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Von Aal bis Zander: Harry Rowohlts Briefe zeigen ihn als urteilsstark, applausabhängig und wahren Kinderfreund
Als die gesammelten Briefe Vladimir Nabokovs erschienen, bewarb sie John Updike mit dem Satz: "Dip in anywhere, and delight follows." Wir wissen zwar nicht, wie Harry Rowohlt diesen Satz übersetzt hätte, aber für seine Briefe gilt er fast noch mehr. Aus zwei Dutzend Leitz-Ordnern hat die Kulturjournalistin Anna Mikula den dritten und - nach "Der Kampf geht weiter" (2005) und "Gottes Segen und Rot Front" (2009) - leider endgültig letzten Briefband des 2015 verstorbenen Übersetzers, Rezitators und Kolumnisten zusammengestellt, und wo immer man dieses Buch aufschlägt, folgt Vergnügen.
Vielleicht war die Briefstellerei sogar das versteckte Haupttalent des Vielbegabten, des Meisters der Abschweifung, der schrägen Pointe, des abseitigen Details. Man ärgert sich im Nachhinein, dass man sich ihm nicht in der Maske des Autogrammjägers genähert hat, dann hätte man eine originale zornrauchende Harry-Rowohlt-Riposte bekommen; denn er beantwortete auf seiner alten Schreibmaschine jeden einzelnen Brief, auch den der Autogrammjäger, die ihm "die niedrigste Form des menschlichen Lebens" verkörperten - warum sammelten sie nicht lieber vierblättrige Kleeblätter?
Zum Lektüre-Vergnügen zählt durchaus die behagliche Schadenfreude, wenn Harry Rowohlt Blitze schleudert und kritische Leser zusammenstaucht. Sei es, wenn ihm einer die Charakterisierung des bellenden Feldwebels Helmut Schmidt übelnimmt, sei es, noch ärgeres Delikt, wenn jemand es wagt, den Joyce-Übersetzer Hans Wollschläger zu loben - dann wird Harry Rowohlt am fuchsigsten, dann wird er sogar ungewöhnlich derb. Wer Hans Wollschläger lobte, der bewies damit, schreibt Rowohlt, dass in all seiner Ahnungslosigkeit "getrost und vollinhaltlich" auf ihn geschissen sei. Denn Hans Wollschläger galt Harry ein Scharlatan. Wollschläger, der im "Ulysses" doch allen Ernstes ein "bottle of pop" ("kohlensäurehaltiges Erfrischungsgetränk") mit "eine Flasche Popcorn" übersetzt?
Harry Rowohlt war ein Mann starker Urteile, der jeden "anti-correctness-award" gewonnen hätte, ein Grantler und Besserwisser und schneidend scharfer Abwimmler, aber auch ein Charmeur und unerschöpflicher Born des Witzes. Dazu ein Stegreifdichter von Gernhardtschen Graden, wie die Verse verraten, die er in den Gästebüchern der Hotels und Buchhandlungen hinterläSSt. "Sei's in Jeanskluft, sei's im Janker, / Wand'rer, nächt'ge stets im Anker", schreibt er und fügt noch anerkennend hinzu: "Ordentlich Apostroph". Eine große Buchhandelskette boykottiert er und macht auch kein Geheimnis daraus: "Thalia ist für Ochs und Aff; / Menschen kaufen nur bei Graff." Eine andere Buchhandlung war schwieriger zu fassen, aber der Zweizeiler gelingt ihm doch. "O Ichthylog', von ,Aal' bis ,Zander' / Bestimmungsbuch kauf bei Osiander." Oder hatte er sich den schon auf der Zugfahrt vorüberlegt?
Harry ist dauernd unterwegs, sein unermüdliches Durchpflügen der Provinz mit Hunderten von Auftritten jährlich ist schwer anders zu erklären als durch eine gewisse Abhängigkeit vom Applaus. Wobei in der Publikums-Kiste immer mindestens ein fauler Apfel ist. "Wenn 200 Menschen in einer Lesung sitzen, wissen 199, warum sie da sind. Der eine, der mit null Checkung im Wachkoma auf dem Schlauch steht, berichtet anschließend für die Presse darüber."
Harry Rowohlt ist durstig nach Lob und bedankt sich nach jeder Lesung artig beim Buchhändler-Kollektiv für den gelungenen Abend; aber eben nicht nur artig, sondern durch genaue Nacherzählung der Kaskade der komischen Zwischenfälle auf dem Heimweg, die er magisch anzuziehen scheint. Das kann ein verlorenes Mützchen, ein "bös gemeintes, aber ins Nette umkippende Wortgefecht" oder auch nur ein alter Bekannter sein, den er zufällig auf dem Bahnhof trifft und der ihm sagt: "So sieht man sich wieder." Woraufhin Harry Rowohlt denkt: "Scheiße, warum fällt mir sowas nie ein?!"
