Die Sozialdemokratie meldet sich zurück Sie war die Hoffnungsträgerin der Sozialdemokratie und bescherte Roland Koch und seiner Hessen-CDU 2008 mit ihrem progressiven Programm eine schwere Wahlniederlage. Doch die Regierungsübernahme in Hessen scheiterte. Jetzt meldet sich Andrea Ypsilanti mit einem Plädoyer für eine zukunftsweisende linke Politik. Sie analysiert die Krise der europäischen Sozialdemokratie und demokratischen Linken, fordert die Demokratisierung der inneren Strukturen und entwickelt Ideen, wie die gesellschaftliche Linke zusammenfinden kann, um der neoliberalen Politik einen ernsthaften sozial-ökologischen Umbau entgegenzusetzen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.2018Zwischen Selbstgenügsamkeit und Sozialismus
Andrea Ypsilanti hat ein Buch geschrieben. Darin erinnert sie sich an den gescheiterten Aufbruchversuch der SPD als "linke Volkspartei".
Von Ralf Euler
WIESBADEN. "Und morgen regieren wir uns selbst." Der Titel des Buches von Andrea Ypsilanti war für die Sozialdemokratin und ehemalige Landesvorsitzende einmal Programm - vor zehn Jahren, als sie in Hessen fast ein Linksbündnis, eine von der Linkspartei tolerierte rot-grüne Minderheitsregierung, zustande gebracht hätte. Gescheitert ist das heftig umstrittene Vorhaben wohl nicht zuletzt am allzu forschen Vorgehen Ypsilantis, die die mit einer rot-grün-roten Regierungskonstellation verbundenen Schwierigkeiten unterschätzt hatte. Weil die zum linken Parteiflügel gehörende damalige Landeschefin entgegen ihrer eigenen Ankündigung aus dem Wahlkampf doch auf eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei setzte, versagten ihr vier Mitglieder der eigenen Landtagsfraktion die Unterstützung.
Das Verhalten der vier Abweichler, schreibt Ypsilanti in ihrer im Frankfurter Westend-Verlag erschienenen "Streitschrift", sei Ausfluss jener Zerrissenheit zwischen Selbstgenügsamkeit und dem Ziel eines demokratischen Sozialismus, zwischen Realpolitik und Idealismus gewesen, an der ihre Partei heute noch leide. Vor der Landtagswahl im Januar 2008 habe die hessische SPD sich erfolgreich als "linke Volkspartei" geriert und mutig auch solche Themen besetzt, die bis dahin anderen zugeordnet gewesen seien. Als Beispiel führt die Autorin die Energiewende an, bei der die Sozialdemokraten den Grünen Paroli geboten hätten. Vor allem aber habe sich die Hessen-SPD damals bewusst und deutlich von der großen Koalition in Berlin abgesetzt.
Das Unbehagen mancher sozialdemokratischer Spitzenfunktionäre im Bund angesichts dieses linken Kurses sei spürbar gewesen, schreibt Ypsilanti. "Womöglich aber auch die Befürchtung, dass er erfolgreich sein könnte." Auch in der hessischen SPD sei diese klare Positionierung der Spitzenkandidatin zunächst mit Vorbehalten beobachtet worden. "Die radikale Wende in der Ökologie und zum Beispiel das offene Bekenntnis zum Bau von Windkrafträdern trieben manchen Genossen, besonders in den Kommunen, den Schweiß auf die Stirn."
Mit ihrer Strategie der "Sozialen Moderne" sei die Hessen-SPD ihrer Zeit möglicherweise voraus gewesen, konstatiert die Autorin. Die später von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) aus "Einsicht in die Notwendigkeit" eingeleitete Energiewende jedenfalls habe es damals in Hessen noch zu verhindern gegolten. "Den Energiekonzernen Eon und RWE war klar, was sie zu verlieren hatten." Inzwischen habe sich längst erwiesen, dass ein Umstieg auf alternative Energien möglich sei, ohne dass die Lichter ausgingen.
Ypsilanti, seit 2009 nur noch Hinterbänklerin im Landtag, rechtfertigt ihre Entscheidung, es nach einem "extrem komplizierten" Wahlergebnis, das weder CDU und FDP noch SPD und Grünen eine Mehrheit bot, mit einer rot-grünen Minderheitsregierung zu versuchen. Diesen Entschluss habe sie nicht leichtfertig, sondern nach reiflicher Überlegung getroffen. Es sei der Versuch gewesen, eine historisch bis dahin einmalige Situation zu nutzen, "um mit dem neoliberalen Pfad der deutschen Sozialdemokratie zu brechen". Gescheitert sei das Experiment an der damaligen Unvereinbarkeit der beiden "letztlich sozialdemokratischen Parteien", SPD und Linke, die sich im Nein der vier SPD-Abgeordneten zu einer Tolerierungsregierung ausgedrückt habe.
