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Fraternisieren lag ihm: Zehn Jahre nach seinem Tod erscheint das Tagebuch des Publizisten Melvin Lasky über die letzten Tage des Dritten Reiches und den Beginn der Besatzungszeit.
Von Stephan Sattler
Dieses Tagebuch enthält eine Überraschung: Es gibt wohl keine Aufzeichnungen eines amerikanischen Soldaten über die Niederwerfung des "Großdeutschen Reiches" im Jahr 1945, die so einfühlsam, mit so viel Sympathie für die deutsche Bevölkerung und mit so viel Bewunderung für die deutsche Kultur niedergeschrieben wurden. Die zerbombten deutschen Städte, dieser Anblick der Zerstörung trifft den damals fünfundzwanzigjährigen Melvin Lasky ganz unvorbereitet. Er erlebt sich als Sieger, Feind, Fremder und Freund, ein verwirrendes Rollenspiel, das an seinem Selbstvertrauen nagt. Die Invasion der 7. US-Army, in der er als "combat historian" - als eine Art Quellensammler und Autor von Lageberichten für die spätere Militärgeschichtsschreibung - fungiert, sieht er im Chaos enden. Auf die Deutschen warte, seinem Urteil nach, eine völlig ungewisse Zukunft.
Der Publizist und Ideenhistoriker Melvin Lasky starb 2004 in Berlin. Den meisten ist er vermutlich als Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift "Der Monat" und des Londoner Intellektuellenblattes "Encounter" bekannt. Beide Zeitschriften fielen durch eine Besonderheit auf: Autoren konnten in ihnen kontroverse Meinungen und Weltanschauungen vertreten. Lasky nannte das "geistige Unabhängigkeit", meinte damit aber vor allem den Wettstreit zwischen herausragenden, auf ihre Autorität pochenden Großintellektuellen wie Albert Camus, George Orwell, Arthur Koestler, Manès Sperber oder Ignazio Silone.
Der 1920 in der New Yorker Bronx geborene Lasky galt vielen als eingefleischter Antikommunist, als Veteran des Kalten Krieges, seit er zusammen mit dem Philosophen Sidney Hook im Jahr 1950 in West-Berlin die "Konferenz für kulturelle Freiheit", eine Zusammenkunft stalinkritischer Schriftsteller und Publizisten, organisiert hatte. Linksorientierte Kontrahenten unterstellten ihm gerne, von West-Berlin und später von London aus die Intellektuellenszenen Europas mit antisowjetischen Argumenten infiltriert zu haben.
Wenige Jahre zuvor erleben wir nun einen Autor, der sich empört über die Erschießungen Verdächtiger durch GIs, über den Einsatz der Artillerie in schon eroberten Gebieten und die Bombenabwürfe auf Stellungen des längst unterlegenen Feindes. Die unklare Strategie der amerikanischen Generäle im besetzten Gebiet und die generelle Vertrauensseligkeit gegenüber dem sowjetischen Bündnispartner kritisiert er scharf. Kurz: Lasky entpuppt sich keineswegs als Befürworter der amerikanischen Kriegführung und als Apostel der amerikanischen Mission.
Das Klischee vom amerikanischen Kulturagenten Lasky, an dem kaum noch jemand festgehalten hat, verliert dadurch seine letzte Evidenz. Hier schreibt ein junger sozialkritischer Mann, dem die Prägung durch einen Diskussionskreis am New Yorker City College Anfang der vierziger Jahre deutlich anzumerken ist. Zu dem Studentenkreis gehörten Irving Kristol, Seymour Lipset, Irving Howe und Daniel Bell: trotzkistische Juden, die alle Stalin vehement ablehnten, später zu erfolgreichen Wissenschaftlern und Publizisten aufstiegen und politisch der liberalen oder der neokonservativen Richtung angehörten.
Immer wieder kommt Lasky auf die Frage, welcher Klasse die Menschen sich zugehörig fühlen, auf die er zunächst Anfang 1945 im Elsass, danach in Südwestdeutschland trifft. Er stellt sich die Frage: Hat der Sozialismus in Europa eine Chance? Und dann beschäftigen ihn, besonders, als er Mitte 1945 in Berlin eintrifft, die Propagandatricks der "Sowjetmacht", der Kult um Stalin, die riesigen Plakate im Ostsektor, auf denen Stalin aufs Publikum herabschaut. Die scharfe Ablehnung des "roten Diktators" folgt der trotzkistischen Devise, Stalin habe die Sache der Oktoberrevolution verraten.
