in das Magnetfeld des Endes und des Abschieds; es gibt ihm zu denken über Gott und die Welt, allerdings, zum Glück, mehr über die Welt als über Gott, der sich ganz am Ende des Gedichtbandes sympathetisch bemerkbar macht: "Alles zittert. / Und Gott zittert auch." Ja, wovor zittert er denn? Doch wohl vor dem, was nach dem Ende kommt: "eine Welt" nämlich, "wo keiner / das Lebewohl mehr versteht", das Abschiedswort also. Vielleicht aber zittern Gott und die Welt auch nur vor Michael Krügers nächstem Buch "Das Testament", einem Roman, an dem er, wie man hört, zurzeit arbeitet.
WULF SEGEBRECHT
Michael Krüger: "Umstellung der Zeit". Gedichte.
Suhrkamp Verlag Berlin 2013. 122 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bloß kein Tamtam: Der große Verleger Michael Krüger hört zum Jahresende bei Hanser auf. Vorher schenkt er uns "Umstellung der Zeit" - einen Band mit wunderbaren Gedankengedichten. Und er erfindet ein neues lyrisches Genre.
Umstellung der Zeit"? Wer Michael Krüger als Chef des Hauses Hanser kennt, das er in den fünfundvierzig Jahren seiner Tätigkeit zum führenden belletristischen Verlag in Deutschland gemacht hat, könnte den Titel seines neuen Gedichtbandes zunächst als einen nicht einmal sehr versteckten Hinweis auf seinen bevorstehenden Abschied vom Verlagsgeschäft lesen: Zum Ende des Jahres übergibt Michael Krüger, der am Montag siebzig Jahre alt wird, die Leitung des Verlags an Jo Lendle. Er selbst wird sich verstärkt dem Amt des Präsidenten der Bayerischen Akademie der Schönen Künste zuwenden, das man ihm kürzlich übertragen hat. Eine "Umstellung der Zeit" also gleich in mehrfacher Hinsicht, könnte man meinen: Umstellung vom Berufsleben auf das Rentnerdasein, eine neue Zeiteinteilung, eine Konzentration auf künftige Aufgaben.
Ganz falsch kombiniert? Oder doch nicht so ganz verkehrt gemutmaßt? Das kurze Gedicht "Kein Haiku", aus dem der Titel von Michael Krügers neuem Gedichtband stammt, geht so:
Eine tote Amsel
vor meinem Fenster.
Ich warte eine Stunde
auf die Umstellung
der Zeit.
Gemeint ist also die Zeitumstellung, die zur effektiveren Nutzung des Tageslichts eingerichtet wurde. Wenn man den genauen Zeitpunkt dieser Umstellung abpasst, kann man erleben, wie eine Stunde verlorengeht (Sommerzeit) oder wie sie sich verdoppelt (Winterzeit). Für die "tote Amsel / vor meinem Fenster" ist diese Zeitumstellung irrelevant - Tote haben keine Zeit -, nicht jedoch für das Ich dieses Gedichts. Es leistet sich angesichts des Todes der Amsel vor seinem Fenster den Luxus, eine ganze Stunde seiner Lebenszeit aufs Warten darauf zu verwenden, dass sich die Zeit verflüchtigt oder wiederkehrt, verschwindet oder bleibt.
Man muss kein angehender Pensionär sein, um sich Gedanken dieser Art über die Zeit zu machen. Aber es überrascht denn doch, dass sie ausgerechnet den Michael Krüger beschäftigen, den wir als rast- und ruhelosen Bücherherrn zu kennen glauben, Tag und Nacht befasst mit Lektüre, mit den Herausforderungen des digitalen Zeitalters, der Buchpreisbindung, des Urheberrechts, der Konzentration im Verlagswesen und im Buchhandel, wenn er nicht gerade weltweit an Jurysitzungen teilnimmt, Preis-, Jubiläums- und Gedenkreden vorbereitet und vorträgt, Buchmessen und Ausstellungen eröffnet, Bücher herausgibt, Vor- und Nachworte verfasst, die Zeitschrift "Akzente" redigiert, Konferenzen, Vorlesungen hält - woher, um alles in der Welt, nimmt dieser Mensch bloß die Zeit, über die Zeit nachzudenken und Gedichte zu schreiben über Amseln und Ameisen, über Äpfel und Birken, Krähen, Lupinen und über den Sand im Negev, "der meine Spur nicht halten kann".