Das traumatische Erlebnis eines Scheiterns von einem Tag auf den anderen und der Absturz bei der Landtagsneuwahl Anfang 2009 wirkten in der hessischen SPD bis heute nach, glaubt Ypsilanti. Viele SPD-Anhänger seien verärgert gewesen, weil sie, Ypsilanti, vor der Wahl eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei ausgeschlossen und sie danach angestrebt habe. Andere hätten nicht nachvollziehen können, weshalb Abgeordnete erst 24 Stunden vor der geplanten Wahl einer Regierung ihr Gewissen entdeckt und sich deshalb nicht mehr an die in vielen intensiven Diskussionen herbeigeführten Parteibeschlüsse gehalten hätten.
Geholfen habe der Verzicht auf eine Regierung mit einer konkreten Vorstellung für ein modernes, gerechtes und soziales Hessen der SPD nicht, konstatiert Ypsilanti. Im Bund habe sich ihre Partei in der großen Koalition "verbarrikadiert" und sei dafür dreimal hintereinander bei Wahlen abgestraft worden. "Seit 2008/2009 hat sich die SPD selbst beschränkt." Die Partei sei zu einer "Funktionspartei der Facharbeiterschaft" verkommen, deshalb dürfe sie sich nicht wundern, wenn ihre Wahlergebnisse signifikant und kontinuierlich zurückgingen. Aber auch für Traditionsparteien gebe es keine Überlebensgarantie, warnt Ypsilanti, die im Herbst aus dem Landtag ausscheiden wird. Die deutsche Sozialdemokratie sei vor einer "Pulverisierung", wie sie sozialistische und sozialdemokratische Parteien in anderen europäischen Ländern schon erlebt hätten, nicht gefeit. Von einer Volkspartei könne nach dem 20,5-Prozent-Ergebnis bei der jüngsten Bundestagswahl schon jetzt keine Rede mehr sein.
Während sich die SPD in Berlin zu einem weiteren Bündnis mit CDU und CSU anschickt, plädiert Ypsilanti für eine Erneuerung der Partei in der Opposition und, vor dem Hintergrund des anstehenden SPD-Mitgliederentscheids über eine große Koalition, für noch mehr Basisdemokratie. Künftige Parteivorstände müssten verpflichtet werden, sich an die beschlossenen Programme zu halten, vor geplanten Abweichungen sei ein Votum der Mitglieder einzuholen. Die SPD, fordert die hessische Genossin, müsse den "neoliberalen Kapitalismus" analysieren und sich dabei bewusst machen, dass sie ihn mit ermöglicht habe. Vorbild für die notwendige inhaltliche und personelle Erneuerung könne die Labour Party in Großbritannien sein. Deren Vorsitzender Jeremy Corbyn lese auf Jugendfestivals Gedichte und begeistere damit Zehntausende junger Menschen, schreibt Ypsilanti. "Die SPD fasziniert zurzeit niemanden."
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Andrea Ypsilanti hat ein Buch geschrieben. Darin erinnert sie sich an den gescheiterten Aufbruchversuch der SPD als "linke Volkspartei".
Von Ralf Euler
WIESBADEN. "Und morgen regieren wir uns selbst." Der Titel des Buches von Andrea Ypsilanti war für die Sozialdemokratin und ehemalige Landesvorsitzende einmal Programm - vor zehn Jahren, als sie in Hessen fast ein Linksbündnis, eine von der Linkspartei tolerierte rot-grüne Minderheitsregierung, zustande gebracht hätte. Gescheitert ist das heftig umstrittene Vorhaben wohl nicht zuletzt am allzu forschen Vorgehen Ypsilantis, die die mit einer rot-grün-roten Regierungskonstellation verbundenen Schwierigkeiten unterschätzt hatte. Weil die zum linken Parteiflügel gehörende damalige Landeschefin entgegen ihrer eigenen Ankündigung aus dem Wahlkampf doch auf eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei setzte, versagten ihr vier Mitglieder der eigenen Landtagsfraktion die Unterstützung.
Das Verhalten der vier Abweichler, schreibt Ypsilanti in ihrer im Frankfurter Westend-Verlag erschienenen "Streitschrift", sei Ausfluss jener Zerrissenheit zwischen Selbstgenügsamkeit und dem Ziel eines demokratischen Sozialismus, zwischen Realpolitik und Idealismus gewesen, an der ihre Partei heute noch leide. Vor der Landtagswahl im Januar 2008 habe die hessische SPD sich erfolgreich als "linke Volkspartei" geriert und mutig auch solche Themen besetzt, die bis dahin anderen zugeordnet gewesen seien. Als Beispiel führt die Autorin die Energiewende an, bei der die Sozialdemokraten den Grünen Paroli geboten hätten. Vor allem aber habe sich die Hessen-SPD damals bewusst und deutlich von der großen Koalition in Berlin abgesetzt.