Die Teilung der Welt in Ost und West ahnt Lasky schon sehr früh voraus und macht dafür die amerikanische Außenpolitik verantwortlich, die an einem Bündnis mit Stalin festhält, obwohl der in den von der "Rotarmee" kontrollierten Gebieten Osteuropas soziale und politische Fakten schafft. War Lasky damals ein "Radikaler"? Ja, aber vor allem ein "Unangepasster", einer, dem es immer auch um ästhetische Fragen, um Literatur und die Historie Deutschlands geht.
Man begegnet einem äußerst belesenen jungen Mann, der über deutsche Kultur und Literatur so viel weiß, dass man als Leser nur staunen kann. Er zitiert Kafka wie selbstverständlich. Im weniger zerstörten Heidelberg, das ihm von allen deutschen Städten am besten gefällt, trifft er auf Marianne Weber und pflegt mit ihr Konversationen über ihren 1920 verstorbenen Mann, Max Weber, und dessen Stellung im deutschen Geistesleben. Er scheint keinerlei Schwierigkeiten zu haben, mit Karl und Gertrud Jaspers über die deutsche "Schuldfrage" zu diskutieren, besonders über die Schuld derer, die Krieg und Vernichtung überlebt haben.
Jaspers Einlassungen über seinen einstigen Freund und Philosophenkollegen Martin Heidegger und dessen Rolle während der NS-Zeit stoßen bei Lasky auf sehr reges Interesse, so als ob er in der deutschen Gegenwartsphilosophie schon lange zu Hause wäre. Magisch ziehen ihn Bücher an, etwa in der zerbombten, aber im Keller notdürftig untergebrachten Stadtbibliothek von Darmstadt oder in den unbeschädigten Buchhandlungen Heidelbergs, die ihm wie ein Überbleibsel deutscher kultureller Kontinuität erscheinen.
Das Tagebuch zeigt, wie Lasky - stets "hinter der Front" - durch Deutschland zieht, sich dann im Jahr 1946 mehrmals in Berlin, München, Augsburg, Frankfurt und Heidelberg aufhält. Dabei sind wohl am eindrucksvollsten die Niederschriften von Gesprächen mit Personen, denen er meist zufällig begegnet, KZ-Überlebende, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und displaced persons, immer wieder junge Frauen und Mädchen, Nazis, Mitläufer, stille Opponenten des NS-Regimes, sowjetische Soldaten, alte Frauen, die alles verloren haben. Es sind diese Stimmen, die ein äußerst differenziertes Bild der Realitäten im geschlagenen Deutschland ergeben. Wie die meisten amerikanischen Soldaten hält auch Lasky nichts vom "Fraternisierungsverbot", unterläuft es mit Fleiß und hat dabei das Glück, sich in Berlin in Brigitte zu verlieben, die er 1947 im Westsektor heiraten wird.
Laskys Beziehung zu den Deutschen ist eine besondere. Sosehr er die Nationalsozialisten auch verachtet, er hegt eine unverhohlene Sympathie für die Menschen, denen er begegnet, und bemüht sich stets, offen, ohne Vorurteile und ideologische Fixierung mit ihnen umzugehen. Eine bewegende Passage seines Tagebuchs schildert die Zusammenkunft von Juden, die den Holocaust in Polen und der Sowjetunion überlebt haben. In einem kläglich hergerichteten Raum, der als Synagoge dient, haben sie sich in Frankfurt versammelt. Lasky meint voller Trauer, dass diese Menschen keine Zukunft haben und dass es eine Judenheit in Deutschland nicht mehr geben wird.
Er hatte unrecht, so wie er mit der Einschätzung der Chancen der drei Westzonen unrecht hatte. Damals konnte er eben nicht wissen, dass er die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens im wiedervereinigten Berlin leben würde - als amerikanischer Freund der Deutschen.
Melvin Lasky: "Und alles war still". Deutsches Tagebuch 1945.
Aus dem Englischen von Christa Krüger und Henning Thies.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 491 S., geb., 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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