Sollte der Sand das denn tun? "In jeder Fußspur lauert der Abschied", heißt es einmal. Michael Krügers neuer Gedichtband entfaltet, unumwunden gesagt, ein einziges hinreißendes Abschiedsszenario aus exakt hundert Gedichten: Es gibt kein großes Tamtam beim Abschied, aber doch eine entschiedene Trennung, einen letzten Schnitt, ausgeführt sogar mit der bedeutungsvollen Sense: "Die Möglichkeiten, Abschied zu nehmen, / werden geringer, also muß das Gras / dran glauben, das unbekümmerte Gras? / dieser Schnitt wird sich nicht wiederholen", liest man da oder anlässlich des Todes einer Birke, die am Pilz und am Schwamm eingeht: "So stelle ich mir den Abschied vor, / die kleinen Untergänge vor der Zeit".
Auch die Amsel "vor meinem Fenster" aus dem erwähnten Gedicht "Kein Haiku" dürfte, ihr selbst unbewusst, "vor der Zeit" gestorben sein. Ein zweites Gedicht, "Die Amsel", beschreibt die näheren Umstände ihres Untergangs: Sie prallt gegen das Fenster und fällt tot hin. "Was kann ich tun?" "Ihr Totenhemd (. . .) ist jetzt befleckt. / Auch das Papier, auf dem ich klären wollte, / wer ich bin, hat sich nun eingeschwärzt / und liegt, in Leichenstarre, vor mir, / nicht zu gebrauchen für ein Liebeslied." Das könnte so etwas wie eine Antwort auf Nora Bossongs Gedicht "Leichtes Gefieder" sein, in dem der tödliche Anprall des Vogels (bei ihr ist es eine Krähe) gegen das Fenster ebenfalls zu einer Absage an das Liebeslied führt.
Veritable Liebeslieder, innig und vielleicht gar noch gereimt, finden sich in Michael Krügers Gedichtband nicht. Er schreibt Gedankengedichte in verständlicher, gebildeter Sprache, anstrengungslos, locker gefügt, leicht hingesagt, wie es scheint; sie verzichten auf den Reim, auf artistische Spielereien und auf Buchstabenakrobatik, sogar die Strophenbildung ist selten; "bis an den Rand gefüllt mit Zweifel", wenden sie sich dem Fragwürdigen und Unbegreiflichen zu, sagen beiläufig Abgründiges und münden nicht selten pointiert in Widersprüche oder Ausweglosigkeiten ein. So beispielsweise in dem Gedicht "Überholt": "Es ist beruhigend, in alten Büchern zu blättern, / die längst überholt sind. Novalis, Hamann, nur so, / ohne tiefere Absicht. Als es noch Tinte gab. / Als man noch etwas vom Leben wollte" - so desillusioniert setzt dieses Gedicht ein, und es schließt, während aus dem Radio die mächtige Musik Gustav Mahlers erklingt: "Ich höre den Grillen zu, / die Mahler zu schätzen wissen. Eine ewige Wiederkehr / in anderer Form, / unverständlich und ganz klar."
Die sogenannte "Natur" nimmt einen überraschend hohen Stellenwert ein in den Gedichten Michael Krügers, den man sich doch eher als einen Schreibtischmenschen vorstellt: mit einem Gedicht über seinen Schreibtisch in Allmannshausen setzt der Gedichtband ein. Er sitzt am Schreibtisch vorm Fenster oder auf der Terrasse, geht spazieren oder radelt in die nähere Umgebung und erfährt die Naturphänomene als seine Gesprächs- und Lebenspartner. Mit menschlichen Empfindungen ausgestattet, denken sie mit: Der Stein lässt sich nicht aus der Fassung bringen, die Birken lachen, die Blätter weinen, der Bussard schreibt sogar mit. Die Naturdinge werden nicht angewispert oder angeraunt; sie sind agil, emotional beteiligt am Denkprozess der Gedichte. Was in der Natur zu sehen ist, gibt kaum Begeisterndes zu denken, weil es in den Kanon der eigenen Vergänglichkeit eingefügt wird. Aber einen ausschließlich autochthonen "Naturlyriker" wird man Krüger dennoch nicht nennen wollen; er präsentiert sich in seinem neuen Gedichtband ebenso als ein Großstadtdichter, ein lyrischer Weltreisender, ein begnadeter Porträtist und gelegentlich sogar als ein still Meditierender.