Die Dankbriefe machen einen beträchtlichen Teil des Briefbandes aus, auch Joachim Gauck bekommt einen und kann sich des Privilegs rühmen, Harry getadelt zu haben, ohne dafür vollinhaltlich erledigt zu werden. So ein schöner Anschiss sei ihm lieber als das meiste Lob, schreibt er dem Bundespräsidenten in spe, der Harry für dessen PDS-Lob hatte rügen müssen. Als Alt-Kommunist trat Harry nicht nur oft mit Gysi auf, er spendet auch einem evangelischen Pfarrer "500 Otzen" für einen Auftritt Ernesto Cardenals.
Besonders wach und argusäugig ist Harry Rowohlt als Stilkritiker. Der arme Uwe Tellkamp, den er auch noch eine Pappnase nennt, wird ihm zum Anlass einer Betrachtung der Synonym-Sucht. Wenn es im ersten Satz "Peru" heißt, muss es im Folgesatz "Andenrepublik" heißen; auf "Japan" folgen "Nippon" und "Land der aufgehenden Sonne" oder, noch besser, "Land des Chrysanthementhrons", bevor es dann wieder mit "Japan" weitergehen darf. Warum also, wenn doch "Lübeck" noch nicht einmal genannt worden war, muss Tellkamp eine Einladung zum Grass-Treffen damit beantworten, dass er gern "an die Trave geeilt" wäre?! Das Kollektiv der Deutschlehrer sollte Harry Rowohlts Briefbände im Klassensatz ordern.
Wen er nicht mochte, der musste sich, sei's in Jeanskluft, sei's im Janker, warm anziehen. Aber wen er mochte, verehrte, liebte, der gehörte zu den "very happy few". Alfred Polgar hat er verehrt, den großen Stilisten, der im Haus des Verleger-Vaters Ernst Rowohlt verkehrt und dem jungen Harry einen Teddybär geschenkt hatte. Thomas Kapielski, Judith Schalansky, Ingo Schulze bekommen reizende Briefe von ihm. So harsch er gegen viele ist, so liebevoll -zart mit den Nicht-Pappnasen, die übrigens auffällig oft auf "bach" enden, wie der Verleger Klaus Wagen- oder der Maler und "grandiose Künstler" Nikolaus Heidelbach, die er gleichermaßen hochschätzt. Auch der Kurzaustausch mit Martin Mosebach über die Strafbarkeit der Blasphemie ist von beiderseitigem Respekt geprägt, obwohl Harry Rowohlt es sich nicht nehmen lässt, Mosebach ebenjener Blasphemie dialektisch zu zeihen. Gleich gar nicht nehmen lässt er es sich, bei dieser Gelegenheit seinen Hausgott anzuführen, den irischen Schriftsteller Flann O'Brien, der sich von Gotteslästerern mit der Begründung fernhalte: "Wenn es IHN nicht gibt, wozu IHN lästern? Und wenn es IHN gibt -, wer garantiert mir, dass er gut zielen kann?"
Ebenfalls respektvoll bedacht werden alle Kinder, denen ja auch die Hundertschaften seiner Übersetzungen gelten. Da antwortet er dann ganz rührend und für seine Verhältnisse so ungewöhnlich, wie es eine schrille Dissonanz bei Fahrstuhlmusik wäre: "Vielen Dank für deinen netten Brief".
Am bewegendsten in ihrer Harryschen Un- und Antipathetik sind seine Kondolenzbriefe. An Ingrid Reichling, die Witwe des Countrysängers, schreibt er: "Lucius wird mir bis an mein Lebensende empfindlich fehlen. Ich verneige mich vor ihm und dir."
Auch als es ihn später selbst erwischt, als er schon im Rollstuhl sitzt, in den Klauen der finalen Krankheit, verlässt ihn nicht, vergleichbar wieder Robert Gernhardt, die kühle Contenance und Selbstironie. Auch uns wird er empfindlich fehlen, und einen wie ihn werden wir nicht mehr kriegen. Einen Hymnus auf Harry! Mit einer schönen Flasche eiskaltem Jahrgangspopcorn.
MICHAEL MAAR
Harry Rowohlt: "Und tschüs". Nicht weggeschmissene Briefe III.
Hrsg. von Anna Mikula.
Kein & Aber, Zürich, Berlin 2016. 342 S., geb., 20,- [Euro].
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