Das Unbehagen mancher sozialdemokratischer Spitzenfunktionäre im Bund angesichts dieses linken Kurses sei spürbar gewesen, schreibt Ypsilanti. "Womöglich aber auch die Befürchtung, dass er erfolgreich sein könnte." Auch in der hessischen SPD sei diese klare Positionierung der Spitzenkandidatin zunächst mit Vorbehalten beobachtet worden. "Die radikale Wende in der Ökologie und zum Beispiel das offene Bekenntnis zum Bau von Windkrafträdern trieben manchen Genossen, besonders in den Kommunen, den Schweiß auf die Stirn."
Mit ihrer Strategie der "Sozialen Moderne" sei die Hessen-SPD ihrer Zeit möglicherweise voraus gewesen, konstatiert die Autorin. Die später von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) aus "Einsicht in die Notwendigkeit" eingeleitete Energiewende jedenfalls habe es damals in Hessen noch zu verhindern gegolten. "Den Energiekonzernen Eon und RWE war klar, was sie zu verlieren hatten." Inzwischen habe sich längst erwiesen, dass ein Umstieg auf alternative Energien möglich sei, ohne dass die Lichter ausgingen.
Ypsilanti, seit 2009 nur noch Hinterbänklerin im Landtag, rechtfertigt ihre Entscheidung, es nach einem "extrem komplizierten" Wahlergebnis, das weder CDU und FDP noch SPD und Grünen eine Mehrheit bot, mit einer rot-grünen Minderheitsregierung zu versuchen. Diesen Entschluss habe sie nicht leichtfertig, sondern nach reiflicher Überlegung getroffen. Es sei der Versuch gewesen, eine historisch bis dahin einmalige Situation zu nutzen, "um mit dem neoliberalen Pfad der deutschen Sozialdemokratie zu brechen". Gescheitert sei das Experiment an der damaligen Unvereinbarkeit der beiden "letztlich sozialdemokratischen Parteien", SPD und Linke, die sich im Nein der vier SPD-Abgeordneten zu einer Tolerierungsregierung ausgedrückt habe.
Das traumatische Erlebnis eines Scheiterns von einem Tag auf den anderen und der Absturz bei der Landtagsneuwahl Anfang 2009 wirkten in der hessischen SPD bis heute nach, glaubt Ypsilanti. Viele SPD-Anhänger seien verärgert gewesen, weil sie, Ypsilanti, vor der Wahl eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei ausgeschlossen und sie danach angestrebt habe. Andere hätten nicht nachvollziehen können, weshalb Abgeordnete erst 24 Stunden vor der geplanten Wahl einer Regierung ihr Gewissen entdeckt und sich deshalb nicht mehr an die in vielen intensiven Diskussionen herbeigeführten Parteibeschlüsse gehalten hätten.
Geholfen habe der Verzicht auf eine Regierung mit einer konkreten Vorstellung für ein modernes, gerechtes und soziales Hessen der SPD nicht, konstatiert Ypsilanti. Im Bund habe sich ihre Partei in der großen Koalition "verbarrikadiert" und sei dafür dreimal hintereinander bei Wahlen abgestraft worden. "Seit 2008/2009 hat sich die SPD selbst beschränkt." Die Partei sei zu einer "Funktionspartei der Facharbeiterschaft" verkommen, deshalb dürfe sie sich nicht wundern, wenn ihre Wahlergebnisse signifikant und kontinuierlich zurückgingen. Aber auch für Traditionsparteien gebe es keine Überlebensgarantie, warnt Ypsilanti, die im Herbst aus dem Landtag ausscheiden wird. Die deutsche Sozialdemokratie sei vor einer "Pulverisierung", wie sie sozialistische und sozialdemokratische Parteien in anderen europäischen Ländern schon erlebt hätten, nicht gefeit. Von einer Volkspartei könne nach dem 20,5-Prozent-Ergebnis bei der jüngsten Bundestagswahl schon jetzt keine Rede mehr sein.
Während sich die SPD in Berlin zu einem weiteren Bündnis mit CDU und CSU anschickt, plädiert Ypsilanti für eine Erneuerung der Partei in der Opposition und, vor dem Hintergrund des anstehenden SPD-Mitgliederentscheids über eine große Koalition, für noch mehr Basisdemokratie. Künftige Parteivorstände müssten verpflichtet werden, sich an die beschlossenen Programme zu halten, vor geplanten Abweichungen sei ein Votum der Mitglieder einzuholen. Die SPD, fordert die hessische Genossin, müsse den "neoliberalen Kapitalismus" analysieren und sich dabei bewusst machen, dass sie ihn mit ermöglicht habe. Vorbild für die notwendige inhaltliche und personelle Erneuerung könne die Labour Party in Großbritannien sein. Deren Vorsitzender Jeremy Corbyn lese auf Jugendfestivals Gedichte und begeistere damit Zehntausende junger Menschen, schreibt Ypsilanti. "Die SPD fasziniert zurzeit niemanden."
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