Unaufgeregt spricht er, mit fester Stimme, weder resignativ noch larmoyant, auch nicht "tapfer", sondern ruhig, gelassen. Sentimentalitäten lässt er gar nicht erst aufkommen, auch dort nicht, wo Erinnerungen an die Kindheit und Schulzeit wachgerufen werden. Ein Anflug von Melancholie, schnell ironisch gebrochen, legt sich über die Verse, denen jeder enthusiastische Überschwang fremd ist. Liebevolle Bewunderung findet sich allenfalls für das traditionelle Linsengericht der Drenka Willen in New York, für Experten der Insekten, der Gräser, des menschlichen Gehirns oder - und dies vor allem - für die lebenden oder verstorbenen Freunde (meist Autoren des Hanser Verlags), denen er Gedichte widmet: er wünscht dem Freund Peter Handke zum 70. Geburtstag augenzwinkernd, halb ironisch und halb bedeutungsvoll, "das Buch mit den leeren Seiten", er träumt sich Claude Simon an die Seite, erinnert sich an eine venezianische Begegnung mit Czeslaw Milosz, begleitet Botho Strauß durch die Uckermark und "würde gern Born wiedersehen", den Dichter der "hohen hellen Lieder", "der hier geschlafen hat, / in diesem Bett, in diesem Hotel".
Mit seinen Hotelgedichten etabliert Krüger - Raoul Schrott ist ihm mit seinem Gedichtband "Hotels" vorangegangen - ein neues lyrisches Genre. Wo der Reisende Station macht, da findet er Unterkünfte für Verstorbene vor. "Nur Tote wohnen hier. (. . .) Man darf kein Gepäck haben, / wenn man hier einziehen will. Sogar Bücher sind verboten", heißt es über ein Hotel bei Erfurt. In einem Hotel in Russland gibt es "Kein warmes Wasser, dafür / ein selbstsüchtiges Licht, / in dem nur Tote lesen können", und ganz New York wird zu einer "Stadt, in der / nur Tote leben".
Michael Krügers jüngster Gedichtband verfährt bei aller zur Schau getragenen Nonchalance kompromissloser und radikaler als seine Vorgänger. Was immer Krüger in seinen Gedichten zur Sprache bringt, gerät in das Magnetfeld des Endes und des Abschieds; es gibt ihm zu denken über Gott und die Welt, allerdings, zum Glück, mehr über die Welt als über Gott, der sich ganz am Ende des Gedichtbandes sympathetisch bemerkbar macht: "Alles zittert. / Und Gott zittert auch." Ja, wovor zittert er denn? Doch wohl vor dem, was nach dem Ende kommt: "eine Welt" nämlich, "wo keiner / das Lebewohl mehr versteht", das Abschiedswort also. Vielleicht aber zittern Gott und die Welt auch nur vor Michael Krügers nächstem Buch "Das Testament", einem Roman, an dem er, wie man hört, zurzeit arbeitet.
WULF SEGEBRECHT
Michael Krüger: "Umstellung der Zeit". Gedichte.
Suhrkamp Verlag Berlin 2013. 122 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Voller Bewunderung bespricht Rezensent Wulf Segebrecht Michael Krügers neuen Gedichtband "Umstellung der Zeit". Zunächst einmal fragt sich der Kritiker erstaunt, wie Krüger, der seine Stellung als Chef des Hanser Verlags zwar dieses Jahr aufgibt, nach wie vor aber mit Jurysitzungen, Buchmessen, Konferenzen, Ausstellungen, dem Lektorat der Zeitschrift "Akzente" etc. beschäftigt ist, überhaupt die Zeit findet, Lyrik zu schreiben. Und dann ist sie auch noch derart brillant, dass Segebrecht ganz vertieft in den hundert Gedichten liest, die von Natur, Abschied, Kindheit, oder Krügers Freunden - Botho Strauß oder Peter Handke - handeln. Gebildete, unaufgeregte und unangestrengte "Gedankengedichte" ganz ohne Reime, Spielereien oder Sentimentalitäten findet der Rezensent hier. Krüger erscheint ihm nicht nur als Großstadtdichter, sondern auch als "lyrischer Weltreisender". Und dass er mit seinen Hotelgedichten ganz nebenbei noch ein neues lyrisches Genre erfindet, lässt den Kritiker vollends ehrfürchtig zurück.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.10.2013Das hilfsbereite Herz der Wörter
„Alles zittert. Und Gott zittert auch.“ – Hundert neue Gedichte von Michael Krüger
Das lyrische Ich hat keinen Schreibtisch. Wenn Michael Krüger einem Gedicht den Titel „Mein Schreibtisch in Allmannshausen“ gibt – es ist das erste im neuen Gedichtband „Umstellung der Zeit“ –, dann lenkt er unsere Aufmerksamkeit auf ein Grundproblem des lyrischen Sprechens und auf seine Doppelrolle als lyrisches Ich und biografische Person. Sein ernstes Spiel mit dem Ich ist nicht nur kunstvoll, es ist auch intellektuell spannend, und oft genug macht es betroffen.
Auch in den sieben ersten Versen dieses Gedichts ist das biografische Ich eine Art Maske für das lyrische: „im Haus nebenan“ habe einst Mussolinis Außenminister gewohnt, „ein Haus weiter Hitlers Lieblingsdichter Hanns Johst“; ansonsten sind Kühe, Eichhörnchen, Pferde zu sehen und die Autobahn zu hören, aber dann ist da plötzlich so etwas wie eine andere Stimme, die sagt: „Man wird nicht angehalten, dem Menschen Gutes zu unterstellen.“ Und wenn nach diesem Einwurf die erste Stimme wieder ertönt, spricht sie eine phantasmagorische Reflexion des Ich: „Wenn die Sonne sinkt, sehe ich mich / im Fenster, aber natürlich können auch Spiegel irren.“
Diese beiden Verse gehören gewiss zur Szene des Dichters am Schreibtisch, sie bilden aber auch eine Pointe, die allein stehen könnte, außerhalb ihres Kontextes – wie Tausende Geistesblitze, Aphorismen, Sentenzen in der Prosa von Ramón Gómez de la Serna (1888–1963), dem spanischen Avantgardisten, von dem Michael Krüger das Motto entlehnt hat, das diesem Gedicht unmittelbar vorausgeht.
Ganz im Geiste seines Zeitalters faszinierten den angehenden Surrealisten das Absurde oder auch nur das Überraschende, Schockierende in ganz kurzen Texten, für die er eine neue Gattung postulierte, die Greguería. Abgeleitet vom Adjektiv „griego“, nicht im Sinne von „griechisch“, sondern von „fremd und unverständlich“, soll sie Humor und Metapher mischen. Das Motto ist zwar keine spektakuläre Greguería („Die Vernunft trägt immer Trauer“), aber es weist in die Richtung, in die Michael Krüger seine Leserinnen und Leser führen möchte. Seine „Greguerías“, wenn wir sie denn so nennen wollen, sind zurückhaltend, ohne den intellektuell auftrumpfenden Ton der Prosa des Avantgardisten, immer auch geheimnisvoll – und in Versen.
Auch aus dem Zusammenhang gelöst repräsentieren sie noch das Ganze einer poetischen Botschaft, die sich durch alle hundert Gedichte hindurchschlängelt: „Alles zittert. / Und Gott zittert auch.“ Es ist dies die letzte, ganz kurze Strophe des Gedichts „Lichtung“, das den Band beschließt. Es spricht vom „Drama der Blätter“, „wenn sie fallen“, denn „Blätter beweinen die Toten.“ Das Licht macht in den Gedichten Michael Krügers vor allem den Schatten sichtbar, genauer gesagt das Dunkel, welches unser Leben einrahmt, und noch genauer gesagt, den Tod.
Diese genau hundert Gedichte bilden nach „Kurz vor dem Gewitter“ (2003), „Unter freiem Himmel“ (2007) und „Ins Reine“ (2010) einen vierten Band in der gleichen schönen Ausstattung. Die Gedichte sind auf vier Kapitel verteilt, diesmal ohne Kapitelüberschriften. Nur die Motti laden ein, nach einem Zusammenhang zu suchen. In der ersten Abteilung greifen mehrere Gedichte auf Erinnerungen zurück, sprechen mit der Stimme des Alters: „Ein Wort fällt mir ein: Lupinen, / es führt mich zurück in die Kindheit“, „Erinnerung an die Schule“, „Klassentreffen“. Das „Fotoalbum“ zeigt kein Idyll, sondern beispielsweise Herrn Rohde „mit dem starren Blick / eines Kutschers, er sprang aus dem Fenster“. Dann unvermittelt: „Unika Zürn“: ja, auch sie, die Künstlerin und Dichterin von Anagrammen, sprang in Paris aus dem Fenster, mit 54 Jahren, am 19. Oktober 1970.
Die zweite Abteilung steht unter dem Motto eines Bantu-Sprichworts: „Wer den Weg tötet, der tötet auch den Wanderer“ und enthält vorwiegend Gedichte mit Eindrücken von Reisen – freilich in Schattenreiche, wie zum Beispiel Russland: „ein selbstsüchtiges Licht, / in dem nur Tote lesen können“ – und ganz selten einmal so etwas wie Humor für eine Postkarten-Greguería aus Indien: „Am Sonntag, nach dem Frühstück, / regeln heilige Kühe den Verkehr / vor dem Palast der Winde. / Sie schweigen Sanskrit.“
Die dritte Abteilung zitiert ein Motto aus Alfred Brehms Reisen im Sudan: „Von jedem Hügel aus hofften wir den Strom zu erblicken: wir hofften immer vergebens.“ Vielleicht könnte hier die Überschrift wie in einem früheren Bändchen „Im Gespräch mit den Freunden“ heißen. Da gibt es eine Gratulation zu Handkes Siebzigstem, Gedenken an Nicolas Born, Claude Simon, Zev Birger. Es erscheint ihm Czeslaw Milosz: „und ich sah mich, mitten in Venedig, / auf einer Bank sitzen, die für den Tod / reserviert war. . . . “. Man sah ihm den Tod nicht an, / wie er so dastand und Gedichte aufsagte.“ Die vierte Abteilung zitiert wieder eine Greguería, aber diesmal von dem slowenischen Dichter Aleš Šteger: „Es war das Jahr, in dem sie das Ministerium für Wetter auflösten.“ Wetter und Natur haben hier tatsächlich oft das Wort. Einmal, wie in einem schönen Traum, verläuft der Tod sich im Schnee: „Wir lieben den Schnee, / wenn die Wege aussehen wie die Ränder / von Traueranzeigen. Großspurig / läuft der Tod dem Leben davon, / schon ist er im Weiß verschwunden.“
Amsel, Apfelbaum, Garten, Fenster, Krähen, Vögel überhaupt, Wind und Sturm, Bäume, Lupinen und Knöterich: In Krügers Gedichten ist in vielen Jahren ein Vorrat eigener poetischer Motive entstanden. Sie bleiben in der Wirklichkeit verwurzelt und sind auch nach wiederholtem Gebrauch keine Chiffren mit festgelegter geheimer Bedeutung geworden. Freilich sind sie immer wieder die Quelle von Aussagen über die Unausweichlichkeit des Todes und, ja, die Genugtuung, ihm ins Auge zu blicken. Der Tod tritt dabei kaum je persönlich auf, er wird projiziert in „die Toten“.
Die Natur lässt sie ungerührt verwesen und verschwinden, allein im Geiste der Lebenden gibt es sie noch, und dass es sie noch gibt, ist unheimlich: einzeln und beinahe glücklich wie Czeslaw Milosz in Venedig, ungezählt und anonym trotz jenen Mathematikers, von dem ein Taxifahrer in Erfurt erzählte, „’45 gestorben, / der wusste die Zahl / aller Toten auf Erden.“ Es lässt sich aber nichts über die Toten sagen, ohne sie lebendig zu machen. Die Schattenwelt der Antike, Himmel, Fegefeuer und Hölle, der Makabertanz des Mittelalters stehen uns näher, als wir zugeben wollen im herbstlichen Strandcafé: „auf den schon angeketteten Stühlen / sitzen die Toten und trinken Wein / auf unsere Kosten.“
Ein Gedicht erscheint uns wie die Quintessenz der Poetik dieses Dichters. Es heißt „Die Amsel“ und berichtet, wie der Sturm die Apfelbäume fleddert und eine Amsel gegen das Fenster schleudert: „Die Scheibe zittert leicht vom Aufprall, / dann fällt der Vogel. Was kann ich tun?/ Ihr Totenhemd, das schwarze . . . ist jetzt befleckt. / Auch das Papier, auf dem ich klären wollte, / wer ich bin, hat sich nun eingeschwärzt / und liegt, in Leichenstarre, vor mir, / nicht zu gebrauchen für ein Liebeslied.“
Der Schlussvers macht das Gedicht immun gegen alle Betulichkeit, die hier durchsickern könnte. Und plötzlich fällt auf, dass unter den hundert Gedichten kein Liebeslied zu finden ist und im vorigen Band unter „Alter Taschenkalender 1966“ stand: „Versuche, ein Liebesgedicht zu schreiben, / aufgegeben“, und im vorletzten „Das Wort Liebe lernte ich auswendig, / um es nicht gebrauchen zu müssen.“
Nur in einem Gedicht mit dem Titel „Dämmern“, in dem vom Abschied die Rede ist, heißt es: „ein letztes Schiff fährt vorbei, / an Bord werden Schlager gesungen / über eine Liebe, die nicht vergeht.“ Wer sich in die poetische Welt Michael Krügers vertieft, wird eine Liebe spüren, die sich in jedem Gedicht erneuert und sich auch in jenem letzten Gedicht „Lichtung“ ausspricht, das mit dem Zittern Gottes schließt: „Die kommende Welt, / durchs böse Auge gesehen, / nimmt ihren Anfang / im hilfsbereiten Herzen der Wörter.“ Michael Krügers Gedichte sprechen nicht von der Liebe, aber ihre untröstliche Schönheit, ihre Noblesse und ihren Ernst kann man lieben, und sie verdienen es.
HANS-HERBERT RÄKEL
Michael Krüger: Umstellung der Zeit. Gedichte. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2013. 117 Seiten, 18,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Alles zittert. Und Gott zittert auch.“ – Hundert neue Gedichte von Michael Krüger
Das lyrische Ich hat keinen Schreibtisch. Wenn Michael Krüger einem Gedicht den Titel „Mein Schreibtisch in Allmannshausen“ gibt – es ist das erste im neuen Gedichtband „Umstellung der Zeit“ –, dann lenkt er unsere Aufmerksamkeit auf ein Grundproblem des lyrischen Sprechens und auf seine Doppelrolle als lyrisches Ich und biografische Person. Sein ernstes Spiel mit dem Ich ist nicht nur kunstvoll, es ist auch intellektuell spannend, und oft genug macht es betroffen.
Auch in den sieben ersten Versen dieses Gedichts ist das biografische Ich eine Art Maske für das lyrische: „im Haus nebenan“ habe einst Mussolinis Außenminister gewohnt, „ein Haus weiter Hitlers Lieblingsdichter Hanns Johst“; ansonsten sind Kühe, Eichhörnchen, Pferde zu sehen und die Autobahn zu hören, aber dann ist da plötzlich so etwas wie eine andere Stimme, die sagt: „Man wird nicht angehalten, dem Menschen Gutes zu unterstellen.“ Und wenn nach diesem Einwurf die erste Stimme wieder ertönt, spricht sie eine phantasmagorische Reflexion des Ich: „Wenn die Sonne sinkt, sehe ich mich / im Fenster, aber natürlich können auch Spiegel irren.“
Diese beiden Verse gehören gewiss zur Szene des Dichters am Schreibtisch, sie bilden aber auch eine Pointe, die allein stehen könnte, außerhalb ihres Kontextes – wie Tausende Geistesblitze, Aphorismen, Sentenzen in der Prosa von Ramón Gómez de la Serna (1888–1963), dem spanischen Avantgardisten, von dem Michael Krüger das Motto entlehnt hat, das diesem Gedicht unmittelbar vorausgeht.
Ganz im Geiste seines Zeitalters faszinierten den angehenden Surrealisten das Absurde oder auch nur das Überraschende, Schockierende in ganz kurzen Texten, für die er eine neue Gattung postulierte, die Greguería. Abgeleitet vom Adjektiv „griego“, nicht im Sinne von „griechisch“, sondern von „fremd und unverständlich“, soll sie Humor und Metapher mischen. Das Motto ist zwar keine spektakuläre Greguería („Die Vernunft trägt immer Trauer“), aber es weist in die Richtung, in die Michael Krüger seine Leserinnen und Leser führen möchte. Seine „Greguerías“, wenn wir sie denn so nennen wollen, sind zurückhaltend, ohne den intellektuell auftrumpfenden Ton der Prosa des Avantgardisten, immer auch geheimnisvoll – und in Versen.
Auch aus dem Zusammenhang gelöst repräsentieren sie noch das Ganze einer poetischen Botschaft, die sich durch alle hundert Gedichte hindurchschlängelt: „Alles zittert. / Und Gott zittert auch.“ Es ist dies die letzte, ganz kurze Strophe des Gedichts „Lichtung“, das den Band beschließt. Es spricht vom „Drama der Blätter“, „wenn sie fallen“, denn „Blätter beweinen die Toten.“ Das Licht macht in den Gedichten Michael Krügers vor allem den Schatten sichtbar, genauer gesagt das Dunkel, welches unser Leben einrahmt, und noch genauer gesagt, den Tod.
Diese genau hundert Gedichte bilden nach „Kurz vor dem Gewitter“ (2003), „Unter freiem Himmel“ (2007) und „Ins Reine“ (2010) einen vierten Band in der gleichen schönen Ausstattung. Die Gedichte sind auf vier Kapitel verteilt, diesmal ohne Kapitelüberschriften. Nur die Motti laden ein, nach einem Zusammenhang zu suchen. In der ersten Abteilung greifen mehrere Gedichte auf Erinnerungen zurück, sprechen mit der Stimme des Alters: „Ein Wort fällt mir ein: Lupinen, / es führt mich zurück in die Kindheit“, „Erinnerung an die Schule“, „Klassentreffen“. Das „Fotoalbum“ zeigt kein Idyll, sondern beispielsweise Herrn Rohde „mit dem starren Blick / eines Kutschers, er sprang aus dem Fenster“. Dann unvermittelt: „Unika Zürn“: ja, auch sie, die Künstlerin und Dichterin von Anagrammen, sprang in Paris aus dem Fenster, mit 54 Jahren, am 19. Oktober 1970.
Die zweite Abteilung steht unter dem Motto eines Bantu-Sprichworts: „Wer den Weg tötet, der tötet auch den Wanderer“ und enthält vorwiegend Gedichte mit Eindrücken von Reisen – freilich in Schattenreiche, wie zum Beispiel Russland: „ein selbstsüchtiges Licht, / in dem nur Tote lesen können“ – und ganz selten einmal so etwas wie Humor für eine Postkarten-Greguería aus Indien: „Am Sonntag, nach dem Frühstück, / regeln heilige Kühe den Verkehr / vor dem Palast der Winde. / Sie schweigen Sanskrit.“
Die dritte Abteilung zitiert ein Motto aus Alfred Brehms Reisen im Sudan: „Von jedem Hügel aus hofften wir den Strom zu erblicken: wir hofften immer vergebens.“ Vielleicht könnte hier die Überschrift wie in einem früheren Bändchen „Im Gespräch mit den Freunden“ heißen. Da gibt es eine Gratulation zu Handkes Siebzigstem, Gedenken an Nicolas Born, Claude Simon, Zev Birger. Es erscheint ihm Czeslaw Milosz: „und ich sah mich, mitten in Venedig, / auf einer Bank sitzen, die für den Tod / reserviert war. . . . “. Man sah ihm den Tod nicht an, / wie er so dastand und Gedichte aufsagte.“ Die vierte Abteilung zitiert wieder eine Greguería, aber diesmal von dem slowenischen Dichter Aleš Šteger: „Es war das Jahr, in dem sie das Ministerium für Wetter auflösten.“ Wetter und Natur haben hier tatsächlich oft das Wort. Einmal, wie in einem schönen Traum, verläuft der Tod sich im Schnee: „Wir lieben den Schnee, / wenn die Wege aussehen wie die Ränder / von Traueranzeigen. Großspurig / läuft der Tod dem Leben davon, / schon ist er im Weiß verschwunden.“
Amsel, Apfelbaum, Garten, Fenster, Krähen, Vögel überhaupt, Wind und Sturm, Bäume, Lupinen und Knöterich: In Krügers Gedichten ist in vielen Jahren ein Vorrat eigener poetischer Motive entstanden. Sie bleiben in der Wirklichkeit verwurzelt und sind auch nach wiederholtem Gebrauch keine Chiffren mit festgelegter geheimer Bedeutung geworden. Freilich sind sie immer wieder die Quelle von Aussagen über die Unausweichlichkeit des Todes und, ja, die Genugtuung, ihm ins Auge zu blicken. Der Tod tritt dabei kaum je persönlich auf, er wird projiziert in „die Toten“.
Die Natur lässt sie ungerührt verwesen und verschwinden, allein im Geiste der Lebenden gibt es sie noch, und dass es sie noch gibt, ist unheimlich: einzeln und beinahe glücklich wie Czeslaw Milosz in Venedig, ungezählt und anonym trotz jenen Mathematikers, von dem ein Taxifahrer in Erfurt erzählte, „’45 gestorben, / der wusste die Zahl / aller Toten auf Erden.“ Es lässt sich aber nichts über die Toten sagen, ohne sie lebendig zu machen. Die Schattenwelt der Antike, Himmel, Fegefeuer und Hölle, der Makabertanz des Mittelalters stehen uns näher, als wir zugeben wollen im herbstlichen Strandcafé: „auf den schon angeketteten Stühlen / sitzen die Toten und trinken Wein / auf unsere Kosten.“
Ein Gedicht erscheint uns wie die Quintessenz der Poetik dieses Dichters. Es heißt „Die Amsel“ und berichtet, wie der Sturm die Apfelbäume fleddert und eine Amsel gegen das Fenster schleudert: „Die Scheibe zittert leicht vom Aufprall, / dann fällt der Vogel. Was kann ich tun?/ Ihr Totenhemd, das schwarze . . . ist jetzt befleckt. / Auch das Papier, auf dem ich klären wollte, / wer ich bin, hat sich nun eingeschwärzt / und liegt, in Leichenstarre, vor mir, / nicht zu gebrauchen für ein Liebeslied.“
Der Schlussvers macht das Gedicht immun gegen alle Betulichkeit, die hier durchsickern könnte. Und plötzlich fällt auf, dass unter den hundert Gedichten kein Liebeslied zu finden ist und im vorigen Band unter „Alter Taschenkalender 1966“ stand: „Versuche, ein Liebesgedicht zu schreiben, / aufgegeben“, und im vorletzten „Das Wort Liebe lernte ich auswendig, / um es nicht gebrauchen zu müssen.“
Nur in einem Gedicht mit dem Titel „Dämmern“, in dem vom Abschied die Rede ist, heißt es: „ein letztes Schiff fährt vorbei, / an Bord werden Schlager gesungen / über eine Liebe, die nicht vergeht.“ Wer sich in die poetische Welt Michael Krügers vertieft, wird eine Liebe spüren, die sich in jedem Gedicht erneuert und sich auch in jenem letzten Gedicht „Lichtung“ ausspricht, das mit dem Zittern Gottes schließt: „Die kommende Welt, / durchs böse Auge gesehen, / nimmt ihren Anfang / im hilfsbereiten Herzen der Wörter.“ Michael Krügers Gedichte sprechen nicht von der Liebe, aber ihre untröstliche Schönheit, ihre Noblesse und ihren Ernst kann man lieben, und sie verdienen es.
HANS-HERBERT RÄKEL
Michael Krüger: Umstellung der Zeit. Gedichte. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2013. 117 Seiten, 18,95 Euro.
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»'Manchmal blitzt es unten auf', heisst es im Gedicht 'Flug nach Instanbul', 'wahrscheinlich ein verlaufenes Kind, I das mit einem Spiegel Signale sendet. I Das bin doch ich. möchte ich rufen.' Ein heiteres und zugleich melancholisches Bild. Solche Signale zu senden, gelingt Michael Krüger in diesem Gedichtband auf höchst berückende Weise.« Martin Zingg Neue Zürcher Zeitung 20140531